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Читать книгу: «Ille mihi», страница 19

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Die Fahrt hatte ihm gut getan, aber da war doch schon wieder der Ausdruck, den Ilse früher nicht an ihm gekannt, und in den Augen die seltsame Starrheit, die sie jetzt schon ein paarmal da gesehen.

Und in all ihr unbestimmt traumhaftes Empfinden, das wie ein Tasten im Nebel war, mischte sich nun auch wieder die unerklärliche Angst vor etwas Unbekanntem, das sie dräuend nahen fühlte.

Oben in ihrem Zimmer sagte sie: »Vielleicht wollte dieser Herr deine Tätigkeit rechtfertigen.« Da lachte Wolf bitter auf: »Ja, rechtfertigen! – Aber so erinnere dich doch, Ilse, wie ich es alles aufgefaßt habe – es war doch kein Broterwerb – es war eine Vokation – und dafür: rechtfertigen?«

»Ich weiß,« antwortete sie, »aber gerade darum meine ich: wir müssen für dich kämpfen.«

Er zuckte müde mit den Achseln: »Wir fahren ja morgen – da werde ich ja alles in Berlin hören.«

Sie schliefen beide nur wenig in dieser Nacht. Und draußen, über der grauen im Nebel verschwommenen Stadt, kreiste und kreiste unablässig das rotglühende Rad, wie ein der Hölle entsprungenes Marterwerkzeug.

*

Am nächsten Morgen ließ der Redakteur sich wieder melden. Nach den ersten Begrüßungen fragte er: »Ich weiß nicht, Herr Minister, ob Sie heute bereits die Zeitungen gelesen haben?«

»Nur die hiesigen,« antwortete Wolf, »ich habe nichts besonderes darin gefunden.«

»Die meinte ich auch nicht, sondern diese hauptstädtische,« sagte der fremde Herr, zog ein Blatt aus der Tasche und reichte es Wolf. »Es steht darin eine anscheinend offiziös inspirierte Erwiderung auf unseren Artikel von gestern. Nun, das war vorauszusehen, und wir werden darauf entgegnen. Aber,« er wies dabei auf eine rot angestrichene Stelle, »hier ist ein Satz, der sich auf die Persönlichkeit des Herrn Ministers bezieht.«

Wolf beugte sich vor. Er fühlte dabei wieder das Schwanken um sich her, das rote Flimmern vor den Augen. Aber er wollte sich nichts anmerken lassen, was da auch stehen mochte. Es waren nur wenige Worte – Worte aber, die einen Menschen preisgeben, durch die er, wenn man sie glaubt, erledigt ist. Oh, nichts Schlimmes! nichts Ehrenrühriges! und alles kaum greifbar, nur angedeutet. »Ein wiederkehrendes schweres Tropenleiden, das nervösen Übereifer völlig erkläre und entschuldige« – und dann – im Interesse der »durch eine andere neue Kraft nun so glücklich wieder hergestellten normalen Beziehungen zwischen den verschiedenen in Betracht kommenden Ländern« – der Wunsch, daß »aus patriotischen Rücksichten nicht mehr an diese erledigte Angelegenheit gerührt werden möge.«

Wolf saß regungslos da, und er fühlte, wie ihm nun das Blut vom Gehirn ebbte und er fahl wurde. Er hatte die Armlehnen fest umklammert, er wollte sich nichts anmerken lassen. Wie aus der Ferne hörte er die Stimme des Redakteurs: »Wir hatten schon gestern erfahren, daß so etwas bevorstände, darum war ich zweimal hier – denn, falls Sie uns etwas mitteilen wollten, das wir in unserer Entgegnung verwerten sollen, stehen wir selbstverständlich gern zur Verfügung.«

Nun mußte Wolf sprechen. Er schluckte ein paarmal. Es wollte nicht gehen. Kein Laut drang aus seiner zugepreßten Kehle. Er gewahrte, daß es in seinem Gesicht zu zucken begann, ohne daß er es hindern konnte, und daß der Fremde ihn plötzlich so merkwürdig aufmerksam betrachtete. Aber all das sah und fühlte er wie durch dichte Nebel. Große Tropfen standen auf seiner Stirn, und endlich hörte er die eigene Stimme, aber schwach und wie durch Watte: »Ich – danke Ihnen – aber – ich bin noch im Dienst.«

Nun standen sie an der Tür. Wolf wußte selbst nicht, wie es ihm gelungen war, bis dahin zu kommen. Der Redakteur verabschiedete sich, und wie er dabei noch einmal forschend in Wolfs Augen sah, sagte er sich, »der Mann ist ja schwer krank«, und dann schoß ihm plötzlich der Gedanke durch den Sinn: »Ob die in Berlin mit ihrer Insinuation ausnahmsweise hier mal recht haben sollten?«

Ilse hatte dem ganzen Vorgang schweigend beigewohnt. Nun stand sie neben Wolf und las die rot angestrichene Zeitungsnotiz.

