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TEIL I: Poemas visuales als Gegenstand der Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte
1. Poesía Visual: Definition - Theorie - Typologie
1.1 Was ist Poesía Visual?

Nach dem Diccionario de la Lengua Española2 bedeutet poesía „arte de componer obras poéticas en verso o en prosa“ (DRAE s.v. poesía [del lat. poēsis, y este del gr. ποίησις]) und visual „perteneciente o relativo a la visión“ (DRAE s.v. visual [del lat. visuālis]). Dementsprechend kann poesía visual auf das Wesentliche reduziert als „arte de componer obras poéticas en verso perteneciente a la visión“ definiert werden. Die deutsche Übersetzung „visuelle Dichtung“ oder „visuelle Poesie“ bezeichnet eine sprachlich-visuelle künstlerische Ausdrucksform, die lange Zeit als „merkwürdige moderne Kunstform“ (Adler 1989, 28) galt und inzwischen als poetische Gattung3 von der Literaturwissenschaft anerkannt wird (vgl. Dencker 2011; Ernst 2012).

Visuelle Poesie wird ins Spanische zwar mit poesía visual übersetzt, in der vorliegenden Arbeit verwende ich Poesía Visual aber nicht als begriffliche Übersetzung, sondern als kulturspezifische literarische Erscheinungsform im spanischsprachigen Raum. Poesía Visual steht somit für die spanischsprachige visuelle Poesie. Sie ist keineswegs allein ein dichterisches Phänomen der spanischsprachigen Welt, doch um eben diese spanischsprachige Erscheinungsform, la Poesía Visual Española, soll es im Folgenden gehen.

Die erwähnte Merkwürdigkeit dieses Kunstphänomens liegt in der Grenzüberschreitung zwischen bildender Kunst und Literatur. Die Operatoren visuell-poetischer Texte4 sind Schrift und Bild gleichermaßen, was eine eindeutige Zuordnung zu den klassischen Gattungen unmöglich macht; gleiches gilt für die entsprechenden forschenden Disziplinen. Lange Zeit wurde Poesía Visual von den Theorien als „manieristische Wunderlichkeit“ (Adler 1989, 28) abgewertet und erst relativ spät im Verhältnis zu ihrem historischenVorkommen von der Wissenschaft ernstgenommen. Aufgrund ihrer Grenzlage zwischen Literatur und Kunst ist es den gattungszuschreibenden Wissenschaften daher auch lange schwer gefallen, Visuelle Poesie zu definieren. Jeremy Adler hat diese Grenzlage zwischen Kunst und Literatur folgendermaßen umrissen:

Auf das Einfachste reduziert, kann die Form [gemeint ist die Kunstform Visuelle Poesie] als ein Genre definiert werden, das sowohl Dichtung als auch visuelle Kunst ist. Worte können in einer visuell bedeutsamen Weise angeordnet werden oder so untrennbar mit einem visuellen Element verbunden sein, daß beide nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Umgekehrt beeinflussen sie einander auch, um eine komplexe Bedeutung oder einen Gehalt, den weder Bild noch Wort allein hervorbringen können, schaffen. (Adler 1989, 28)

Adler veröffentlichte diese Definition in einer kunstwissenschaftlichen Zeitschrift (Bildende Kunst 1989). Diese Tatsache ist insofern von Belang, als die Kunstwissenschaft offener mit Grenzüberschreitungen umzugehen scheint als die Literaturwissenschaft. Dies mag daran liegen, dass Schrift viel selbstverständlicher in künstlerische Prozesse integriert wird als, umgekehrt, Bilder in literarische. Aus Sicht der bildenden Künste sind Bild-Schrift-Kombinationen ganz und gar nicht „merkwürdig“ (wie beispielsweise eingebaute Textfragmente in Bildern, Collagen, Ornamentik etc.). Die Integration von Bezugssystemen wie Sprache und Schrift wird in der Kunstwissenschaft von jeher berücksichtigt (vgl. Markò 1989, 17). Dagegen ist in literarisch-theoretischen Positionen immer wieder ein gewisses Unbehagen festzustellen, wenn es darum geht, das Bild als literarisches Ausdrucksmittel zu akzeptieren. Die Bedeutung von Schrift in der „Ideenkunst“ (gemeint sind hier die avantgardistischen und post-avantgardistischen Bewegungen wie etwa Futurismus, Dada, konzeptionelle Kunst) sieht Martina Markò in der methodischen Problematisierung dieser Kunstkonzepte, Denkprozesse zu visualisieren (vgl. ebd.). So beschäftige sich die Visuelle Poesie aus kunstwissenschaftlicher Sicht mit der “wahrnehmungspsychologische[n] und erkenntnistheoretische[n] Frage des Auseinanderklaffens von Realität, Abbild und Bedeutung” (ebd.). Visuelle Poesie, so Markò weiter, sei allerdings ein „literaturzentrierter Begriff“ (ebd., 15), der als poetisches Schrift-Bild-Konzept in der Literaturwissenschaft im Zuge der Konkreten Poesie ab den 1950er Jahren erstmalig auftauche (auf diese begriffliche Entwicklung und die daraus entstandene Problematik wird im folgenden Kapitel genauer eingegangen).

