Читать книгу: «IRONCUTTER – Die Geheimnisse der Toten», страница 3

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»Daran kann ich mich mehr erinnern. Da musst du wohl betrunken gewesen sein.«

Seinem Gedächtnisschwund nach zu urteilen, war vielmehr er derjenige, der betrunken gewesen sein musste. Aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht eher lockerlassen würde, mich zu triezen, bis ich ihm die Geschichte noch einmal erzählt hatte.

»Als mein Ur-Urgroßvater damals nach Amerika kam, sprach er kein Wort Englisch und musste sich daher auf andere Immigranten als Übersetzer verlassen. Einer von ihnen sagte zu ihm: »Sie wollen wissen, wie du mit Nachnamen heißt.« Er antwortete: »Taliferro«, was übersetzt so viel bedeutet wie Eisenschneider, also Ironcutter. Der Beamte bei der Einwanderungsbehörde schrieb das auf, und seitdem ist das unser Name.«

Mick nickte, als wäre das die Riesengeschichte schlechthin. Während er seinen Kaffee austrank, fuhr draußen ein Wagen vor. »Wo wir gerade beim Thema wegstecken waren … du bist doch nur neidisch, dass du nicht jeden Tag neben einer Frau wie meiner aufwachen kannst.« Er sah zum Fenster hinaus. »Da ist meine großbusige Schönheit ja schon.«

Ich sah ebenfalls hinaus. Micks Frau hatte den Wagen abgestellt und stieg gerade mit einer großen Tüte in der Hand aus. »Eigentlich träumt sie von mir, weißt du?«, sagte ich. »Das hat sie mir erzählt.« Ich stand schnell auf, damit Mick nicht mit irgendetwas nach mir werfen konnte, eilte zur Tür und hielt sie für sie auf.

Kim und Mick hatten sich während seiner Zeit beim Militär kennengelernt, als er in Korea stationiert gewesen war. Sie hatten nach einer stürmischen Romanze geheiratet, und seitdem waren die beiden zusammen. Nachdem Mick genug Geld gespart hatte, hatte er sie dazu überredet, sich Brustimplantate einsetzen zu lassen. Er hatte die größten gewollt, die ein Arzt in sie hineinquetschen konnte. Sie war kaum anderthalb Meter groß, was die beiden Doppel-D-Körbchen nur noch mehr herausstechen ließ. Sie lächelte, als sie den Laden betrat, und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Alles Gute zum Geburtstag, mein Hübscher«, sagte sie, dann lief sie zum Couchtisch hinüber und begann, das Essen darauf zu verteilen.

Mick starrte mich an. »Du hast heute Geburtstag?«, fragte er. Ich nickte unverbindlich. »Wieso sagst du denn nichts?«

»Weißt du, warum man Geburtstag hat? Das ist Gottes Art, dich daran zu erinnern, dass du dem Tod nun ein Jahr nähergekommen bist.«

Mick runzelte verwirrt die Stirn. »Für diese Art von Einstellung gibt es ein Wort. Das nennt man … äh …«

»Fatalistisch«, sagte ich.

Er schnippte mit den Fingern. »Genau, das ist es. Du bist fatalistisch.« Wahrscheinlich hätte er gern noch weiter mit mir darüber gestritten, aber das Essen lenkte ihn davon ab. Mir war das ganz recht, denn ich hatte keine Lust, über mein Alter zu reden. Vierundvierzig war ich übrigens geworden, falls es jemanden interessieren sollte.

Nach dem Essen, als ich mir gerade eine Zigarre anzünden wollte, kam Anna, die Stripperin, durch die Tür. Nun wurde mir klar, dass sie es gewesen war, die mir die Nachricht geschrieben hatte, und nicht die alte Dame. Sie trug eine abgetragene weite Jeans, die aussah, als würde sie jeden Moment von ihr herunterrutschen, und ein weißes T-Shirt. Aber irgendwie schaffte sie es, selbst dieses Outfit sexy aussehen zu lassen. Sie kam zu uns hinüber und setzte sich.

»Hi«.