»Aber das braucht doch nicht inspiriert zu sein!« rief sie, »das kann es ja gar nicht sein!« Sie ereiferte sich, indem sie sprach, sie hatte so sehr den Wunsch, ihm zu helfen. »Mit dem nächsten Zuge fahren wir ja – nun erst recht – dann muß sich alles klären— so …so können die Menschen doch gar nicht sein.«

Während sie noch sprach, öffnete sich die Tür, und ein Kellner trat ein mit einer Karte. »Dieser Herr ist vorhin angekommen und wünscht den Herrn Minister zu sprechen,« sagte er.

Gleichzeitig schauten Wolf und Ilse auf die Karte und lasen beide: »Dr. von Norbert, Wirklicher Geheimer Legationsrat.«

Sie schauten sich verwundert an. Der Personalrat? Wie kam der plötzlich hierher?

»Ich lasse bitten,« sagte Wolf zum Kellner.

»Oh Wolf,« rief Ilse, »nun wird sich alles klären, ich fühl es, der bringt etwas Gutes!«

Einen Augenblick leuchtete es wie Hoffnungsschimmer in seinen Augen, dann griff er sich plötzlich an den Kopf und sagte vor sich hin, als habe er ihre Gegenwart ganz vergessen: »Etwas Gutes … ja vielleicht wär‘s noch Zeit – vielleicht könnte mich das retten.«

Ilse aber wiederholte innerlich: retten? was meinte er? Und mit kalten, tastenden Händen kroch wieder die lähmende Angst an ihr empor.

Als auf dem Korridor nahende Schritte schallten, machte Wolf ihr ein Zeichen, ihn mit dem unerwarteten Besuch allein zu lassen. Pochenden Herzens stand sie im Nebenzimmer.

»Ach, mein lieber Herr von Walden! Also glücklich zurückgekehrt! Aber in ein so abscheuliches Wetter hinein! Und das nennt sich nun Frühling! Habe wirklich lange nicht so was erlebt! Alle Welt hat ja auch Influenza!« Der Geheimrat sprach hastig, als suche er einer gewissen Verlegenheit Herr zu werden. »Nun, und die verehrte Gemahlin? wie geht es ihr denn?«

»Danke,« antwortete Wolf, »es geht ihr recht gut.«

»So, so,« sagte der Geheimrat in einem beinahe etwas enttäuschten Tone. »So, so? Na, nach den Tropenjahren wird ihr europäische Luft doch wohl auch recht nottun. Aber Sie selbst?« er sah ihn flüchtig an, »Sie schauen nicht recht gut aus, lieber Walden. Haben Sie schon einen Arzt konsultiert? Welches Bad rät man Ihnen denn? für Karlsbad oder Marienbad wär jetzt die beste Zeit.«

»An all das habe ich noch gar nicht gedacht, ich beabsichtige vor allem möglichst rasch von hier weiter zu reisen, um mich im Amt zu melden.«

»Aber das ist ja gar nicht nötig, wird ja gar nicht erwartet – nicht mal gewünscht,« entgegnete abwehrend der Geheimrat. »Nein, nein, brauchen Sie nur ruhig zuerst Ihre Kur – und,« setzte er hinzu, »bleiben Sie auch hier nicht zu lange sitzen.«

»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat,« sagte Walden, »Sie sagten soeben: nicht gewünscht. Wie soll ich das verstehen?«

»Nun ja, nicht gewünscht … nicht gewünscht. Gewiß. Es ist eben halt eine … eine peinliche Situation. Wenn Sie jetzt in Berlin ankommen, da werden Sie von vielen Leuten gesehen, und dann gehen die ganzen Erörterungen wieder von neuem los – auch in der Presse – wie schon gestern früh in dem hiesigen Blatt.«

»Sie werden mir wohl glauben, daß ich diesen Äußerungen ganz fern stehe.«

»Gewiß, gewiß – obschon – als ich vorhin zuerst nach Ihnen fragte, wurde mir gesagt – der Redakteur der Zeitung sei gerade bei Ihnen?«

»Das war er auch – er brachte mir diesen Artikel,« Wolf wies dabei auf die rot angestrichene Notiz des Berliner Blattes.