Äquivalente Dichtkunstformen sind im europäischen Sprachraum entsprechend unter visual poetry, poésie visuelle, poesia visiva etc. zu verzeichnen. Ab Mitte der 1980er Jahre entsteht ein reges Forschungsinteresse an Visueller Poesie, das das Augenmerk zunächst auf die Untersuchung der historischen Entwicklung lenkt und bald darauf theoretisch-ontologischen Betrachtungen nachgeht (vgl. Adler/Ernst 1990; Bohn 1986; Dencker 1972; Higgins 1987). Aus diesem Forschungszusammenhang stammt folgende allgemein vergleichende Definition von visual poetry:

[W]e can define visual poetry as poetry meant to be seen. Combining painting and poetry, it is neither a compromise nor an evasion but a synthesis of the principles underlying each medium. (Bohn 1987, 2)

Willard Bohn beschreibt visual poetry als eine Kombination von Bild und poetisch-diskursivem Text, wie er nachfolgend bezüglich der Verwendung von poetry näher erläutert (vgl. ebd.). Visuelle Poesie ist dementsprechend als eine Kunstform zu verstehen, die bildliche wie schriftsymbolische Elemente verwendet, um sie zu einer Botschaft poetisch zu verdichten. Sie lässt sich somit in der Schnittmenge von bildender Kunst und Literatur verorten und muss – um bei den Worten Bohns zu bleiben - nicht nur gelesen, sondern auch „gesehen” werden. Bohns Definition ist eine allgemein deskriptive, wissenschaftliche und historische, die eine durch Sammlungen von visuellen Gedichten, Dichtern und Gruppierungen beziehungsweise Bewegungen (beispielsweise Futurismus, Guillaume Apollinaire, calligrammes, Joan Salvat-Papasseit, Ultraismus) repräsentierte poetische Gattung beschreibt.

Hieran lässt sich die Definition des katalanischen visuellen Poeten Joan Brossa (einer der Hauptakteure der Poesía Visual) anschließen, die zur gleichen Zeit entstand und aus Sicht des Dichters insbesondere auf die Bedeutung des Visuellen für die zeitgenössische Dichtung eingeht:

La poesia experimental del nostre temps és la poesia visual. El poeta muda de codi; deixa el codi literari i s’expressa en un llenguatge que s’esdevé de la recerca d’una nova dimensió entre allò visual i allò semántic. El poema visual no ès ni dibuix ni pintura, sinó un servei a la comunicació. Un intent ben típic del nostre temps en què la funció de la imatge ha adquirit una gran importància. (Brossa 1984 in Bordons et al. 2008, 187)

La poesía experimental de nuestro tiempo es la poesía visual. El poeta cambia de código; deja el código literario y se expresa en un lenguaje que acontece en la búsqueda de una nueva dimensión entre lo visual y lo semántico. El poema visual no es ni dibujo ni pintura, sino un servicio a la comunicación. Un intento muy típico de nuestro tiempo en que la función de la imagen ha adquirido una gran importancia. (Übersetzung von Carlos Vitale Bordons et al. 2008, 190)

Brossas Auslegung ist insbesondere in Bezug auf zwei Gesichtspunkte interessant: Zum einen beschreibt er die Poesía Visual als eine Erscheinungsform der poesía experimental und klassifiziert sie demnach als Genre derselben; zum anderen legitimiert er die kommunikativ-gesellschaftliche Teilhabe der visuellen Poesie. Er versteht das Bild als sprachliche Einheit und beschreibt die kommunikative Funktion von Bildern als einen sprachlichen Code, der dem Dichter neben einem código literario (dt. schriftsymbolischer Code) zur Verfügung stehe. Das poema visual wird von ihm - mit „un servei a la comunicació“ - deutlich als Botschaft definiert, die sich an eine zeitgenössische, visuell geprägte Gesellschaft richtet.

