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1.3.2 Die aktuelle Poesía Visual
1.3.2.1 Die Szene

Das Phänomen der „sozialen Kohäsion und Gruppenbildung im kulturellen Feld“ (van den Berg/Fähnders 2009, 1) setzt sich als Erbe der Avantgarde in der zeitgenössischen Poesía Visual fort. So kennzeichnet sich diese durch Vernetzungen mit außerinstitutionellen Kulturen, die Bildung und Bedeutung von Kollektiven, eine extrem heterogene Autorenschaft, die Aufhebung von Kunst und Leben und die Abgrenzung von einer als elitär empfundenen traditionellen Rezipientengruppe. Zudem hat sich die Verbindlichkeit globaler Vernetzungen, im Sinne des internacionalismo (vgl. Kapitel 1.3.1), im Zeitalter der audio-visuell gesteuerten medialen Welt und des Internets zugespitzt. Daraus hat sich eine Art globale Kollektivität herausgebildet. Poemas visuales werden nicht mehr nur in gedruckten Anthologien verbreitet oder in begehbaren Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern auch im Internet veröffentlicht. Geht man den Fragen nach, wo und besonders wie Poesía Visual in Erscheinung tritt, kann das Internet nicht außen vor gelassen werden.

Das globale Netzwerk stellt den (wenn auch virtuellen) öffentlichen Raum dar, der nicht nur vollkommen unabhängig von geografischen Entfernungen zwischen Autorinnen und Autoren und anderen Mitwirkenden frequentiert werden kann, sondern auch sichtbar genutzt und gepflegt wird. In diesem Zusammenhang ist es durchaus angebracht, von einer Szene zu sprechen, die sich um ganz bestimmte Kernpunkte herum entwickelt.

Im Unterschied zu den ersten Jahren der Poesía Visual (1963–1984), in denen insbesondere geschlossene Kollektive (beispielsweise grupo N.O.) unter Hervorhebung einzelner Individuen zu beobachten sind (vgl. Kapitel 2.5.2.2), entwickeln sich mit Nutzung des Internet zunehmend auch Kollektive zu offenen Gruppierungen, die sich virtuell vernetzen und von Außenstehenden betretbar sind – etwa in sozialen Netzwerken wie Facebook, auf einschlägigen Webseiten, in Blogs oder auf Videoportalen wie Youtube, Vimeo etc. Am Beispiel von Facebook erscheinen neben den Einzelprofilen und Chroniken von poetas auch eingerichtete Gruppen oder spezielle Veranstaltungsprofile, die (wie beispielsweise Boek Visual, Editorial Corona del Sur, VisualizArte Poesía Visual)16 die Kunstschaffenden und Dichterinnen und Dichter miteinander vernetzen und ihnen als kommunikative und informative Plattformen dienen. Geschlossene Kollektive sind meist nicht öffentlich zugänglich, lediglich die Produkte, die daraus entstehen (Ausstellungen, Sammlungen, Zeitschriften etc.) – jedoch nicht immer. Ein gutes Beispiel sind die revistas visuales oder revistas ensambladas. Es handelt sich hierbei um künstlerisch-poetische (Online-)Zeitschriften, die eine Gruppe oder manchmal auch ein einzelner Dichter, in Eigeninitiative und Eigenfinanzierung zusammenstellt. Diese Zeitschriften sind nicht selten öffentlich unzugänglich und richten sich lediglich an die teilnehmenden Dichterinnen und Dichter. Manche sind im Internet einsehbar oder können kontaktiert werden, wie zum Beispiel Revista Laurel oder Lalatarevista ensamblada.17