Der Geheimrat schaute flüchtig hinein: »Kenn ich, kenn ich,« sagte er und murmelte dann: »Immer die gleiche Ungeschicklichkeit.«

Wolf aber fuhr fort: »Gleichzeitig fragte mich der Redakteur, was ich etwa auf diesen Artikel entgegnen wolle?«

»Unerhört!«

»Nun, ich antwortete ihm ja auch, daß ich vorläufig noch im Dienste bin.«

»Sehr richtig! sind Sie ja auch.«

»Ich werde es wohl nicht mehr lange sein.«

»Wieso denn?«

»Ich beabsichtige doch natürlich meinen Abschied einzureichen.«

»Aber warum denn das?«

»Herr Geheimrat, das können sie doch nicht im Ernste fragen? Es bleibt mir hiernach,« er wies dabei auf den Zeitungsartikel, »ja gar nichts anderes übrig.«

»Aber das sehe ich doch gar nicht ein. Das wird keineswegs erwartet und vor allem vom Chef auch gar nicht gewünscht. Nein, nein, lieber Walden, schlagen Sie sich all solche Gedanken aus dem Sinn. Gehen Sie jetzt an einen stillen, gesunden Ort und beginnen Sie ruhig Ihre Kur, sie haben ja sechs Monate Urlaub vor sich – na, und der kann ja auch noch verlängert werden.«

»Und dann?«

»Nun … dann wird sich wohl irgendetwas finden.«

»Ich hoffe, Herr Geheimrat, Sie werden es in diesem Fall nicht unbescheiden finden, wenn ich doch ungefähr wissen möchte, was das sein würde.«

»Mein Gott, Sie wissen ja auch, daß es immer mißlich ist, auf lange hinaus Zusagen zu machen, aber … ich glaube zu wissen, daß ungefähr um die Zeit ein Wechsel auf dem Gesandtschaftsposten in Bogotà, eintreten wird, – es würde wohl keine allzu großen Schwierigkeiten machen, Ihnen den dann zu verschaffen – natürlich immer vorausgesetzt, daß man an höchster Stelle nicht einen anderen Kandidaten hat.«

Wolf lachte laut auf. »Also Bogotà!«

»Ja warum nicht? Es soll ja großartige Gebirgsszenerie haben und herrliche Höhenluft – gerade was für etwas angegriffene Nerven empfohlen wird. Man schickt doch auch so viele Leute zur Erholung in die Schweiz!«

»Und darf ich noch eines fragen: Sie sind beauftragt, mir dies zu sagen?«

Der Geheimrat zog sofort ängstlich zurück: »Über Bogotà? Nein.«

»Ich meinte nicht Bogotà,« sagte Wolf müde, »ich meinte, was sie mir sonst angedeutet haben.«

»Das, ja. Der Chef hat mir gesagt, ich möchte suchen, hier mit Ihnen zu sprechen und …«

Wolf unterbrach ihn heftig: »Und mir verbieten, nach Berlin zu kommen?«

»Aber lieber Herr von Walden,« beschwichtigte der Geheimrat, »wer denkt denn an verbieten. Nein, nein, man meinte nur, es wäre wünschenswerter, wenn Sie sich jetzt eine Weile nicht zeigten – damit die ganze Angelegenheit vergessen wird – heutzutage wächst Gras ja schnell!«

»Aber was muß denn vergessen werden? was werfen Sie mir denn eigentlich vor?«

»Ich? Ihnen? Aber gar nichts, Verehrtester, gar nichts. Nur – man – ist eben nicht zufrieden mit dem Verlauf der Angelegenheit und möchte nicht irgendwie dran erinnert werden. Da liegt es doch in Ihrem Interesse, sich möglichst still zu verhalten.«

»Man?« wiederholte Wolf fragend.

»Nun Sie verstehen mich ja wohl. Die Sache ist eben unglücklich für Sie verlaufen, und solch eine Gelegenheit benützen natürlich Übelwollende zu allerhand Einflüsterungen und Beeinflussungen. – Sie werden ja selbst wissen, lieber Walden, daß Sie und Ihre Frau Gemahlin Feinde haben, Leute, die Ihnen manches nicht verzeihen können und … alte Geschichten immer gern wieder ans Tageslicht zerren … im Moment, wo sie glauben können, williges Gehör dafür zu finden.«

»Aber,« fragte Wolf mit bebender Stimme, »was haben diese alten Geschichten mit der Beurteilung meiner Haltung bei unserer Flottendemonstration zu tun?«