In der Aussage Brossas liegt ferner ein strukturalistisches Verständnis von Dichtung: Dass Sprache in all ihren Facetten poetisch verwendet werden kann, erscheint einleuchtend. Allerdings ist poetische Sprache von nicht-poetischer Sprache zu unterscheiden. Dies gelingt, weil nicht-poetische Sprache eine eher zufällige und meist planlose Ausdrucksform darstellt, wohingegen poetische Sprache geplant und insbesondere nicht-zufällig zustande kommt (vgl. Jakobson 1960, 85). Wenn Poesie als Sprache bezeichnet wird, liegt eine linguistische Betrachtung zugrunde, die anhand Jakobsons strukturalistischer Definition von Poesie und poetischer Sprache zusammenfassend wie folgt erklärt werden kann: Poetische Sprache ist ein verbales Sprachverhalten, das auf den grundlegenden Operationen von „Selektion” und „Kombination” beruht (vgl. ebd., 94). Das bedeutet, dass sich poetische Texte im Wesentlichen von nicht-poetischen unterscheiden, weil sie a) nicht-zufällig entstehen und b) sich aus selektierter und kombinierter Sprache zusammensetzen. Poesía Visual ist daher, nach Brossas Verständnis, eine nicht-zufällige, selektierte und kombinierte visuell-verbale sprachliche Ausdrucksform.

Nicht zu ignorieren ist schließlich der Umstand, dass Poesía Visual als grenzüberschreitendes hybrides Konzept nur bedingt definierbar ist. Aufgrund ihrer Anwendung „en un proceso abierto y cambiante“ (Fernández Serrato 1995b, 43) erweist sich auch darüber hinaus eine Klassifizierung als schwierig.

Auf die Frage, was Poesía Visual ist, biete ich folgende Definition an, die sowohl an den herangezogenen theoretischen Definitionen als auch den Stellungnahmen der Dichter anknüpft.

Im Rahmen der vorliegenden Dissertation wurden mit Dichterinnen und Dichtern aus der aktuellen Szene in Spanien schriftliche Interviews geführt (siehe Anhang 1) und Stellungnahmen zur aktuellen Poesía Visual eingeholt. Es wurden insgesamt 20 Dichterinnen und Dichter angeschrieben. Von ihnen haben 14 (12 Dichter und 2 Dichterinnen) dem Interview zugestimmt und die Fragen schriftlich (digital) beantwortet.5 Die Stellungnahmen geben Aufschluss über das Selbstverständnis der Poesía Visual. Die Antworten fließen mit inhaltlich vergleichbaren Publikationen (vgl. Fernández Serrato 1995a; Reglero 2013), in die folgende Definition sowie in die Reflexionen über das Selbstverständnis der Poesía Visual, poética interna, ein (vgl. Kapitel 1.3.2.2).

Unter Berücksichtigung dessen verstehe ich Poesía Visual im Rahmen meiner Forschungsarbeit als ein Genre der poesía experimental, in dem eine Botschaft mittels bildlicher und schriftlicher Codes (ikonischer und symbolsicher Zeichen) verdichtet wird. Ich untersuche hier lediglich jene Produktionen ab den 1970er Jahren, die auf der iberischen Halbinsel entstanden sind.6

1.2 Zur Begriffsklärung: Poesía experimental, poesía concreta oder poesía visual?

Eine Betrachtung der Poesía Visual7 gestaltet sich insofern als schwierig, als es sich um ein begrifflich äußerst inkonsistentes Phänomen handelt. Die Bezeichnungen wie poesía concreta, poesía concreto-visual oder poesía experimental, die auf ein verwandtes Phänomen hindeuten, stellen sich als irreführend heraus, denn die Begriffe werden teilweise synonym verwendet. Dieses grundsätzliche „problema de la denominación“, wie Juan Carlos Fernández Serrato es nennt, erweist sich als regelrechte Begriffsverwirrung, die es im Folgenden zu beseitigen gilt (1995b, 43 ff., und 2003, 21 ff.). Dabei soll es vor allem darum gehen, diese tradierten Begriffe im Kontext und in Beziehung zur Poesía Visual nachzuzeichnen, um damit einem Definitionskonflikt auszuweichen.