»Hallo«, antwortete ich, und nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich sie wie ein notgeiler Teenager angegafft hatte, deutete ich auf Mick und Kim. »Mick, Kim, das ist Anna. Anna, das sind Mick und seine reizende Frau Kim.« Sie sagten einander kurz Hallo und dann herrschte unangenehmes Schweigen.

Kim bemerkte es und scheuchte ihren Ehemann von dem Sofa. »Komm schon, du Fettsack, die beiden müssen offenbar etwas besprechen.«

Sie erhoben sich, aber bevor er verschwand, sah Mick noch einmal Anna an. »Ich bin nicht wirklich fett, ich habe nur schwere Knochen.«

Kim rief noch einmal nach ihm und dann eilte er endlich hinaus.

Anna sah mich finster an. »Wir müssen reden.«

Ich nickte. Ich hatte die Bedeutung dieser drei Worte auch schon in Textform verstanden, auch wenn sie dort ohne diesen Klugscheißer-Unterton hatten auskommen müssen.

»Duke weiß, wer Sie sind.«

Ich nickte und tat so, als wüsste ich genau, wovon sie redete, doch dann fragte ich: »Wer ist Duke?«

Ihre Kinnlade fiel hinunter. »Er ist der Chef des Baroque Biker Clubs. Sie haben gestern mit ihm gesprochen.« Ah, der Alte. Hatte ich mir doch gedacht, dass er das Sagen hatte. Anna fuhr fort: »Der Stripklub gehört ihm ebenfalls. Letzte Nacht saßen sie in meiner Ecke und führten ein langes Gespräch, über den Prozess, hauptsächlich aber über Sie.«

Ich legte die Stirn in Falten. »Wieso? Ich habe doch nur diese dämlichen Dokumente überbracht. Das heißt doch nichts.« Na ja, eigentlich schon. Dieser Duke konnte froh sein, wenn er wegen der Prozesskosten nicht seinen Stripklub verkaufen musste.

»Bull glaubt, dass Sie ihn beschimpft haben, und konnte auch ein paar der anderen Biker davon überzeugen. Duke meinte, dass er sich darum kümmern würde, aber fragen Sie mich nicht, was das bedeuten soll.« Sie zuckte mit den Achseln. »Das könnte alles Mögliche heißen.«

Als ich dieses Mal nickte, verstand ich es tatsächlich. Manche Leute haben ein dünnes Fell und sehr fragile Egos. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir das erzählen. Das hätten Sie nicht tun müssen, wissen Sie?«

»Doch, das musste ich«, antwortete sie. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu.

Anna lächelte, aber auf eine ganz spezielle Weise, war es ein sehr trauriges Lächeln. »Als ich zwölf Jahre alt war, wurde mein Vater ermordet. Sie waren damals der Detective, dem man unseren Fall zuwiesen hatte. Sie schnappten die Kerle, die dafür verantwortlich waren, und sperrten sie ein. Ich dachte mir schon, dass Sie mir irgendwie bekannt vorkamen, und als ich mir dann Ihre Visitenkarte ansah und Ihren Namen las, konnte ich schließlich eins und eins zusammenzählen.«

Ich sah sie mir daraufhin genauer an, und erst jetzt erkannte ich in ihr das zwölfjährige hagere Mädchen mit der Akne und der Zahnspange wieder. Ihr Vater hatte Marihuana und Ecstasy von Zuhause aus vertickt. Dann kamen irgendwann zwei Dreckskerle auf die glorreiche Idee, ihn auszurauben. Er wehrte sich, wurde angeschossen und verblutete schließlich vor den Augen seiner Familie auf dem Küchenboden. Das Ganze war jetzt zehn Jahre her … damals, als ich noch der absolute Überflieger gewesen war.

»Jetzt erinnere ich mich wieder. Sie hatten eine Mutter und eine ältere Schwester. Wie geht es den beiden?« Anna sah hastig weg und ihr Gesicht verdunkelte sich. »Ach, die sind scheiße.«

Ich musste wohl einen wunden Punkt bei ihr getroffen haben, also bohrte ich nicht weiter nach. Stattdessen zog ich meinen Flachmann hervor und nahm einen Schluck daraus, bevor ich ihn ihr anbot. Sie schüttelte höflich den Kopf. Ich sah auf die Uhr.