»Gar nichts natürlich. Aber«, fuhr der Geheimrat bedächtig fort, »es wird eine Sache doch nie an sich und losgelöst von allem übrigen beurteilt. Das Urteil über einen Menschen ist eigentlich nur die Stimmung, die sich in Jahren über ihn angesammelt hat. Sie tritt dann beim einzelnen Fall zutage. Nun, und die Stimmung ist eben leider für Sie beide an gewissen Stellen nicht günstig.«

Und der Geheimrat sprach weiter: »Was die unglückselige Frage an sich betrifft, so steht man bei uns nach wie vor auf dem Standpunkt, daß wir mit unserer Pression vollkommen im Recht waren. Dazu kam unglücklicherweise der Wunsch, diese Gelegenheit zu benutzen, um durch die Entsendung der Schiffe für die neue Flottenvorlage Stimmung zu machen. Man nahm natürlich an, das bloße Erscheinen unserer Flagge dort werde genügen, um unsere Forderungen durchzusetzen – denn an militärisches Eingreifen oder gar an diese unsinnige Inselbesetzung ist hier ernstlich ja nie gedacht worden. Aber, wie Sie ja wissen, sahen wir uns da plötzlich vor eine unerwartete Koalition gestellt – und da …« der Geheimrat zuckte mit den Achseln.

»Ja« sagte Wolf, »den unglücklichen Verlauf verstehe ich, aber bei alledem sehe ich nicht, welcher Vorwurf mir denn gemacht werden kann. Ich habe doch nur meine Instruktionen ausgeführt – ich habe sogar einmal dringend gewarnt.«

»Nun ja, ja,« sagte der Geheimrat langsam, »man hat sich aber jetzt die Ansicht gebildet, daß … bei … persönlich größerem Einfluß des Gesandten auf die dortige Regierung … es überhaupt nicht zu einer solchen Zuspitzung der Lage hätte kommen dürfen.«

Wolf wollte aufspringen, aber der Geheimrat legte die Hand beschwichtigend auf seinen Arm und fuhr sinnend fort: »Dem Interesse des Dienstes Opfer zu bringen muß jeder von uns bereit sein – das ist die Philosophie unseres und wohl jedes staatlichen Berufes. Das ganze System sogenannter menschlicher Gerechtigkeit baut sich ja darauf auf, daß mitunter der Eine die Schuld des Anderen zu tragen hat. – Na, und nun, lieber Walden, reisen Sie möglichst bald in ein Bad und warten Sie ab.« Der Geheimrat schaute auf, und als er in Wolfs Gesicht blickte, setzte er rasch hinzu: »Aber vor allem nehmen Sie die Sache ruhig. Du lieber Himmel! von wie viel Leuten hat es doch schon geheißen: dort an dem Ast sollen sie aufgeknüpft werden! Na, und heute sind sie Minister oder Botschafter – nur weil sie zu schweigen und zu warten wußten.«

»Ich werde das nicht abwarten,« antwortete Wolf kurz. »Ich danke Ihnen zwar, daß Sie mir dies alles gesagt – aber mein Entschluß, um den Abschied zu bitten, ist dadurch keineswegs wankend geworden.«

Der Geheimrat stand auf und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das wäre sehr bedauerlich, wirklich sehr bedauerlich,« sagte er. »Na, Sie überlegen es sich wohl noch. Und wissen Sie, besprechen Sie es mal in aller Ruhe mit Ihrer Frau Gemahlin – so eine kluge Dame, für die wir alle im Amt sehr viel Sympathie haben, auch der Chef, ganz besonders der Chef – es wäre doch auch gerade für sie sehr schade, wenn …«

»Wenn Sie nicht nach Bogotà käme,« fiel ihm Wolf bitter ins Wort.

»Lieber Walden,« sagte der Geheimrat bedächtig, »sie reden so geringschätzig über Bogotà», – ich kann Sie versichern, daß wir ein Dutzend Leute haben, die mit Kußhand hingingen, und die mir sehr böse sein würden, wenn sie hören könnten, wie ich mich hier um Sie bemühe, statt Ihnen anzudeuten, daß Sie auf dem toten Punkt angelangt sind, und so die erste Pflicht eines Personalrats zu erfüllen: für die Wartenden eine Vakanz zu schaffen.«

»An Ihrem persönlichen Wohlwollen zweifle ich ja nicht,« sagte Wolf, »aber …«

»Nun also,« unterbrach ihn der Geheimrat, »so hören Sie denn auf mich: Sollten Sie wirklich mit der Zeit nach Bogotà, ernannt werden – was, wie gesagt, nur eine ganz unverbindliche Äußerung meinerseits ist – so glaube ich nicht, daß Sie lange dort gelassen werden – zwei, drei Jahre gehen rasch herum – und so lange Sie überhaupt in der Karriere drin sind, nehmen Sie auch an allen ihren Chancemöglichkeiten teil – wenn Sie aber erst mal raus sind, – da ist es eben wie in der Lotterie: wer nicht weiter zahlt, gibt damit auch alle seine früheren Einsätze verloren. – Na, besprechen Sie es mit der Frau Gemahlin.«

Die ins Nebenzimmer führende Tür hatte sich ein paarmal leise bewegt, als ruhe eine bebende Hand auf der Klinke. Jetzt wurde sie plötzlich weit geöffnet, und Ilse stand im Zimmer.