Die Begriffskonfusion hat zwei Ursachen: Zum einen wurden die Bezeichnungen poesía concreta und poesía visual von der deutschen Tradition der Konkreten Poesie beeinflusst, zum anderen ist poesía experimental ein Begriff, der sich in der spanischen segunda vanguardia als Oberbegriff für verschiedene poetische Praktiken entwickelt hat. Die sich zum Teil überlappenden Bedeutungen der vorliegenden Bezeichnungen beruhen auf der grenzüberschreitenden Tendenz der jeweiligen künstlerischen Ausdrucksformen. Poesía visual, poesía experimental, poesía concreta etc. liegen nicht sehr nah beieinander, sondern vielmehr ineinander, sodass sie nur bedingt isoliert voneinander betrachtet werden können. Die synonyme Verwendung der Bezeichnungen und die damit einhergehende Begriffsverwirrung ergeben sich demnach als logische Konsequenz.

Poesía concreta ist neben Poesía Visual eine Erscheinung, die - wie im Zusammenhang mit der Konkreten Poesie noch näher erläutert wird - als Teilgebiet der poesía experimental angesehen werden kann. Hingegen bezeichnet poesía de vanguardia die Dichtkunst der (Neo-)Avantgarde, die als übergeordnetes Konzept poesía concreta und poesía experimental mit einschließt. Bevor genauer auf die beiden Ursachen für die Begriffsverwirrung eingegangen wird, soll die folgende Grafik veranschaulichen, wie die Beziehung der diskutierten Bezeichnungen zueinander zu verstehen ist (Abbildung 1).

Abbildung 1.

Die Begriffe poesía de vanguardia, poesía experimental, poesía concreta und poesía visual im Zusammenhang.