Das Internet bietet eine Menge Möglichkeiten zur Vernetzung; auch auf Webseiten (wie beispielsweise www.boek861.com), in Blogs oder, bei geschlossenen Anlässen, über Mail-Verteiler können bestimmte Informationen in bestimmten Kreisen kursieren. Alle Formate, die das globale Netzwerk bietet, werden genutzt. Allein die Eingabe des Begriffs Poesía Visual in der gängigsten Onlinesuchmaschine google.es zeigt das Ausmaß der visuell-poetischen Landschaft, die kaum mehr zu überblicken ist. Dass außerdem das Interesse an Poesía Visual im Internet in den letzten Jahren gestiegen ist und auch die Aktivisten in diesem Bereich zugenommen haben, lässt sich an zwei Beobachtungen festmachen. Zum einen sind die Einträge im World Wide Web, die von der zurzeit gängigsten Suchmaschine google.es gelistet und anzeigt werden, in verschiedenen zeitlichen Abständen rasant gestiegen. Dieser Umstand wird sich mit der Zeit noch deutlich verstärken, da erstens, Suchmaschinen immer leistungsstärker werden und zweitens, zunehmend mehr Material ins Internet hochgeladen wird. Am 13.03.2013 errechnete google.es unter Eingabe des Stichworts „poesía visual“ 513 000 Ergebnisse in 0,22 Sekunden, wenige Wochen später, am 02.05.2013, waren es bereits 947 000 Ergebnisse in 0,29 Sekunden, über ein Jahr später, am 04.10.2014, waren es über 4 Millionen Ergebnisse („ungefähr 4 390 000 Ergebnisse in 0,16 Sekunden“). Weitere Anzeichen offenbart der spanische Wikipedia-Artikel zu „Poesía Visual“: Vom Zeitpunkt seiner Erstellung am 22.04.2006 mit 483 Zeichen (einschließlich Leerzeichen; 526 Bytes) ist er bis zu seiner Änderung am 12.09.2014 auf 15 689 Zeichen (einschließlich Leerzeichen; 17 516 Bytes) gewachsen.

Selbst für Theoretiker und Aktivisten ist das Feld der Poesía Visual dermaßen unbeständig und unübersichtlich, dass in immer wieder neuen Dokumentationen in verschiedenen Formaten (Monografie, Archiv, Website) der Versuch unternommen wird, alle erdenklichen Veranstaltungen (Ausstellungen, Tagungen, Vorträge etc.) und Veröffentlichungen (Monografien, Anthologien, Kataloge, Zeitschriften, Onlineportale etc.) zusammenzutragen (vgl. u. a. Morales Prado 2004; Orihuela 2007a, 2007b; Peralto 2012).

Bei der Recherche von poemas visuales im Internet stellt die Verifizierung zuverlässiger Quellen durchaus eine nicht unerhebliche Aufgabe dar. Die einschlägigen Homepages zur Poesía Visual und die Blogs der poetas visuales sind jedoch in der Regel in einem Hypertext miteinander vernetzt, sodass anhand der Verlinkungen den Verbindungen zu entsprechenden anderen Internetseiten ein Zusammenhang überprüft und nachgegangen werden kann (wie auch den Verweisen auf gedruckte Veröffentlichungen und Veranstaltungen zum Thema Poesía Visual). Die Befürchtung, dass es sich bei manchen Ergebnissen um Amateurproduktionen handeln könnte, ist allerdings unbegründet, da dies im Rahmen der Poesía Visual keineswegs als Gefahr verstanden werden darf. Im Gegenteil: Das Selbstverständnis der Poesía Visual als avantgardistische Dichtung impliziert, sich ausdrücklich von einem selektiven, gar elitären Anspruch im poetischen Schaffen zu distanzieren (siehe hierzu Kapitel 1.3.2.2).

Hervorzuheben sind die im Folgenden aufgelisteten Quellen, die die Szene der Poesía Visual aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und ihre Heterogenität und Vielfalt widerspiegeln. Es handelt sich um gedruckte Veröffentlichungen (Anthologie und Katalog), Onlinepublikationen (einschlägige Webseiten, Onlinezeitschrift und Blog), entsprechende Einrichtungen und Archive (Bibliothek und Artothek).