»Herr Geheimrat,« sagte sie, »Sie sprachen vorhin von Opfern, die jeder bereit sein muß, dem Dienste zu bringen – und Sie mögen damit recht haben. Aber sehen Sie, es gibt auch Opfer, die einen Menschen derart brechen, daß er nachher zum Dienst nicht mehr taugt. Eines gewissen Stolzes bedarf doch, wer das eigene Land in der Fremde vertreten soll. Ich glaube, mein Mann hat recht mit seinem Entschlusse.«

Als der Geheimrat gegangen war, saßen Wolf und Ilse sich eine Weile stumm gegenüber. Etwas Totes lag zwischen ihnen. Das waren die zwecklos gelebten Jahre. Sie hatten ja nur hierzu geführt.

Über Ilse kam dann plötzlich die Ermüdung und Ernüchterung, die dem zu folgen pflegen, wozu man sich in der Aufwallung emporgeschwungen und die eine natürliche und gesunde Erholung bilden. Sie sagte sich: Nun ist also das Schlimmste geschehen, dessen unsichtbares Nahen ich all die Tage fühlte – und es ist wirklich sehr schlimm und wirklich sehr schmerzhaft und wird uns mit der Zeit noch schmerzhafter und schlimmer erscheinen – aber irgendwie wird es sich trotzdem innerlich überwinden lassen, so daß wir weiter leben können – aber jetzt – jetzt möcht ich vor allem mal gründlich schlafen.

Ihre Empfindungen waren die einer gesunden Natur nach einer glücklich verlaufenen Operation. Das amputierte Glied wird noch sehr fehlen, immer fehlen, und doch weiß man schon, daß man nicht dran sterben wird – und – vor allem ist da der Wunsch, tief, tief schlafen zu dürfen. – Sie hätte sich gleich hinlegen mögen und fühlte, daß sie nach einer Minute von all dem nichts mehr gewußt hätte.

Bei Wolf aber war das anders. Die Unruhe der letzten Zeit hatte sich in ihm verzehnfacht; er zitterte und zuckte, und in seinen Augen war seit dem Gespräch mit Herrn von Norbert ein unheimliches Flackern. Ilse versuchte ihn zum Ruhen zu überreden, da ihre Abreise nun doch überflüssig schien. Aber gleich, sofort, wollte er das Abschiedsgesuch schreiben. »Hätte es nicht Zeit bis morgen?« fragte sie, »du mußt ja so müde sein.« – Aber er fuhr heftig gegen sie auf, wie sie es nie von ihm erlebt.

Dann setzte er sich hin und begann zu schreiben, zehn, zwanzig Entwürfe, die er ebenso rasch zerriß, wie er sie aufgesetzt. Dazwischen lachte er laut auf. Alle Müdigkeit war nun auch von Ilse gewichen; sie folgte jeder seiner Bewegungen mit wachsendem Entsetzen. »Welchen Grund soll ich denn angeben?« fragte er. »Doch wohl deine Gesundheit,« sagte sie schüchtern, und wie sie ihn anblickte, fühlte sie zum erstenmal, einer Ahnung gleich, welch furchtbare Wahrheit dieser Grund besaß. »Das wäre ja Lüge,« rief er. »Nein, nein, die volle Wahrheit, endlich!«

Und wieder begann er zu schreiben, fieberhaft schnell, steckte den Brief in einen Umschlag, klingelte und befahl dem eintretenden Kellner, das Schreiben sogleich in den Kasten zu stecken. Und Ilse saß dabei wie gelähmt, ließ alles geschehen, weil ihr jetzt alles gleichgültig schien, vor der wachsenden Erkenntnis, die in ihr aufstieg: Er war ja krank, krank!