»Okay, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mich warnen wollten, aber ich habe um fünf Uhr eine Verabredung im idyllischen Rockvale.« Anna nickte verständnisvoll, als ich mich erhob, aber ihre Enttäuschung war nicht zu übersehen. Ich bekam den Eindruck, dass sie meine Gesellschaft bewusst gesucht hatte, und an weiblicher Gesellschaft mangelte es mir seit einiger Zeit. Also traf ich eine blitzschnelle Entscheidung, als sie ebenfalls aufstand.

»Wollen Sie mich vielleicht begleiten?«, bot ich ihr an und zeigte zu meinem Auto hinaus. »Es ist ein sonniger Tag und ich habe ein Cabrio. Wir könnten uns doch während der Fahrt auf den neuesten Stand bringen.« Sie zögerte für einen Moment, bevor sie meine Einladung mit einem freundlichen Lächeln annahm.

Unterwegs erzählte mir Anna, wie ihr Leben seit damals verlaufen war. Wenn sie mich ansah, wirbelte der Fahrtwind ihre Haare in die Höhe. Ich ertappte mich bei dem Gedanken daran, mir vorzustellen, wie sie auf mir saß und ihre Haare auf die gleiche Weise um ihren Kopf peitschten, während sie sich in Ekstase wand. Ich versuchte, die Bilder schnell wieder zu verdrängen, und beobachtete, wie sie an meinem Radio herumdrehte.

»Funktioniert es?«, fragte sie.

»Klar doch. Ist ein Standard-Mittelwellen-Radio.« Sie sah mich verwirrt an, also erklärte ich es ihr. »Damals gab es solche Radios nur auf Wunsch.«

»Oh, dann hörten die Leute damals wohl nicht so gern Musik«, antwortete sie. Ich musste lachen. Ich persönlich hielt die Musik der Fünfziger und Sechziger immer noch für die beste Musik überhaupt, aber anstatt mit ihr darüber zu diskutieren, wechselte ich lieber das Thema.

»Wie sind Sie eigentlich Stripperin geworden?«, fragte ich sie. Sie zögerte kurz, bevor sie die Frage beantwortete.

»Ich hatte eine Freundin, die strippte. Sie verdiente gutes Geld damit und ich dachte mir, wieso sollte ich es nicht selbst ausprobieren?«

»Da würden mir sofort ein Dutzend Gründe einfallen«, spottete ich.

»Sie werden mir jetzt aber keine Lektion erteilen, oder?«

»Nope«, warf ich schnell ein und mir wurde bewusst, dass ich wohl besser meine Klappe gehalten hätte.

»Gut.« Ein paar Meilen fuhren wir schweigend dahin und dann redete sie weiter. »Es ist ja nicht so, als ob ich vorhätte, eine Karriere damit zu machen, aber es ist gutes Geld. Ich hatte innerhalb weniger Monate mein Auto abbezahlt und gerade erst war ich mit Freunden in Vegas. Alles bar bezahlt. Das könnte ich mir mit einem Drecksjob als Kellnerin oder etwas Ähnlichem niemals leisten.«

Ich nickte, sagte aber nichts dazu.

»Sie verurteilen mich doch«, rief sie.

»Überhaupt nicht.«

»Aber Sie sagen nichts dazu.«

»Sie haben mich doch nicht nach meiner Meinung gefragt.« Über die Jahre hinweg hatte ich gelernt, dass es seinen Grund hatte, wenn die Leute einen nicht nach seiner Meinung fragten. Meistens wollten sie diese nämlich gar nicht hören.

