Читать книгу: «Kartellrecht und Ökonomie», страница 17

Шрифт:

β) Hypothetischer Monopolistentest

Zur Beurteilung der Nachfragesubstitution führt die Bekanntmachung der Kommission zusätzlich den aus dem amerikanischen Anti-Trust-Recht übernommenen hypothetischen Monopolistentest in seiner Ausprägung als sog. SSNIP-Test (Small but significant non-permanent increase in price-Test) an. Um die Produkte, die im gleichen relevanten Markt liegen, bestimmen zu können, sei ein gedankliches Experiment durchzuführen, „bei dem von einer geringen, nicht vorübergehenden Änderung der relativen Preise ausgegangen und eine Bewertung der wahrscheinlichen Reaktion der Kunden vorgenommen“217 werde. Festzustellen sei dann, ob der mit der angenommenen kleinen, bleibenden Erhöhung der relativen Preise um 5–10 % einhergehende Absatzrückgang aufgrund des Ausweichens der Kunden auf leicht verfügbare Substitute den durch die hypothetische Preiserhöhung erzielten Gewinn aufzehrte und damit die Preiserhöhung nicht mehr einträglich wäre.218 In einem solchen Fall wären weitere Produkte (bzw. Gebiete) in die Prüfung mit einzubeziehen, bis die gedachte Preiserhöhung profitabel wäre. Wichtig erscheint, dass – anders als nach der oben (S. 89–93) wiedergegebenen amerikanischen Variante des SSNIP-Tests – nicht darauf abgestellt wird, ob ein gewinnmaximierender Monopolist den Preis tatsächlich um 5–10 % erhöhen würde: Denkbar ist, dass eine Preiserhöhung um 5–10 % noch profitabel wäre, der gewinnmaximierende Preis aber bereits bei einer Erhöhung um z.B. 3 % erreicht würde. Nach der referierten US-amerikanischen Spielart des Tests wäre der Markt in einer solchen Situation noch nicht zutreffend abgegrenzt, vielmehr durch Hinzunahme der Produkte und Gebiete zu bestimmen, bei denen der gewinnmaximierende Preis im Bereich einer Erhöhung von (wenigstens) 5 % läge. Dagegen könnte nach dem in der Kommissionsbekanntmachung vertretenen Ansatz der Markt bereits als zutreffend abgegrenzt gelten, sobald eine Preiserhöhung um 5–10 % profitabel wäre.

Anwendungspraxis. Die aus dem Jahr 2001 datierende Entscheidung CVC/Lenzing219 betrifft die Frage des Produktmarktes von Kunstspinnfasern für textile und nicht-textile Verwendung. Zur Anwendung des SSNIP-Tests führte die EU-Kommission zunächst eine umfassende Marktuntersuchung durch. Befragt wurden sowohl direkte wie indirekte Kunden der Parteien als auch die Parteien selbst sowie deren Wettbewerber. Mittels Fragebögen sollten so die maßgeblichen nachfrager- sowie anbieterseitigen Daten ermittelt werden.220 Weitere Beispiele für die Generierung von Daten durch Befragung der Marktteilnehmer finden sich in mehreren anderen Entscheidungen.221 Zur Frage der Repräsentativität solcher Marktuntersuchungen nahm die Kommission im Fall CVC/Lenzing den Standpunkt ein, dass eine Rücklaufrate von über 50 % sowohl hinsichtlich der absoluten Zahl der befragten Unternehmen als auch der von ihnen generierten Umsätze als Grundlage der weiteren Analyse ausreichend sei.222

Dass Marktbefragungen nicht stets zuverlässige Ergebnisse generieren, wird in der Entscheidung Südzucker/ED&F Man besonders deutlich. Im Rahmen der räumlichen Marktabgrenzung ging die Kommission der Frage nach, inwieweit industrielle Zuckerabnehmer, die ihren Bedarf typischerweise national auf dem italienischen Zuckermarkt deckten, im Falle einer 5–10 %igen Preiserhöhung auf ausländische Bezugsquellen ausweichen würden. Die Mehrheit der Nachfrager gab an, dass sie im Falle einer 5–10 %igen Preiserhöhung Zucker auch von ausländischen Anbietern beziehen würden. Diese Angabe stand jedoch in deutlichem Widerspruch zum vergangenen Verhalten der betroffenen Unternehmen, da in den vorangegangenen fünf Jahren in Italien bereits signifikante Preiserhöhungen von mehr als 5–10 % erfolgt waren und die große Mehrheit der Nachfrager dennoch nicht auf ausländische Bezugsquellen ausgewichen war.223