Als gedruckte Publikationen wurden folgende Quellen genutzt: Die beiden aufeinanderfolgenden Anthologien visuell-poetischer Texte Poesía Visual Española – Antología incompleta und Poesía Experimental Española – Antología incompleta (López Gradolí 2007, respektive 2012) sowie die Anthologie Visual Libros (2001-2011) (Peralto 2012). Die meistgenutzte Quelle waren die Ausstellungskataloge des seit 2002 jährlich stattfindenden Preisausschreibens Premio de Poesía Experimental des Departamento de Publicaciones von der Diputación de Badajoz, die sowohl online als auch in gedruckter Fassung verfügbar sind. In Zusammenarbeit mit Antonio Gómez macht es sich das Kulturbüro von Badajoz mit diesem premio und der Archivierung der eingeschickten Gedichte zur Aufgabe, eine „visión real de la intensa actividad que este importante colectivo de poetas, pintores, fotógrafos, diseñadores, etc. vienen desarrollando desde finales de los años ochenta“ (dip-badajoz.es/publicaciones/poesia/ [14.04.2013]) zu vermitteln. Berücksichtigt wurden die Kataloge von 2002 bis einschließlich 2012, ferner die Ausstellungskataloge Bverso Brossa vom Instituto Cervantes (Bordons 2008) und Fragmentos de Entusiasmo. Antología de Poesía Visual Española 1964-2006 (Orihuela 2007).

Als Onlineportal wurde BOEK861 (boek861.com [02.05.2013]) herangezogen, das die umfangreichste Sammlung von Dokumenten, Primär- und Sekundärtexten, Informationen zu Ausstellungen, Ausschreibungen, Autoren etc. bündelt und online verfügbar macht. Auch die Onlinezeitschrift des Centro de Documentación de Poesía Visual de España (CPV), Peñarroya-Pueblonuevo (centrodepoesiavisual.blogspot.de [06.09.2017]), und das Onlinearchiv der Fundació Joan Brossa (fundaciojoanbrossa.cat [06.09.2017]) wurden für das Herunterladen von poemas visuales genutzt, außerdem die persönlichen Blogs oder Onlinearchive der Autorin Claudia Quade Frau (claudiaquadefrau.com [02.05.2013, aktuell nicht mehr verfügbar]) beziehungsweise der Autoren Miguel Agudo Orozco (miguelagudo.es [09.06.2017]), Manuel Calvarro (manuelcalvarro.com [03.03.2016, aktuell nicht mehr verfügbar]), Fernando Costa Adrián (fernando-poesiavisual.blogspot.de [09.06.2017]) und Joaquín Gómez Ferreira (ventanadigital.com/saladeexposiciones [03.03.2016, aktuell nicht mehr verfügbar]).

Als institutionelle Einrichtung ist das CPV (Centro de Documentación de Poesía Visual) in Peñarroya-Pueblonuevo (Córdoba) zu nennen, in dessen Bibliothek und Archiv zahlreiche Originale zu finden sind. Dort wird auch die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift „Veneno“ (nur für Mitglieder des CPV erhältlich) veröffentlicht, deren Druck aufgrund der in Spanien herrschenden Wirtschaftskrise indes vorübergehend eingestellt werden musste. Für die vorliegende Studie wurden die Ausgaben von Oktober 2005 (Veneno n° 151) bis April 2011 (Veneno n° 173) herangezogen.