Ich wechselte daraufhin das Thema. »Haben Sie einen Freund?«

»Ja, das hatte ich, aber er ist durchgedreht, als ich ohne ihn nach Vegas gefahren bin, also habe ich ihn abgeschossen«, erklärte sie mir und grinste hämisch. »Er ist ein Cop. Vielleicht kennen Sie ihn sogar.«

»Arbeitet er hier in Nashville?«, fragte ich. Sie nickte. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kenne nicht mehr viele von den jüngeren Cops. Ich arbeite schon seit einer ganzen Weile nicht mehr dort.«

Anna sah mich fragend an. »Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen? Sie sind gar kein Cop mehr?« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Wieso nicht? Sind Sie im Ruhestand?«

»Ich habe den Job an den Nagel gehängt.«

»Wieso?«

Ich warf ihr einen Seitenblick zu und fuhr weiter. »Ist eine lange Geschichte.«

Sie hob ihre Hände und wackelte mit den Fingern, als würde sie mich mit einem Fluch belegen wollen. »Ooh, der Detective macht einen auf geheimnisvoll«, sagte sie mit einem sarkastischen Grinsen.

Okay, sie wollte es offenbar nicht anders. »Meinetwegen. Also, die Geschichte geht ungefähr so: Ich lernte meine Frau kennen, da war ich ungefähr in Ihrem Alter. Ihr Name war Marcia. Wir heirateten und ein paar Jahre später wurde sie schwanger. Ungeplant, denn sie wollte gar keine Kinder. Sie brachte sich deshalb um, zusammen mit unserem ungeborenen Kind, und ich geriet in den Verdacht, sie umgebracht zu haben. Seither wird gegen mich ermittelt, hauptsächlich von einem Assistant Chief, der mich sowieso schon auf dem Kieker hatte. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie mich eines Tages doch noch einbuchten würden.« Ich sah sie an. Jetzt grinste sie nicht mehr. Die GPS-App auf meinem iPhone piepste und ließ uns durch seine körperlose Stimme wissen, dass wir unseren Zielort erreicht hatten.

»Wir sind da«, sagte ich und bog in die Einfahrt.

Kapitel 3

Der lang gezogene Weg aus Kies erinnerte mich an meine eigene Einfahrt: kurvig und von Bäumen gesäumt. Sie führte zu einem älteren, entzückenden, einstöckigen Farmhaus, das sich an den Fuß eines Berges schmiegte. Die Holzverkleidung hatte schon seit ein paar Jahren einen frischen Anstrich nötig und der von Unkraut überwucherte Rasen schrie förmlich nach einem Landschaftsgärtner.

»Wollen Sie im Wagen warten?«, fragte ich. Anna war wesensverändert, seit ich ihr vom viel zu frühen Ableben meiner Frau erzählt hatte. Sie nickte schweigend und zündete sich eine Zigarette an. Ich verstand sie durchaus.

Rhoda Gwinette, der ebenfalls eine Zigarette aus dem Mundwinkel hing, erwartete mich bereits an der Haustür. Die Tür stand offen, doch das Fliegengitter war mit einem billigen Schloss gesichert. Eines von der Sorte, die eher dafür gemacht waren, die Tür am Herausfallen zu hindern, als Eindringlinge fernzuhalten.

Wirklich attraktiv konnte man sie nicht nennen. Wahrscheinlich war sie das auch niemals gewesen. Sie war Ende fünfzig und hatte feuerrotes Haar, das sie mit jeder Menge Haarspray zu einer dieser Alte-Frauen-Frisuren zurechttoupiert hatte. Krähenfüße hatten sich tief um ihre Augen eingegraben und ihr Doppelkinn ließ sie noch weitere zehn Jahre älter aussehen. Die herabhängenden, mürrisch wirkenden Mundwinkel rundeten den Gesamteindruck ab. Ihre Körperform glich einer übergroßen Birne, die sie mit einer rostfarbenen Bluse und einer von diesen komischen dehnbaren Hosen verhüllte, die von fetten Frauen auf der ganzen Welt getragen wurden.

»Wer sind Sie?«, fragte sie gereizt.

»Ms. Gwinette? Ich bin Thomas Ironcutter. Ich bin ein Freund von Sheriff Harvey Wilson. Er bat mich, mit Ihnen über Ihren verstorbenen Ehemann zu reden.« Ich versuchte, ein nettes Gesicht aufzusetzen, aber ein richtiges Lächeln wollte mir einfach nicht gelingen. Eigentlich wollte ich nämlich gar nicht hier sein.