Um zwei Produkte als Substitute ansehen zu können, muss nach Ansicht der Kommission der Nachfrager den Wechsel von dem einen Produkt zum anderen, z.B. wegen eines kleinen, aber signifikanten, nicht nur vorübergehenden Preisanstiegs, in relativ kurzer Zeit als realistisch und rational möglich ansehen; bei ökonomischer und technischer Betrachtung müssen beide Produkte jeweils als sinnvolle Alternative zum anderen erscheinen.224

Die Ermittlung des Nachfragerverhaltens in Reaktion auf die hypothetische Preiserhöhung stellt jedoch nur den ersten Schritt des SSNIP-Tests dar. Die Beurteilung der Profitabilität der gedachten Preiserhöhung als zweiten Schritt des Tests erfolgt durch die Kommission oft nur kursorisch. Im Fall CVC/Lenzing wird zwar bei der Betrachtung der Kostensituation die Entwicklung der Fixkosten sowie der variablen Kosten erwogen, jedoch nur in recht allgemeiner Weise.225 Die Kommission stellt lediglich fest, dass ein Absatzrückgang von 10–15 % als Reaktion auf eine 10 %ige Preiserhöhung für Lyocell-Fasern nicht zur Annahme der Unprofitabilität der Preiserhöhung führen könne, und bleibt damit eine genaue Analyse schuldig.226

In der Entscheidung New Holland/Case227 zieht die Kommission bei der Abgrenzung des Marktes für leichte Baumaschinen ebenfalls ergänzend den SSNIP-Test heran, ohne das Ergebnis des Tests jedoch näher zu belegen. Es findet sich allein der Hinweis, dass die Nachforschungen der Kommission den Schluss zuließen, eine hypothetische kleine und nicht nur vorübergehende Preiserhöhung führe nicht zu einem Wechsel der Abnehmer auf andere einzelne Produktgruppen von leichten Baumaschinen in einem die Profitabilität der Preiserhöhung in Frage stellendem Maße.228 Insgesamt sei daher nicht von einem gesamten Markt für leichte Baumaschinen, sondern von insgesamt fünf Einzelmärkten auszugehen.229

Anders als von Dritten im Verfahren Exxon/Mobil230 vorgebracht, hat die Kommission in diesem Fall einen gemeinsamen Markt für Erdgas insgesamt angenommen und nicht nach Gas mit niedrigem (LCV, low calorific value) und solchem mit hohem (HCV, high calorific value) Brennwert unterschieden. Zu diesem Ergebnis gelangte die Kommission aufgrund der nachfrageseitigen Substitution: Eine 5–10 %ige Preiserhöhung von LCV Gas wäre in Ansehung der Tatsache, dass die Abnehmer von LCV zu HCV Gas wechseln könnten, unprofitabel.231 Es werden zwar im Zusammenhang mit der Versorgung einzelner Haushalte mit Erdgas kalkulatorische Erwägungen angestellt, jedoch stellen sie lediglich den finanziellen Anreiz und die Profitabilität eines Wechsels von LCV auf HCV Gas durch die Versorger der Haushalte bei einer hypothetischen Preiserhöhung des Preises für LCV Gas um 5 bzw. 10 % dar.232 Der von der Kommission daraus gezogene Schluss, dass eine Preiserhöhung um 5–10 % wegen des Wechsels der Versorgungsunternehmen unprofitabel sei, erscheint daher nicht folgerichtig.233

In ähnlicher Weise schließt die Kommission im Fall Astra Zeneca/Novartis234 aus der kalkulatorischen Vorteilhaftigkeit der weiteren Verwendung von auf Strobilurin basierenden Getreide-Fungiziden auf die Profitabilität einer angenommenen 5–10 %igen Preiserhöhung des alle Strobilurin-Getreide-Fungizide kontrollierenden hypothetischen Monopolisten.235 Im Ergebnis lässt die Kommission die Frage nach einem eigenständigen Markt für Strobilurin-Getreide-Fungizide jedoch offen und unterstellt einen alle Getreide-Fungizide umfassenden Markt.236