1.2.1 Poesía experimental in der Tradition der Konkreten Poesie

In den 1970er Jahren führen verschiedene Kausalitäten dazu, dass die Theorien und auch Praktiken der deutschsprachigen Konkreten Poesie in das Umfeld der spanischen poesía experimental geraten und deren Begriffskonstitution beeinflussen. Der in Deutschland wohnhafte Felipe Boso und Ignacio Gómez de Liaño, beides Dichter und Verfasser zahlreicher theoretischer Arbeiten über die spanische visuelle Dichtung, veröffentlichen in der Literaturzeitschrift Akzente (1972) unter dem Titel Experimentelle Dichtung in Spanien dreißig zeitgenössische Gedichte. Sie präsentieren dabei die spanische poesía experimental als Variante der Konkreten Poesie, ohne die Bezeichnungen explizit zu erläutern, und versuchen, vermutlich im Hinblick auf die deutsche Leserschaft, sich dem deutschen Diskurs der Konkreten Poesie anzuschließen. Gómez de Liaño beleuchtet den möglichen Einfluss der brasilianischen8 und deutschen Konkreten Poesie auf die spanische experimentelle Poesie und leitet daraus eine zusammenhängende Entwicklung ab (1972, 291 f.). Eine solche Schlussfolgerung ist nicht abwegig, denn sie ist anhand von Fakten belegbar: Während des „tardofranquismo“ (Fernández Serrato 1995a, 269) in den 1960er Jahren, als Spanien unter der Zensur der faschistischen Diktatur leidet, verbreiten beispielsweise Eugen Gomringer und Reinhard Döhl systematisch die Ideen des deutschen Konkretismus. Dies geschieht im Rahmen der Vortragsreihe Conferencia pronunciada en el ciclo. Nuevas tendencias: poesía, música, cine im Instituto Alemán in Madrid (Dezember 1967) und deren anschließenden Veröffentlichung (1968) (vgl. ebd.; López Gradolí 2008, 114).9 Was die Autoren damals wahrscheinlich nicht wissen, ist die Tatsache, dass etwa zur gleichen Zeit im deutschsprachigen Konkretismus intensive Diskussionen im Hinblick auf die Begriffe konkret und visuell aufkommen. Daran maßgeblich beteiligt sind unter anderem Eugen Gomringer selbst (1972) wie auch Max Bense (1972), Klaus Peter Dencker (1972), Siegfried J. Schmidt (1971, 1974) sowie später Heinz Gappmayr (1978) und Christina Weiss (1984). Sie alle versuchen in langen Traktaten, die Begriffskonfusion aufzuklären. Diese war dadurch entstanden, dass der von Gomringer analog zur Konkreten Kunst10 etablierte Begriff Konkrete Poesie in theoretischen Positionen programmatisch beschrieben und von den Dichterinnen und Dichtern übernommen worden war (vgl. Stieg 1979, 43). Konkret wird in diesem Zusammenhang nach philosophischen Grundsätzen als Eigenschaft verstanden, die einem Gegenstand zusteht, der real wahrnehmbar, also sichtbar und greifbar ist (vgl. Kopfermann 1974, X). Dementsprechend beansprucht die Konkrete Poesie in ihren Anfängen das weite Gebiet des Konkreten für sich. Dies führt dazu, dass unter Konkreter Poesie alles bezeichnet wird, was sich mit der konkreten, materiellen Gestalt von Sprache beschäftigt. In diesem Sinne wird auch Visualisierung als Konkretisierung verstanden. Konkrete Poesie gilt in diesem Kontext folglich als Überbegriff für alle poetischen Entwicklungen, die die äußere Gestalt von Sprache (den Saussure’schen signifiant) zum Thema haben. Diese Art von Generalisierung berücksichtigt jedoch in keiner Weise die lange Tradition der Visuellen Poesie. Nicht zuletzt deshalb widmen sich auch neuere wissenschaftliche Untersuchungen der historischen Entwicklung (vgl. u. a. Alcón Alegre 2005; Dietz/Gálvez 2013; Millán Domínguez 1999; Muriel Durán 2000; Pineda 2002). Anhand der historischen Entwicklung zeigt sich, dass es sich bei der Visuellen Poesie eben nicht um ein Genre der konkreten oder experimentellen Dichtung, sondern um eine eigene, traditions- wie typenreiche Gattung handelt. Infolge ihrer literaturhistorischen Unkenntnis zeichnete sich bei den Vertretern der Konkreten Poesie indes die Tendenz ab, die Begriffe konkret und visuell synonymisch zu verwenden. Im Verlauf der Zeit wurde die Visuelle Poesie schließlich zu einem Genre der Konkreten Poesie erklärt, was letztendlich die Begriffsverwirrung provozierte (vgl. Dubiel 2004, 10). Gomringer beschreibt in diesem Zusammenhang visuelle Gedichte als „in den meisten fällen seh-gegenstände, seh-texte, die unter dem überbegriff ‚konkrete poesie‘ angeboten werden“ (1996, 9; Kleinschreibung v. d. Verf. übernommen). Primär lanciert durch literaturhistorische Forschungen über Visuelle Poesie (u. a. Higgins 1987; Adler 1989; Adler/Ernst 1990), zeichnete sich ab den 1990er Jahren jedoch der Gattungsbegriff Visuelle Poesie in der deutschen Literaturwissenschaft ab. Er emanzipierte sich von der Konkreten Poesie und gilt heute - gemeinsam mit seinen europäischen Entsprechungen visual poetry, poésie visuelle etc. - als Bezeichnung einer eigenständigen poetischen Gattung (vgl. Dencker 2011; Ernst 2012).

Die beiden Autoren Boso und Gómez de Liaño unterschlagen zwar nicht die Bezeichnung, doch sehr wohl die künstlerische Bewegung, die bereits in Spanien etablierte poesía experimental, und passen sich, wie es zumindest in der Zeitschrift Akzente (1972) den Anschein macht, den damaligen poetischen Konventionen der Konkreten Poesie an. Boso erklärt die poesía experimental zu einem (späten) spanischen Beitrag der Konkreten Poesie und lässt erahnen, dass er sie, wenn nicht als Genre, so doch als Synonym versteht:

Zu was also hier und im Jahre 1972 diese Auswahl an spanischer experimenteller Dichtung? Um es vorweg zu sagen: weil sie eben dabei ist, in Spanien populär zu werden. […] Gewiß ist jedenfalls, daß in der Abenddämmerung der konkreten Dichtung ihr spanischer Beitrag erst wichtig wird. (Boso 1972, 300)

Allerdings ist poesía experimental im spanischsprachigen Kontext, wie im Folgenden dargestellt, letztendlich die kontinuierliche und daher angemessenere Bezeichnung (vgl. Millán/García Sánchez 2005 [1975], 12).