»Woher soll ich denn wissen, dass Sie mir die Wahrheit sagen?«, fragte sie mich ängstlich.

Ich schaffte es, die Augen nicht zu verdrehen, zog meine Brieftasche hervor und zeigte ihr meinen Ausweis. »Ich kann gern so lange hier draußen warten, während sie Harvey anrufen und sich das Ganze bestätigen lassen.«

Sie sah mich noch einen Moment lang an, dann entriegelte sie die Fliegengittertür. »Wollen Sie nicht hereinkommen?«, fragte sie mich. Ich nickte und folgte ihr in eine Küche, die wie es schien, seit den Sechzigern nicht mehr renoviert worden war. Arbeitsplatten und Geräte erstrahlten in einem matten Erbsengrün. Ein Hipster wäre beim Anblick des in die Jahre gekommenen Retro-Dekors bestimmt vollkommen von den Socken gewesen. Eine orange getigerte Katze hockte auf der Anrichte, wedelte mit dem Schwanz und starrte mich an. Rhoda bot mir einen Platz am Esstisch an.

»Das ist Tommy Boy«, sagte sie und deutete auf die Katze. »Er ist eine einzige Katastrophe, aber er ist alles, was ich noch habe.« Ich nickte verständnisvoll, während der Kater mich anstarrte – sie wissen schon, so wie Katzen einen eben anstarren, während sie Pläne schmieden, einen umzubringen.

»Ich wollte gerade frischen Kaffee aufsetzen. Hätten Sie gern einen?«

»Das wäre sehr nett.« Hoffentlich bekam ich nicht auch noch eine Handvoll Katzenhaare dazu. Sie nahm die gebrauchte Filtertüte voller Kaffeesatz aus der viel genutzten Mr. Coffee-Maschine, warf sie in einen übervollen Mülleimer und bereitete eine neue Kanne zu. »Mein Mann mochte ihn immer stark. Sie wahrscheinlich auch.«

Dieses Mal lächelte sie mich freundlich an. Das Spiel kannte ich schon. Sie war die Art von Person, die einem erst einmal eine Geschichte erzählen würde, bevor sie endlich zur Sache kam. Ich erinnerte mich an ein Interview in einer Talkshow im Fernsehen. Zu Gast war Anne Rule, eine bekannte Krimi-Autorin von wahren Verbrechensfällen gewesen. Sie hatte über Mörderinnen gesprochen und in diesem Zusammenhang angemerkt, dass Frauen in allem, was sie taten, immer ein Vorspiel benötigten. Eine treffende Beobachtung, die bei mir hängen geblieben war.

Während der Kaffee durch die Maschine lief, setzte sich Rhoda zu mir, zündete sich eine neue Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch über unsere Köpfe hinweg. »Die glauben alle, ich sei vor lauter Trauer durchgedreht, aber mein Mann wurde ermordet, Detective. Wenn es sein muss, nehme ich die Gewissheit mit ins Grab.«

»Erzählen Sie mir von ihm«, ermunterte ich sie. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie mit einer sehr langen Hintergrundgeschichte aufwarten würde, also wollte ich es möglichst schnell hinter mich bringen. Schließlich wollte ich vor Mitternacht wieder zu Hause sein.

»Lester und ich lernten uns 1980 am Weihnachtsabend kennen. Ich arbeitete als Kellnerin in einem Truck Stop. Es war eine kalte Nacht und das Restaurant war so gut wie ausgestorben. Er war schon den ganzen Tag und die ganze Nacht unterwegs gewesen, als er schließlich bei mir eine Pause einlegte.« Eine plötzliche witzige Erinnerung ließ sie auflachen. »Er war wirklich ein großer Redner gewesen … was er alles für Dinge zu mir gesagt hatte. Nach meiner Schicht nahm ich ihn mit zu mir nach Hause, und von da an waren wir zusammen.«