Maßgeblich für die Beurteilung ist die Reaktion derjenigen Kunden, die infolge einer Preiserhöhung zuerst auf das Substitut ausweichen würden, nicht dagegen das Verhalten der aufgrund starker Präferenzen oder aus anderen Gründen nicht wechselbereiten oder -fähigen Abnehmer. Auch wenn die große Mehrheit der Kunden unverlierbar ist, kann eine Gruppe der sich an der Grenze zum Wechsel befindenden Kunden, die sog. marginalen Kunden, eine Preiserhöhung unrentabel machen, wie dies im Fall TKS/ITW Signode/Titan237 der Fall war: Hier war zu entscheiden, ob Umreifungsbänder zur Verpackung aus Stahl oder aus Kunststoff zum selben Markt zu rechnen sind. Obwohl für einen Teil der Anwendungsbereiche (wenn Hitzebeständigkeit gefordert ist) die Kunden nicht auf PET-Umreifungsband ausweichen können, sie also unverlierbar sind, ist der Markt weiter zu fassen, insbesondere wenn eine Preisdiskriminierung – wie in diesem Fall zwischen hitzebeständiger und übriger Anwendung – nicht durchführbar erscheint.238

Dass ökonomischen Methoden und explizit dem SSNIP-Test in einigen Fällen von der Kommission hohes Gewicht beigemessen wird, macht u.a. die Entscheidung RAG/Degussa239 deutlich, in der trotz möglicher Aufwärtskompatibilität von Beton-Zusätzen (d.h. trotz Austauschbarkeit aufgrund von Produktcharakteristika) mangels schlüssiger Darlegung einer ökonomisch realisierbaren Substitution mit Bezugnahme auf den SSNIP-Test ein gemeinsamer Markt der verschiedenen Betonzusätze verneint wurde.240

Wenn auch in der überwiegenden Zahl von Fällen eine konkrete Entscheidung über die Marktabgrenzung offen bleibt, werden oft einzelne Aspekte des SSNIP-Tests aufgegriffen. Im Fall Barilla/Kamps241 stellte die Kommission fest, die Marktanalyse habe ergeben, dass ein hypothetischer Monopolist eine dem SSNIP-Test entsprechende Preiserhöhung für Knäckebrot profitabel durchführen könne, weshalb Knäckebrot einen separaten Produktmarkt bilden könne.242 Letztlich kam es für die Entscheidung über den Zusammenschluss von Barilla und Kamps jedoch nicht auf eine genaue Marktabgrenzung an, da der beabsichtigte Zusammenschluss unter jeder denkbaren sachlichen Marktdefinition ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem gemeinsamen Markt hervorrief; die Entscheidung, ob aufgrund des SSNIP-Tests ein eigener Markt für Knäckebrot anzunehmen war, wurde daher offengelassen.243

Beispiel für ein häufig auftretendes Problem in Verbindung mit der Anwendung des SSNIP-Tests ist der Fall Carnival Corporation/P&O Princess,244 in dem zu entscheiden war, ob der relevante Produktmarkt als derjenige für Urlaubsreisen allgemein oder lediglich als der für – von den Parteien angebotenen – Kreuzfahrtreisen anzusehen war. Die Kommission führte hierzu eine Mehrzahl von Anhaltspunkten für die Trennung der Kreuzfahrtreisen von übrigen Urlaubsreisen an und gelangte im Ergebnis zu dieser engeren Marktabgrenzung. Gleichzeitig bemerkte sie jedoch, dass es ihr nicht möglich gewesen sei, Datenmaterial zu akquirieren, anhand dessen quantitative Tests zur Bestimmung der sachlichen Marktgrenzen, so v.a. der SSNIP-Test durchzuführen wären.245