1.2.2 Die begriffliche Erklärung von Poesía Visual im Kontext der vanguardia

Die Entwicklungen und Zusammenhänge von Poesía Visual und poesía experimental sind insbesondere in der sogenannten segunda vanguardia, der Wiederaufnahme und Fortführung der Avantgarde ab den 1960er Jahren in Spanien, zu beobachten. Die Bezeichnung poesía de vanguardia ist der Versuch, einer überaus unübersichtlichen Wechselwirkung von Film, Musik oder plastischer Kunst und poetischer Praxis einen Namen zu geben. Mit den Worten Fernández Serratos „quiere [la poesía de vanguardia] aglutinar experiencias más o menos novedosas desarrolladas del medio literarios, cinematigráfico, musical y plástico“ (Fernández Serrato 1995b, 45). Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Ausstellungskataloges Poesía Internacional de vanguardia (Madrid, April 1970) zeigt, inwiefern poesía de vanguardia als übergeordneter Begriff verwendet wurde:

poesíaconcreta poesíacinética

carteles objetos libros films

poesíaespacial poesíaobjetiva

revistas cintasmagnetofónicas

poesía n.o. poesíasemiótica

discos serigrafías grabados y

poesíaexperimental poesía n.o.

fotomontajes librósobjeto [sic] y

poesía-simbiótica metaart zaj

plásticos revistas objetos y

poesíagráfica poesíavisual y

carteles objetos libros films

verbofonía poesíasemántica y

cintasmagnetofónicas grabados

música poesíamatemática y zaj

diseños serigrafías grabados

poesíavisiva poesíatecnológic

fotomontajes grabados objetos

poesíasónica poesíacinética

plásticos revistas grabados

músicaelectrónica poesía n.o. (vgl. Díez Borque 1973, 41)

Auffällig ist, neben den vielen als poesía de vanguardia geltenden Genres, der Zusammenhang mit audio-visuellen Medien („cintasmagnetofónica, serigrafías, films“), womit die Hinwendung zum technischen Fortschritt und mit ihr die avantgardistische Haltung abermals deutlich wird. Es ist möglich, dass die Wiederaufnahme des Begriffs vanguardia als Bezeichnung poetischer Praktiken lediglich den Wunsch der spanischen Künstlerinnen und Künstler manifestiert, die „nueva poesía“ als einen „paso más allá de la evolución del arte“ zu sehen (Fernández Serrato 1995b, 46). Es wäre auch denkbar, dass die infolge des Bürgerkriegs und der anschließenden Franco-Diktatur versäumte Zeit wieder aufgegriffen und erlebt werden musste, was den Zusammenhang zu den Grundsätzen der Avantgarde erklären würde (vgl. ebd.).