Ihre Augen funkelten, als die Erinnerungen zu ihr zurückkehrten. Während der Kaffee kochte, durchlebte sie schweigend noch einmal die letzten sechsunddreißig Jahre. Ich schwieg, widerstand dem Drang, auf die Uhr zu sehen, und wartete stumm. Dann füllte sie zwei Tassen und schien sich gar nicht daran zu stören, dass ich meine Tasse mit dem Inhalt meines Flachmanns auffüllte. Nach einem tiefen Zug aus ihrer Zigarette fuhr sie fort:

»Die letzten zehn Jahre hat er als Selbstständiger für die Robard Trucking Company gearbeitet.«

Na, wenn mir das mal nicht bekannt vorkam. Ich glaubte nicht unbedingt an Schicksal, aber hier ging definitiv etwas vor sich. »Die Robard Trucking Company?«, versicherte ich mich.

»Jawohl, Sir. Er sprach hin und wieder über die Firma, aber es interessierte mich nicht allzu sehr. Er schien die meiste Zeit über zufrieden mit seiner Arbeit zu sein.« Sie verstummte und neigte ihren Kopf zur Seite.

»In den letzten Jahren begann er allerdings, sich eigenartig zu verhalten. Er erzählte mir immer, wenn er auf eine längere Tour ging, und verriet mir auch, wohin sie ging, außer, wenn er nach Kanada fuhr. Hin und wieder erledigte er nämlich auch Fuhren nach Kanada, hin und zurück. Das waren allerdings keine regelmäßigen Fahrten, und wenn diese an der Reihe waren, erzählte er mir nichts davon. Er sagte dann nur, dass er in ein paar Tagen wieder zurück sein würde. Ich fragte mich immer, warum er so geheimnisvoll tat.« Ein leises Klopfen unterbrach uns. Anna stand plötzlich draußen vor dem Fliegengitter.

»Darf ich reinkommen?«, fragte sie. Rhoda wurde plötzlich nervös.

»Das ist schon okay, Rhoda, sie gehört zu mir.« Rhoda wirkte schlagartig erleichtert und öffnete ihr die Tür. Anna nahm zögernd Platz und Rhoda goss ihr ungefragt einen Kaffee ein.

»Was glauben Sie, warum er Kanada nie erwähnt hat?«, fragte ich Rhoda, als sie wieder am Tisch saß.

»Ich schätze mal, die Kanada-Transporte waren irgendwie illegal, und aus diesem Grund wollte er mir nichts darüber sagen, Detective Ironcutter. Das war seine Art, mich zu beschützen, und vielleicht schämte er sich auch ein wenig, in so einer Sache drinzustecken.«

Erneut folgte eine Pause des Schweigens. Ich bemerkte, wie Anna mich fragend ansah, so als ob sie etwas fragen wollte. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Rhoda sollte mir ihre Geschichte auf ihre Weise erzählen.

»In der letzten Woche seines Lebens veränderte sich dann noch etwas. Er wirkte auf einmal besorgt. Ständig lief er im Haus auf und ab, zündete sich eine Zigarette nach der anderen an, auch wenn die andere noch gar nicht ganz aufgeraucht war. Manchmal wachte er auch mitten in der Nacht auf, lief im Dunkeln durch das Haus und starrte aus dem Fenster. Dann, ein paar Tage vor seinem Tod, kam er plötzlich gut gelaunt von der Arbeit zurück. Er grinste von einem Ohr zum anderen und erklärte mir, dass er sich bald zur Ruhe setzen und wir nach Florida ziehen würden.«

»Besaß er einen Rentenfond, ein Sparbuch oder irgendetwas in der Art?«, erkundigte ich mich.

Sie nickte bedächtig. »Ja, aber das war nicht viel. Lester hatte sein Geld immer in irgendwelche Geschichten gesteckt, bei denen man angeblich schnell reich werden würde, aber das funktionierte natürlich nie.« Sie seufzte. »Aber er schien wirklich aufgeregt zu sein und gab mir das Gefühl, als würde er sehr bald eine Stange Geld verdienen.«

»Besaß er eine Lebensversicherung, Rhoda?« Ich machte mir so meine Gedanken über den guten alten Lester. Hatte er sich umgebracht, damit seine Frau das Geld ausgezahlt bekam?