Den ganzen Nachmittag beobachtete sie ihn angstvoll. Der Unruhe war ein erschrecktes Zusammenfahren, eine Scheu vor fremden Gesichtern gefolgt. Er wollte oben auf dem Zimmer essen, nicht spazieren fahren, niemanden sehen. »Aber Wolf,« sagte sie, »wir brauchen uns doch nicht zu verstecken? wir haben doch keine Schande – nur Unglück.«

»Das glaubt niemand,« sagte er, »ich sehe es in jedem Gesicht, was die Leute von mir denken.«

So schlich der Tag dahin. Der Wind hatte sich wieder erhoben, schüttelte und rüttelte an den Schornsteinen und Läden und wuchs abends immer stärker an. Er heulte und stöhnte, als wolle er hier in der Stadt erzählen, was er draußen auf der See zerstört, vernichtet, gemordet hatte. Es war dunkel geworden. Die Häuser am jenseitigen Ufer des Bassins bildeten nur noch eine einförmig graue Masse. Und hoch darüber kreiste und kreiste das rotglühende Rad.

Endlich war es Ilse gelungen, Wolf zu bewegen, schlafen zu gehen. Sie selbst lag lange noch wach. Zuerst suchte sie sich Mut zu machen: Wolf war nur im Augenblick durch die Bitterkeit, die Empörung über all das Unrecht überwältigt worden, morgen würde er sicher wieder ganz wohl sein! – Und dann begann sie dem allen nachzusinnen – sie vergegenwärtigte es sich doch jetzt erst ganz, was dieser Abbruch eigentlich bedeutete. – Eine große Trauer stieg in ihr auf, um alles, was sie beide erstrebt und nun nie erreichen würden. – Ein Gefühl der Verlorenheit und Zwecklosigkeit bemächtigte sich ihrer. Das Leben war so ganz auf das eine Ziel eingestellt gewesen: Was würde nun geschehen, wo das fehlte? Würden sie von Ort zu Ort ziehen, und immer so herumsitzen, ohne recht zu wissen, wozu? Dafür waren sie beide doch noch viel zu jung! Es war ja Wolfs erster Gesandtenposten gewesen – von da ab hätte es eigentlich erst recht aufwärts gehen sollen. – Warum, warum mußte alles, was nun hätte werden können, so grausam zerstört werden? so grausam, so willkürlich! Und hätte man ihr gesagt, daß schon zahllose Menschen Ähnliches erduldet haben, so wäre es ihr unglaublich erschienen, denn sie wähnte noch, wenn es nur bekannt wäre, was Wolf angetan worden, so müßte eine entrüstete Welt ihm zu Hilfe eilen. Aber wie auch die anderen handeln mochten, für sie selbst bestand die unabweisliche Forderung, als Erste und vor allen anderen für Wolf zu kämpfen. Ja, sie mußte für ihn eintreten, sie war doch sein bester Freund, sie würde es alles erzählen, schreiben, hinausschreien in die Welt! Und da mußte es ihr auch gelingen, ihm weiter zu helfen, ihm Verteidiger und Freunde zu werben, ihm selbst neuen Mut zu schaffen. Denn so durfte es nicht für ihn enden! – Und sie sann weiter nach, was er nun wohl beginnen könne. Es gab ja nicht bloß die eine Möglichkeit, die eine Laufbahn? – Da erstand plötzlich vor ihr das Bild jener fernen Reichstagssitzung, bei der sie Wolf damals gesehen. Wie wenig wußten die Leute doch eigentlich von Auswärtigen Dingen, die dort unter der goldenen Kuppel sich als Kritiker der Regierung gebärdeten. Wieviel mehr hätte Wolf, an ihrer Stelle stehend, vorbringen können! – Wolf sollte nicht ein schweigender Zähneknirscher werden wie so viele! – Sie glaubte ihn schon dort in dem großen Reichstagssaal zu sehen – nicht mehr wie einst droben bei den Regierungsvertretern, nein, drunten bei denen, die Rechenschaft fordern. Und es würde ein langes Konto sein! – Ja, dort lag die Zukunft, dort Wolfs Bestimmung!

Nach dem ersten Gefühl völliger Vernichtung atmete Ilse jetzt schon erleichterter auf. Es mußte für Wolf alles doch noch gut werden! Und alle ans bisherige Leben verwandten Kräfte brauchten dann nicht vergeudete zu sein – nein, die Erfahrungen, die er dort gesammelt, würden jetzt erst rechte Verwendung finden. Er würde seinem Lande doch noch dienen können – anders als er einst gedacht – besser vielleicht.