Für die begriffliche Entwicklung ist poesía de vanguardia eher ein historischer Terminus. Er wird dem frühen 20. Jahrhundert, sei es der klassischen oder der Neo-Avantgarde, zugeordnet und läuft deshalb nicht Gefahr, mit poesía experimental oder poesía visual verwechselt zu werden. Vielmehr hat poesía de vanguardia den Weg für poesía experimental und ferner Poesía Visual geebnet: In dem 1973 erschienenen Themenschwerpunkt Literatura Experimental der Zeitschrift El Urogallo (Soriano/Montero 1973) beziehen verschiedene Theoretiker und Dichter (u. a. José María Díez Borque, Jesús García Sánchez, Alfonso López Gradolí oder Fernando Millán) zum Begriff poesía experimental erstmals Stellung. In der Diskussion um „lo experimental“ postuliert Millán, dass es sich eher um einen Terminus technicus handele als um „una nueva forma de hacer poesía“ (Millán 1973, 45). Es wird insbesondere die von Max Bense (1954, 15) lancierte Theorie des Experiments in der Dichtung aufgenommen (vgl. Lanz Rivera 1992, 57). Bense versteht das Werk deshalb als Experiment, weil es zum einen als Kontinuum im Prozess nie als abgeschlossen gelten darf und - als Konsequenz daraus - zum anderen eine Vielfalt an Lesarten zulässt (vgl. ebd.). Poesía experimental ist daher eine Bezeichnung, die den Modus Operandi fokussiert (vgl. Fernández Serrato 1995b, 51/52). Das Experiment selbst zielt nicht auf ein Ergebnis ab, sondern nur auf den Prozess, weshalb es nie als abgeschlossen gilt. Die Vielzahl von Varianten des poetischen Experimentierens entsteht aus der Hybridisierung der Bestandteile von Dichtung mit einer anderen künstlerischen Ausdrucksform (Musik, darstellende Kunst, bildende Kunst etc.) (vgl. del Villar 1974). Die Gemeinsamkeit all dieser verschiedenen Genres liegt lediglich im experimentellen Charakter ihrer Techniken. Alle möglichen Varianten der poesía experimental zu bestimmen, ist daher unmöglich. Je nach technischen Verfügbarkeiten, was in Anbetracht der digitalen Wende während der 1990er Jahre besonders relevant wird, erweitern sich die Möglichkeiten des Experimentierens und der daraus entstehenden Varianten entsprechend.

Poesía experimental ist also ein allgemein gehaltener Oberbegriff für eine heterogene und vielschichtige Gruppe, unter der alle denkbaren poetischen Manifestationen subsumiert werden, die Überschreitungen von verschiedenen künstlerisch-medialen Ausdrucksformen erkennen lassen. Sie zu typisieren, erweist sich daher als äußerst schwierig. Es lassen sich dennoch einige Kategorisierungen und Typologien finden, die den Versuch aufzeigen, Struktur in die komplexe Vielfalt zu bringen. Lanz Rivera beispielsweise gruppiert die unzähligen Varianten der poesía experimental in zwei kategorische Untertypen (1992, 66): poesía visual und poesía fónica. Jene poemas, die sich der Visualität von Sprache widmen, ordnet er der Poesía Visual zu, und jene, die das Akustische hervorheben, der poesía fónica. Diese kategorische Zweiteilung ist insofern bedenklich, als sie nur bedingt die vielen Schnittmengen zwischen visuell und akustisch oder gar anderen Formen, wie etwa poesía acción (darstellende Gedichte), berücksichtigt. Félix Morales Prado (2004, 11 ff.) versucht der Heterogenität der poesía experimental in seiner Typologie gerecht zu werden und beschreibt neun Typen: „letrismo, poesía concreta, poesía fonética, poesía semiótica (o ícono-verbal), poema objeto, poesía acción, poema propuesta, videopoema, poesía cibernética“ (ebd.).

Inwiefern diese Typologien die einzelnen Typen sinnvoll definieren, mag dahingestellt bleiben. Indes lässt sich mit ihrer Hilfe der Zusammenhang zur Poesía Visual bestimmen. Anhand der dargestellten Eigenschaften der poesía experimental wird klar, dass Poesía Visual als deren Genre zu verstehen ist.

Des Weiteren lässt sich festhalten, dass das Visuelle die wohl stärkste Ausprägung der spanischen experimentellen Dichtung ist. So bemerkt bereits Felipe Boso:

Ohngeachtet der individuellen Varianten und Abschattungen ist, was die spanische experimentelle Dichtung am meisten auszeichnet, ihre Anschaubarkeit, ihre Betonung des Visuellen […]. Das Auge dichtet. Oft scheint es, als fehlten dem spanischen experimentellen Dichter andere Sinne. (Boso 1972, 303)

Dass Anschaulichkeit und Betonung des Visuellen als wichtige Merkmale der poesía experimental hingestellt werden, erklärt, wieso sich die Bezeichnung bis heute als Synonym von Poesía Visual hält (z. B. Diputación Badajoz 2002-2013, Hermosilla 2013, López Gradolí 2012; Morales Prado 2004). Poesía experimental bedeutet auch Poesía Visual, aber nicht nur. Sie hat zudem, wie bereits dargelegt, viele andere Ausrichtungen. Daher ist, zusammenfassend, Poesía Visual immer dann der angemessene Begriff, wenn er explizit das Visuelle an der Gestaltungsform des Gedichtes bezeichnen soll.

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