Das Internet und das digitale Werkzeug haben die Poesía Visual ab den 1990er Jahren stark beeinflusst und verändert. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Vernetzung der Kollektive. Das Gestalten und Veröffentlichen von poemas visuales ist seit dem Aufkommen digitaler Foto- und Videokameras und des Internets sehr viel bequemer, unproblematischer und ökonomischer geworden. Zudem sind Veröffentlichungen im Internet meistens kostenlos. Dementsprechend heterogen und undurchsichtig fällt die Verbreitung von poemas visuales aus. Es ist nicht einfach, als nicht zum Kollektiv gehörende Person, einen Zugang zu den diversen Online-Plattformen oder auch zu Zeitschriften und Originalgedichten zu finden. Andererseits erfährt die Poesía Visual auch eine öffentliche, institutionelle Verbreitung, beispielsweise durch das Instituto Cervantes, die Biblioteca Nacional oder das Museo Reina Sofía. Zu unterscheiden ist zwischen einer öffentlichen Kultur der Poesía Visual, aufgrund derer Dokumente oder Zutritte (Ausstellungen) und Produkte (Zeitschriften, Kataloge etc.) käuflich zu erwerben oder öffentlich zugänglich sind (Bibliotheken, Webseiten, Blogs), und einer nicht-öffentlichen außerinstitutionellen Kultur.

Im Sinne des antitradicionalismo hat sich zudem im unmittelbaren Zusammenhang mit der globalen Kollektivität eine beträchtliche Heterogenität in der Autorenschaft herausgebildet. Visuelle Poeten können (um einige Beispiele zu nennen) Fotografen (Chema Madoz), Literaten (Julián Alonso), Performancekünstler (Antonio Gómez), Grafikdesignerinnen (Claudia Quade Frau), bildende Künstler (Francisco Aliseda) und vieles mehr sein. Meistens sind sie, wie avantgardistische Künstler häufig, doppel- oder mehrfachbegabt und intervenieren gleichzeitig in verschiedenen künstlerischen Projekten.

Dieser Umstand potenziert die Hybridität und Intermedialität von poemas visuales. So erscheint die künstlerische Verwendung und Einarbeitung verschiedener medialer Ausdrucksformen einleuchtend. Es ergibt sich ein heterogenes Gesamtbild von visuell-poetischen Werkzeugen, von der Schriftsprache bis zu realen Objekten, damit einhergehend eine Diversität von Präsentationsformaten – von schriftsymbolischen Gedichten über auf Papier gestalteten Collagen und skulpturähnlichen Objekten bis hin zur digitalen Fotografie –, die schließlich zu unterschiedlichen Verbreitungsmodi führen von der begehbaren Ausstellung bis zur digitalen Anthologie.

Heterogenität der Autorenschaft begrenzt sich nicht nur auf die künstlerischen Tätigkeitsfelder, sondern bezieht sich ebenso auf viele andere Faktoren wie etwa Alter, Herkunft, Motivation etc. Dabei wird angestrebt, die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben (vgl. Fernández Serrato 1995b, 55). So schreiben Fernando Millán und Jesus García Sánchez hinsichtlich ihrer präsentierten Anthologie:

[Q]ueremos únicamente hacer notar que las obras y los autores aquí reunidos remiten en gran parte a experiencias y conceptos de la vida excesivamente próximos y palpitantes para la cultura oficial; por ello los juicios de valor, o las teorizaciones tradicionales de ésta, únicamente pueden ser útiles para una más perfecta confusión. Las claves de este libro están menos en otros que en la experiencia personal y comunitaria de cada cual; menos en las teorías estéticas que en una nueva forma de percibir -y vivir- la poesía y el arte. (Millán/García Sánchez 2005 [1975], 12)

Die Autoren wollen im Namen der in ihrer Anthologie aufgeführten Dichterinnen und Dichter bewusst Nähe zum gesellschaftlichen Geschehen halten und distanzieren sich explizit von einem selektiven Anspruch im poetischen Schaffen. Sie fordern an anderer Stelle ein, dass jedes visuelle Gedicht angenommen werde und somit auch jeder Mensch als Dichter akzeptiert werden könne.

Ein Beispiel für die demokratische Idee des Dichters ist die Revista Laurel, in der der Herausgeber und Dichter Francisco Aliseda bewusst möglichst viele verschiedene Menschen dazu einlädt, poemas objeto zu kreieren. Ein anderes Beispiel ist der Premio de Poesía Experimental, der von der Diputación de Badajoz ausgeschrieben wird und an dem sowohl renommierte Dichterinnen und Dichter als auch beispielsweise Schüler und Schülerinnen teilnehmen. Alle eingesendeten Werke werden nach denselben Kriterien bewertet.