Schließlich ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die Kommission dem SSNIP-Test keine gegenüber anderen Konzepten vorrangige Bedeutung beimisst. Dies wird an der Entscheidung im Fall Virgin/British Airways246 indirekt deutlich. British Airways kritisierte hier, dass sich die Kommission zur Bestimmung des relevanten Produktmarktes nicht auf den SSNIP-Test stütze und damit von ihren eigenen Leitlinien abweiche.247 Hierzu stellte die Kommission fest, dass die Bekanntmachung nur beschreibe, wie die Kommission den sachlich relevanten Markt anhand von Produkteigenschaften, Substitution in der Vergangenheit etc. bestimme und der SSNIP-Test lediglich im Zusammenhang mit der Erläuterung des Begriffes des relevanten Marktes Erwähnung finde, sodass ihm offensichtlich keine alleinige Kompetenz zur Bestimmung von Produktmärkten zukomme.248 Dementsprechend hat die Kommission im Fall Norddeutsche Affinerie/Cumerio aufgrund der hohen angebotsseitigen Substituierbarkeit zweier Arten von Kupfergusserzeugnissen einen einheitlichen Markt angenommen, obgleich die überwiegende Mehrheit der Kunden erklärte, dass sie im Falle einer 5–10 %igen Preiserhöhung nicht auf die andere Art ausweichen würden.249

Auch bei der Abgrenzung von Märkten in geographischer Hinsicht zieht die Kommission neben anderen Methoden den SSNIP-Test heran. Der räumlich relevante Markt für Haarpflegeprodukte des Einzelhandels wurde in der Entscheidung Procter & Gamble/Wella250 mitunter deshalb als national angesehen, weil bei einer 5–10 %igen Preiserhöhung die meisten Großhandelskunden ihren Bedarf nicht über das Ausland decken würden.251 Zu dieser Auffassung gelangt die Kommission im Gegensatz zu den von den Parteien vorgebrachten Untersuchungen; Procter & Gamble bezeichnete die räumlich relevanten Märkte selbst als Clustermärkte, z.B. Norwegen, Schweden und Dänemark als einen Markt. Eine 5–10 %ige Preiserhöhung in Norwegen könne nicht profitabel durchgesetzt werden, da in einem solchen Fall die Kunden nach Dänemark oder Schweden ausweichen würden. Jedoch spricht die Kommission dieser Analyse die Überzeugungskraft ab, da die untersuchten Produkte nicht in allen Ländern des Clusters verfügbar seien.252 In der Entscheidung Ineos/Kerling253 umfasste die ausführliche Analyse des relevanten räumlichen Marktes auch eine Critical Loss Analysis (CLA),254 mittels derer die Profitabilität einer kleinen, aber signifikanten und nicht-vorübergehenden Preiserhöhung untersucht wurde. Allerdings war diese ökonometrische Schätzung letztlich nicht verlässlich genug, um einen hinreichenden Nachweis für eine bestimmte Marktabgrenzung zu erbringen.255 Die Kommission untersuchte daher auch die Auswirkungen eines Werksausfalls auf die Entwicklung der abgesetzten Menge, der Preise und der Gewinnspannen. Da die Gewinnspannen der anderen Produzenten in dem kleinsten denkbaren relevanten Markt nicht gestiegen waren, indizierte dieses natürliche Experiment einen weiteren räumlich relevanten Markt.256

Zeitlicher Rahmen des SSNIP-Tests. Gemäß der Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes sind bei der Anwendung des SSNIP-Tests im Rahmen der Nachfragesubstituierbarkeit die Produkte oder Gebiete in die Prüfung einzubeziehen, deren Wettbewerbsdruck „das Preisgebaren der Parteien kurzfristig beeinflusst oder beschränkt“.257 In der Entscheidung Mitsumi/CVRD/Caemi258 definierte die Kommission bei der Frage des Marktes für verschiedene Arten von Eisenerz diese kurzfristige Zeitspanne als einen Zeitraum von zumindest einem Jahr.259

b) Deutsches Recht
α) Bedarfsmarktkonzept

Traditionell erfolgt die sachliche Marktabgrenzung im deutschen Recht nach dem sog. Bedarfsmarktkonzept, das auf die funktionelle Austauschbarkeit der Produkte abstellt. Dieses zunächst im sog. Handpreisauszeichner-Beschluss260 des Kammergerichts angewandte Konzept fasst alle Waren oder gewerblichen Leistungen zu einem Markt zusammen, „die sich nach ihren Eigenschaften, ihrem wirtschaftlichen Verwendungszweck und ihrer Preislage so nahestehen, dass der verständige Verbraucher sie als für die Deckung eines bestimmten Bedarfs geeignet in berechtigter Weise abwägend miteinander vergleicht und als gegeneinander austauschbar ansieht“.261 Es können hierbei auch mehrere Märkte für ein konkretes Produkt bestehen.