Immer wieder sah sie den großen Reichstagssaal vor sich und erinnerte sich, wie ihr damals erklärt worden war, wo die einzelnen Fraktionen sitzen. Wolfs Platz würde wohl weit nach links sein! Sie entsann sich, wie sie einst in Weltsöden im Kreis Sandhagen gegen den Genossen Priebatsch erfolgreich agitiert hatte. Der hatte damals vorgegeben, sich für die Getretenen des Schicksals und Entrechteten einzusetzen – aber die, so wollte es Ilse heute scheinen, waren doch manchmal in ganz anderen Kreisen als in denen der Genossen zu finden! Und dann sagte sie sich, müde lächelnd, daß, wie bisher auf alle Posten, sie Wolf jetzt zu jeder Partei folgen würde; denn für sie gab es ja nur eine Partei, zu der sie gehörte: und das war er.

Ach, es war schön, daß sie das gefunden! dachte sie, müder und müder werdend; gleich morgen früh wollte sie es Wolf alles erzählen! Dann würde das neue Leben beginnen!

Während sie so allmählich hinüberglitt in das Reich, das nur mit geschlossenen Augen zu sehen ist, wo zwischen Unvereinbarem sich kühne Brücken spannen, Verlorenes wieder greifbar wird, und alle Wunder möglich scheinen, schreckte sie durch ein schwaches Geräusch noch einmal auf. Da sah sie, wie Wolf leise und behutsam aufstand, ans Fenster schlich, den Vorhang beiseite schob und hinausstarrte. Regungslos, kaum atmend, wartete sie. Aber endlich konnte sie es nicht länger ertragen; auch sie stand auf und trat zu ihm.

»Wonach schaust du da?« fragte sie ihn leise.

Er deutete hinaus, wo jetzt, über der schlafenden Stadt, die Lichter der Anzeigen längst erloschen waren. »Siehst du denn nicht?« sagte er mit einer ganz fremden Stimme. »Das Höllenrad ist nicht mehr draußen! Ich hab es endlich eingefangen – aber jetzt – jetzt dreht es sich hier – hier drin in meinem Kopfe!«

Einen Augenblick noch starrte er sie an, als sei bei dem Klang der eigenen Worte ein letztes verstehendes Entsetzen in ihm erwacht. Um Erbarmen flehten die weit aufgerissenen Augen. Dann griffen seine beiden Hände tappend in die Luft. Mit einem gellenden nicht enden wollenden Lachen brach er vor ihr nieder.

In ein Sanatorium hatte sie ihn bringen müssen. Nicht in der alten Handelsstadt, wo sie gelandet waren, sondern in einem benachbarten Kriegshafen, wo sich zugleich eine Universität befand. Dort sollte ein berühmter Arzt sein. Zu dem war ihr dringend geraten worden.

Automatenhaft hatte sie es alles getan. Wie jemand eine Rolle hersagt, die nie für ihn bestimmt war, und die er nur durch einen Zufall, eine augenblickliche Notlage hat übernehmen müssen. Während der ganzen Fahrt nach dem Krankenhause hatte sie die Empfindung: Da ist irgendeine schreckliche Verwechslung vorgekommen – das ist nicht Wolf, das bin nicht ich – es muß sich gleich alles aufklären. – Und wenn er minutenweise so wie früher sprach und aussah, wallte es mit triumphierendem Frohlocken in ihr auf: Da seht ihr ja, es war alles Irrtum.

Aber diese Minuten wurden immer seltener. Verschwanden bald gänzlich.

In der Anstalt, da begriff sie, daß diese unmöglich scheinende Nachtmahr Wirklichkeit hieß.

Sein Los, ihr Los!

Warum?

Aber – nicht denken. Dachte man erst, so blieb keine Kraft, es zu ertragen.

Und sie brauchte ihre Kräfte.

Nach dem ersten lähmenden Entsetzen, das sie anfänglich gar nicht begreifen ließ, was da vor ihren Augen geschehen war, kam langsam das Verstehen. Und mit ihm der herzbrechende Jammer, die bittere Empörung, daß so etwas sein durfte, der brennende Wunsch, ihm zu helfen, das Bewußtsein der Ohnmacht, es nicht zu können.

Schlimmer wurde es und schlimmer. – Stunden beängstigendster Erregung des Kranken wichen Stunden erdrückendsten Verzweifelns. Immer und immer wieder schienen seine gepeitschten Gedanken die Erlebnisse der letzten Wochen zu durcheilen, und eine fieberhafte Unruhe war in ihm, eine Erwartung, daß noch irgendein Ergebnis, eine glänzende Rechtfertigung kommen müsse, daß es nicht so enden könne.

Und es war doch alles längst zu Ende, vergessen schon.

Unendlich verschärft und verfeinert hatten sich seine Sinne. Das fernste Geräusch nahm er wahr, fuhr auf im Bette und blickte nach der Tür, mit einem Ausdruck, der Ilse durchs Herz schnitt. So müssen Verurteilte ausspähen, die noch in letzter Stunde auf Begnadigung hoffen.