1.3.2.2 Die Innenperspektive: poética interna

In den vorangehenden Kapiteln stand insbesondere die begriffliche und phänomenologische Betrachtung der Poesía Visual im Vordergrund. Dabei wurden bestimmte Charakteristika des Werkes, das poema visual, ansatzweise angeführt. Im Folgenden soll es explizit um die Poetik und die Formspezifik des visuell-poetischen Textes gehen. Von der Innenperspektive einiger Akteure ausgehend, einer poética interna, die als Teil des poetischen Gesamtwerkes verstanden werden kann, wird in den darauffolgenden Kapiteln das poema visual genauer in den Blick genommen.

Als Poetik kann im Allgemeinen die Reflexion über Entstehung, Wesen, Formen, Wirkung und Funktion von Dichtung bezeichnet werden (vgl. Zymner 2007b, 592). Die Betrachtung der Poetik im Hinblick auf die Poesía Visual im Vergleich zur poesía de vanguardia erscheint aufgrund folgender Zusammenhänge relevant: Erstens sind „selbstständige Poetiken“ (ebd.), sogenannte poéticas internas (vgl. Fernández Serrato 1995a, 1995b, 2005), häufig zu beobachten und werden meist in manifestartigen Positionen oder in Prologen von Anthologien (beispielsweise Millán/García Sánchez 2005 [1975]; López Gradolí 2007, 2012; Peralto 2012; Reglero 2013) explizit als solche deklariert; zweitens ist diese Praxis auf die vanguardia zurückzuführen, in der in Manifesten und Proklamationen Überlegungen sowohl über Wesen, Wirkung und Funktion als auch über Verfahren und Klassifizierungen angestellt werden.

Erkenntnisse aus der poética interna geben Aufschluss über das Eigen- und Selbstverständnis der Poesía Visual sowie Anhaltspunkte über Entstehungsprozesse von poemas visuales (vgl. Fernández Serrato 1995b, 55). So fasste der Dichter César Reglero in Sobre poéticas visuales o la dificultad de las definiciones eine Innenperspektive der Poesía Visual zusammen (2013). Dabei stützt er sich ausschließlich auf Selbstpoetiken18 und -definitionen von Dichterinnen und Dichter. Allerdings handelt es sich hier weniger um eine wissenschaftliche Zuordnung und Analyse der Vorgehensweisen als vielmehr um die kreative und freie Darstellung eines Mitwirkenden.

Auch die Stellungnahmen der im Rahmen dieser Forschungsarbeit interviewten Dichterinnen und Dichter (Entrevistas a poetas visuales españoles, siehe Anhang 1) liefern Erkenntnisse über das Selbstverständnis der aktuellen Poesía Visual. Die Interviews wurden mit dem Ziel gehalten, einen Einblick in die Anschauungen aktueller Dichterinnen und Dichter zu bekommen, ohne dabei eine literaturwissenschaftlich tiefergehende Analyse der Stellungnahmen zu verfolgen. Es wurden fünfundzwanzig Dichterinnen und Dichter angeschrieben, deren poemas Teil des Korpus darstellen. Von ihnen haben vierzehn (zwölf Dichter und zwei Dichterinnen) dem Interview zugestimmt und die Fragen schriftlich (digital) beantwortet; zwei haben der Veröffentlichung ihrer Stellungnahmen nicht zugestimmt.

Es kristallisierten sich zwei Aspekte aus den Stellungnahmen heraus, die zum einen bereits bei Reglero (2013) nachzulesen sind und zum anderen für die gattungstheoretischen (insb. Kapitel 1.4 und 1.5) sowie gattungshistorischen (Kapitel 2) Untersuchungen von Belang sind: erstens der Zusammenhang zur avantgardistischen Denkweise und zweitens die Beschreibungen zu den eigenen Entstehungsprozessen und Gestaltungsformen von visuell-poetischen Texten.