»Die hatte er, doch sie belief sich nur auf zehntausend Dollar.« Sie sah mich an. Sie wusste ganz genau, worauf ich hinauswollte. »Lester hätte so etwas nicht getan, Detective Ironcutter. Wegen läppischer zehntausend Dollar hätte er sich nicht das Leben genommen. Der Versicherungsvertreter hatte gemeint, dass sie bei einem Selbstmord normalerweise nicht auszahlen würden, aber da Lester schon so lange Kunde bei ihnen gewesen sei, wäre er von dieser Neuregelung ausgenommen. Ich denke aber, sie wollten einfach nur nett sein.«

Ich nickte, aber es war langsam an der Zeit, auf den Punkt zu kommen. »Verraten Sie mir, warum Sie glauben, dass er ermordet worden ist?«

Sie hob die Tasse an ihren Mund, um einen Schluck von dem Kaffee zu trinken, doch der war mittlerweile kalt geworden. Traurig sah sie auf ihn hinunter und stand auf. »Mein Vater nahm sich das Leben, als ich noch jünger war«, sagte sie, schnappte sich ihre Tasse und goss sich Kaffee nach. »Er war ein sehr depressiver Mann. Lester war niemals depressiv. Er mochte es, Laster zu fahren, und er mochte mich. Wir wären nicht über fünfunddreißig Jahre zusammen gewesen, wenn das anders gewesen wäre.«

Da hatte sie nicht ganz Unrecht, aber ich blieb trotzdem skeptisch. »Wie ist er denn gestorben?«

»Durch einen Kopfschuss. Und das ist die andere Sache«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wem die Waffe gehört. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen. Lester hatte eine Pistole bei sich, wenn er fuhr, und er besaß auch eine Schrotflinte, mit der er auf Hasenjagd ging. Die Waffe, die er angeblich benutzt hat, war jedoch keine von beiden.«

Ich trank meinen Kaffee aus und unterdrückte mein Verlangen, mir eine Zigarre anzuzünden. »Das Sheriffs Department hat den Fall untersucht, nicht wahr?« Sie nickte. »Und sie kamen zu dem Schluss, dass es sich dabei um Selbstmord handelte?« Sie nickte erneut. »Gab es denn irgendwelche Zeugen?«

»Nein, Sir.« Sie klang traurig, so als wüsste sie bereits, dass ich ihr nicht glauben würde. »Ich kam nach der Kirche nach Hause und fand ihn.« Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo Anna jetzt saß. »Er lag auf dem Boden. Genau dort.« Anna wurde etwas unruhig. Ich versuchte, keine Miene zu verziehen.

»Noch etwas Kaffee, meine Liebe?«, fragte Rhoda.

»Oh, nein danke«, antwortete Anna, der man ihr Unbehagen darüber, dass sie auf dem gleichen Stuhl saß wie der gute alte Lester, als er sich eine Kugel einfing, deutlich anmerkte. Ich wette, sie wünschte sich in diesem Moment, doch lieber im Wagen geblieben zu sein.

»Da ist noch etwas anderes, Detective Ironcutter«, sagte Rhoda. »Während der Beerdigung brach jemand in unser Haus ein.«

Ich zuckte nonchalant mit den Schultern. »Das kommt leider häufig vor. Man wird während der Trauerzeit von skrupellosen Nachbarn oder Familienmitgliedern bestohlen.«

»Das ist aber gerade das Seltsame daran, Detective. Ich besitze ein paar teure Schmuckstücke, aber davon fehlte nichts. Das ganze Haus wurde durchwühlt, aber augenscheinlich nichts mitgenommen.« Um ihre Aussage zu unterstreichen, drückte sie ihre Zigarette in dem vollen Aschenbecher aus und zündete sich sogleich eine neue an. Ich rieb mir geistesabwesend über das Gesicht und dachte über diese arme alte Frau nach, die einfach nicht akzeptieren konnte, dass sich ihr Ehemann das Leben genommen hatte.

Der nächste Teil würde nicht leicht werden. »Es gibt da noch etwas, worüber wir sprechen müssten, bevor ich weitere Schritte unternehmen kann.«

»Ihr Gehalt«, erwiderte sie trocken.