»Steht denn gar nichts in den Zeitungen?« fragte er sie flüsternd.

Da nahm sie eine Zeitung, ging damit ans Fenster, als wolle sie das Licht der sinkenden Abendsonne noch erhaschen, überflog suchend die Blätter und sagte dann: »Ja, hier ist wirklich etwas.« – Und mit fester Stimme las sie ihm vor, daß die Kunde vom Rücktritt des Gesandten von Walden in den weitesten Kreisen allgemeines Bedauern hervorrufe, da sich die Ansicht mehr und mehr ausbreite, daß sein Verhalten auf seinem letzten Posten während der dortigen bekannten Ereignisse ein durchaus richtiges gewesen sei, und man auch noch ferner viel gute Dienste fürs Vaterland von ihm erwartet habe.

Er sank in die Kissen zurück und schloß die Augen. Die neugeprägten schmerzlichen Linien um seine Lippen schienen einen Augenblick verwischt. Ilse aber glitt leise aus dem großen Krankenzimmer in die kleine anstoßende Stube, die sie bewohnte. Da durfte sie weinen.

Später sagte ihr die Krankenschwester: »Unser armer Herr wollte so gern noch einmal hören, was sie ihm vorhin aus der Zeitung vorgelesen haben – aber ich konnte die Stelle nicht wiederfinden.«

»Es steht ja gar nicht drin,« antwortete Ilse.

Die Pflegerin sah sie verwundert an. Da sagte Ilse: »Ach Schwester, Sie geben ihm das Morphium und ich die Lüge – und wir beide üben Barmherzigkeit.«

Aber sie konnten ihm doch nicht helfen. Auch die Ärzte konnten es nicht. Die fiebernde Erregbarkeit, die folternde Schlaflosigkeit, all die schlimmen Symptome nahmen zu. – Es war ein plötzlicher, völliger Verfall, nicht nur der geistigen Herrschaft über die irrenden Gedanken, sondern auch aller physischen Kräfte, ein geheimnisvolles Versagen des Lebenswillens selbst.

Die Ärzte der Anstalt kamen täglich mehrmals und beschauten Wolf, wie man ein armes, havariertes Schiff betrachtet, das nach vielen Fahrten untauglich geworden ist. Sie schüttelten die Köpfe und sprachen von Nervenschock und tiefer seelischer Depression, die in einem durch lange Tropenjahre unterwühlten Organismus besonders verheerend gewirkt hätten. – Ach, wie es alles gekommen, wußte Ilse ja ganz genau – das brauchte ihr niemand zu erklären. Nur sagen sollten sie ihr, wie er zu heilen wäre, was geschehen müsse, damit er wieder werde, der er einst gewesen. – Aber gerade das konnten sie ihr nicht sagen. Das ganze Leben hätte eben anders gelebt werden müssen, dann wäre auch das Ergebnis ein anderes gewesen. Darauf lief die ganze Weisheit hinaus. Es war, als ob man einem, der eine Tragödie verfaßt hat, sagte: Warum hast du nicht lieber eine Komödie geschrieben, dann wäre das Stück heiter ausgegangen.

Aber haben wir denn je dem noch kommenden Unbekannten frei gegenüber gestanden? Läßt sich überhaupt das Leben leben, wie wir wollen, so daß es möglich gewesen wäre, anderes zu ergreifen, als was wir, scheinbar selbst bestimmend, wählten? Ilse fragte es sich jetzt bisweilen.

Und dabei erhob sich vor ihr, aus den Nebeln der Vergangenheit tauchend, das Bild jener Florentiner Villa, in der sie beide vor Jahren einen kurzen, seligen Tag verbracht und von einem langen, verschwiegenen Glück geträumt hatten. – Sie sah die zwei ansteigenden Reihen alter Zypressen, die zu dem Hause führten, und zwischen denen sich der längst nicht mehr benutzte Weg zu sanft abgestuften Rasenterrassen gewandelt hatte. Im kurzen Grase blühten Anemonen und Hyazinthen. Und den ganzen verwilderten Garten oben am Hause sah sie wieder, die Lorbeerhecken, die keinen Schnitt mehr kannten, die alte Marmorbank mit den Löwenköpfen, auf der sie beide einst gesessen. Zu ihren Füßen senkte sich, silbrig vom Laub der Olivenbäume, der Abhang hinab. Drunten auf der Stadt lag blauer Dunst gebreitet, nur die eine große Kuppel ragte ganz klar daraus hervor, gleich einer mystischen Glücksblume, die sich ihnen darbot.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 августа 2016
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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