So sind in den Stellungnahmen eindeutige Bekenntnisse zu den Grundzügen der vanguardia festzustellen (vgl. Entrevistas: Francisco Aliseda, Francisco Peralto, Julián Alonso, siehe Anhang 1). Dass die Poesía Visual an die avantgardistische Kunstidee anschließt, wird bereits durch den Antrieb deutlich, überhaupt innenperspektivische Definitionen zu äußern (wie ebenfalls bei Reglero 2013). Interessant ist ferner, dass gleichzeitig mit dem Gedanken an eine mögliche Definition stets angemerkt wird, dass Poesía Visual nur bedingt definierbar sei (vgl. ebd.; Aliseda, Frage 2; Jáuregui, Frage 2; Joaquín Gómez, Frage 1). Obwohl der Eindruck entsteht, dass durch die Definitionsversuche der Dichterinnen und Dichter weniger Klarheit als Konfusion geschaffen wird, helfen ihre Gedanken zu verstehen, auf welcher Linie sie sich selbst sehen. Die Infragestellung von Definitionen stützt sich auf die Prämissen der Avantgarde, deren Anhänger Kunst ganz bewusst von Kategorien und Determinationen zu befreien suchen und sich an der Erschaffung eines Gesamtkunstwerkes, im Spanischen arte total, orientieren (vgl. auch Entrevista Peralto, Frage 6). Reglero beschreibt diesen Aspekt unter „el mestizaje de las zonas fronterizas: un camino hacia un arte total“ und erklärt, dass Poesía Visual keineswegs nur als „un terreno fronterizo entre la literatura y la plástica“ gesehen werden darf (Reglero 2013, 17). Vielmehr verbinde sie sich ebenso mit anderen Elementen, beispielsweise „la acción“ und „lo sonoro“ (ebd. 18).

Die Aussagen der poetas visuales lassen auf einen direkten Zusammenhang zu einem weiten Verständnis von Kunst, die keine Grenzen kennt, schließen. Entweder wird auf abstrakte Weise lediglich geäußert, dass verschiedene künstlerische Disziplinen das visuelle Gedicht ausmachen, wie es Antonio Gómez formuliert: „Las distintas disciplinas poéticas coexisten independientes y en algunas ocasiones de una manera anárquica“ (Entrevista Antonio Gómez, Frage 2). Oder es wird konkret über „la aceptación de la poesía visual como una disciplina autónoma, independiente tanto del arte como de la literatura situándola en una posición híbrida entre ambas“ (Entrevista Juan José Ruiz Fernández, Frage 7), der Poesía Visual als „unabhängige“ und hybride Kunstform gesprochen. Unverkennbar ist hier die bereits von der klassischen Avantgarde propagierte „künstlerische Alternative zur hegemonialen Kunst“ (van den Berg/Fähnders 2009, 1; Kapitel 1.3.1.), die darauf zielt, die Grenzen der Künste zu überschreiten, sodass hybride Kunstwerke entstehen.

Interessant erscheinen zudem die Äußerungen der Befragten zum Phänomen der „Poesía Visual Española“ (Entrevista, Fragebogen, Frage 1), aus denen fast ausnahmslos hervorgeht, dass die Dichterinnen und Dichter eine nationale Spezifik der visuellen Poesie als nicht zutreffend betrachten und dagegen sogar darauf bestehen, dass die Poesía Visual als „en gran medida universal“ verstanden wird „y en ese sentido sería equiparable [..] a la de cualquier otra parte del mundo“ (Entrevista Juan Rosco Madruga, Frage 1). Hier könnte wieder der avantgardistische Hintergrund die Ursache für das Verständnis des „idoma universal“ (Entrevista Francisco Peralto, Frage 2) als die Sprache der Poesía Visual sein. Allerdings können genauso anti-nationalistische Haltungen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen Usus sind, die Dichterinnen und Dichter zu ihren Äußerungen bewegt haben.