Ich nickte. »Es gibt Leute, die es für recht hoch halten.«

»Ich habe leider nicht viel. Harvey erwähnte aber, dass Sie alte Autos mögen. Lester besaß einen alten Buick, der seit ein paar Jahren draußen in einer Hütte steht.«

»Und was stimmt damit nicht?«, fragte ich verwundert.

»Soweit ich weiß, ist damit alles in Ordnung. Eines Tages kam er damit an, stellte ihn in der Hütte ab und fuhr ihn seitdem nie wieder.« Für einen kurzen Moment runzelte sie die Stirn. »Irgendetwas an dem Wagen schien ihn zu beunruhigen, aber er sprach nie darüber. Sie können ihn haben, und wenn ich das Haus verkauft habe, sollte ich auch in der Lage sein, Ihnen den Rest bezahlen zu können.« Sie legte ihre Zigarette im Aschenbecher ab und legte zaghaft ihre Hand auf meine. »Manche Leute waren der Ansicht, dass Lester nur ein elender Dummschwätzer war, und vielleicht hatten sie damit sogar recht, aber er war gut zu mir, Detective. Er war gut zu mir.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie stand auf und tat so, als würde sie sich dringend um das schmutzige Geschirr in der Spüle kümmern müssen.

Ich sah Anna an und deutete zur Tür. Gemeinsam liefen wir leise hinaus. Draußen fand ich die Hütte, ein hölzernes Überbleibsel aus alten Zeiten. Bereits ein wenig windschief, sodass sie jeden Augenblick zusammenzufallen drohte. Die Torflügel gingen nach draußen auf. Die Angeln waren stark eingerostet und quietschten protestierend, als ich an ihnen zog, bis die Türen nach einem kurzen Kampf schließlich nachgaben.

Ich lief hinein. Und dann blieb ich wie angewurzelt stehen. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Anna prallte gegen mich und grunzte etwas.

Der Wagen war von einer dicken Staubschicht überzogen, aber ich erkannte ihn trotzdem sofort wieder. Es war ein 1967er Buick Wildcat. Nachdem ich einen Moment lang einfach nur entgeistert dagestanden hatte, lief ich langsam um den Wagen herum. Es wurde bereits dunkel, weshalb ich die Taschenlampe meines iPhones benutzte, um ihn mir genauer ansehen zu können. Ich fand die gespachtelten Stellen, die ich vor Jahren nicht überschliffen bekommen hatte. Ich lief einmal um das Auto herum und kauerte mich dann auf den Boden. Der linke Heckscheinwerfer war kaputt und die beiden runden Löcher darin deutlich zu erkennen.

Langsam richtete ich mich auf, als würde das ganze Gewicht der Welt auf mir lasten. Ich hatte schon vor langer Zeit die Hoffnung aufgegeben, dieses Auto je wiederzusehen, und jetzt stand ich hier und starrte es durch das Halbdunkel hindurch an.

Anna riss mich aus meinen Gedanken. »Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen«, sagte sie vorsichtig.

Damit hatte sie durchaus recht. Ich starrte wirklich einen Geist an. Meine Hand fand ihren Weg in die Tasche meines Jacketts, zog den Flachmann heraus und führte ihn nach oben. Meine andere Hand nestelte an ihm herum, und nachdem sie ihn erfolgreich aufgeschraubt hatte, trank ich den Inhalt der Flasche mit zwei schnellen Schlucken aus.

»Kommen Sie«, sagte ich mit belegter Stimme. »Ich fahre Sie zu Ihrem Wagen zurück.«

Während wir die Hütte verließen, sah ich Rhoda hinter dem Schutz des Fliegengitters stehen, wartend, wie ein kleines Kind, das ängstlich darauf hofft, dass seine Eltern nach Hause kommen.

»Ich übernehme den Fall«, ließ ich sie wissen, dann liefen wir zu meinem Wagen. »Fahren wir«, sagte ich zu Anna und stieg ein. Hastig folgte sie mir.

286,32 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
09 ноября 2020
Объем:
530 стр.
ISBN:
9783958353633
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
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