In den Stellungnahmen geben die Dichterinnen und Dichter in den Antworten auf Frage 6 (En pocas palabras: ¿podrías describir tu poética?, Fragebogen, Anhang 1) teilweise sehr ausführlich Auskunft über ihre poetischen Prinzipien. Zu finden sind Anhaltspunkte über die Charakteristik des visuell-poetischen Textes, die mit der im Kapitel 1.1 vorgestellten Definition von Joan Brossa durchaus übereinstimmen. So wird die Vermittlung einer Botschaft ˗ im Sinne Brossas ˗ mehrmals betont, „importante [es] el mensaje“, schreibt Joaquín Gómez; eine Botschaft, die durch visuelle Gestaltungstechnik den Rezipienten außerdem besonders rasch erreichen soll: „que éste [el lector] pueda entender o al menos intuir el significado del poema con un solo golpe de vista“ (Julián Alonso, Hervorhebung v. d. Verf.). Verstanden werden poemas visuales ferner als Kürzesttexte, so beschreibt Julia Otxoa das poema objeto als „ese lenguaje visual de la brevedad“. Die brevedad wird durch die Kombinationsmöglichkeiten von Schrift, Bild und Gegenstand erreicht, wodurch eine „correspondencia lúdica e irónica de analogías y yuxtaposiciones inesperadas, un tipo de pensamiento combinatorio e iconoclasta“ (Julia Otxoa) erzeugt werden kann. Dabei wird das Visuelle, das Bildliche als vielfache Gestaltungsmöglichkeit erklärt, dazu zählt Francisco Peralto “[…] la forma / + la letra / + el color / + los textos / + la fotografía / + el espacio / + los blancos / + el dibujo / + la caligrafía […]”. Über seine „poesía visual“ erläutert Juan López de Ael „es más bien figurativa en el sentido de ‘hacer ver’ y entender un mensaje“. Die zur Verfügung stehenden Instrumente, seien es schriftsymbolische, bildliche oder gegenständliche, werden auf eine bestimmte Weise miteinander kombiniert, sodass neue Sinnzusammenhänge und dadurch eine poetische Botschaft entstehen. Bei Juan Rosco Madruga handelt es sich um “la búsqueda de objetos de cuya combinación con otro objeto o contexto, surja la chispa reactiva de la significación”, bei ihm nicht selten mit sozialkritischen Absichten („intención de denuncia social“) verbunden.

Joaquín Gómez sucht weniger die Kritik an der Gesellschaft als das für ihn erstaunliche Ergebnis dekontextualisierter Kombinationen: „es a través de los objetos, las cosas, cuanto más distintos y distantes sean, mayor será el impacto visual en el espectador“. Dekontextualisierung und Kombination sind die Prinzipien der Poesía Visual, insbesondere der poesía objeto (siehe hierzu Kapitel 1.5.4). „Descontextualizar las imágenes” beschreibt Juan José Ruiz Fernández „para darles nuevos significados a través del juego, el humor, la ironía, la crítica […]“. Die imágenes, werden oftmals zufällig angetroffen, denn darin stimmen mehrere Aussagen überein: „Vivimos rodeados de imágenes“ (Juan José Ruiz Fernández). Es gilt sie zu entdecken und daraus poetische Texte zu kreieren, “la realidad que nos rodea nos regala el poema. Sólo hay que verlo” (Francisco Aliseda).

Aus den Beschreibungen der Dichterinnen und Dichter über ihre Beschäftigung mit Poesía Visual lässt sich eine Gemeinsamkeit beobachten: Alle Akteure verbindet eine Art spontane Bereitschaft zur Suche und Entdeckung von Gegenständen, Bildern oder schriftsymbolischen Texten, die dekontextualisiert zu einem neuen, oftmals (aber nicht immer) intendierten Sinn, einer poetischen Botschaft kombiniert werden. Antonio Gómez definiert die Poesía Visual deshalb treffend als eine „poesía espontánea“.

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