So hat das Kammergericht im Fall Kfz-Kupplungen262 zwischen einem Erstausstattungsmarkt und einem Ersatzteilmarkt für Kupplungsteile unterschieden. Das Schwergewicht müsse bei der Prüfung nicht dem abschließenden Verwendungszweck, sondern dem Abnehmerkreis beigemessen werden, da sich unterschiedliche Abnehmer für den Hersteller wesentlich anders darstellten.263 Verwiesen wird hierzu auch auf die Entscheidung Registrierkassen,264 wonach bei einer Nachfrage auf unterschiedlichen Stufen (Verbraucher, Zwischenhändler, Wartungs- und Reparaturbetriebe) unterschiedliche Märkte anzunehmen seien: „[U]nter dem Gesichtspunkt der Bedarfsdeckung ist nicht allein die Beschaffenheit einer Ware an sich maßgebend, sondern jeweils vom Bedarf der Marktgegenseite auszugehen, der je nach der Wirtschaftsstufe, der die Nachfrageseite angehört, verschieden sein kann.“265 Die Bestimmung der funktionellen Austauschbarkeit ist nach Ansicht des BGH – grundlegend ist die Entscheidung Vitamin-B–12266 – aus Sicht der Verbrauchsdisponenten zu bestimmen; dies zwar nicht durch lediglich oberflächliche und nur flüchtige Verbraucherauffassung, jedoch durchaus „‚ohne größeres Nachdenken‘ bzw. ‚ohne größere Überlegung‘“267; im konkreten Fall der Verschreibung hochdosierter Vitamin-B–12-Präparate komme es daher „nicht auf die wissenschaftlich begründeten Indikationen der in Frage stehenden Arzneispezialitäten, sondern vielmehr auf die tatsächlich bestehenden Verschreibungsgewohnheiten der niedergelassenen Ärzte“268 an. Dies wurde jedoch kurze Zeit später im Fall Valium269 insofern relativiert, als auf die subjektiven Verschreibungsgewohnheiten nur zurückgegriffen werden solle, wenn nicht sich aus pharmakologisch-wissenschaftlicher Sicht ergebende objektive Gesichtspunkte zu einer Klärung führten.270

Weitere Entscheidungen der deutschen Rechtsprechung berufen sich zur sachlichen und räumlichen Marktabgrenzung immer wieder allein auf die funktionelle Austauschbarkeit von Produkten und Dienstleistungen und wenden so weiterhin das auf den Handpreisauszeichner-Beschluss271 zurückgehende Bedarfsmarktkonzept mit seinen ökonomisch fragwürdigen Implikationen (hierzu oben S. 86–89) an. So nimmt das OLG Düsseldorf im Beschluss Tagesspiegel/Berliner Zeitung II272 getrennte sachlich relevante Märkte für lokale Abonnement-Tageszeitungen, überregionale Tageszeitungen und Straßenverkaufszeitungen an, da diese jeweils „unterschiedlichen Leserbedürfnissen dien[t]en und sie dementsprechend aus der Sicht der Nachfrager nicht als funktionell austauschbar angesehen [würden]. Regionale Abonnement-Tageszeitungen befriedig[t]en das spezifische Bedürfnis des im Verbreitungsgebiet der Zeitung wohnenden Lesers [...]. Im Vergleich zu den Straßenverkaufszeitungen [wiesen] die regionalen Abonnement-Tageszeitungen in der Breite und Tiefe der Berichterstattung, in der Art der Darstellung sowie in den Nachrichten- und Berichtsschwerpunkten wesentliche Unterschiede auf. Sie deck[t]en von daher zumindest aus der Sicht eines wesentlichen Teils der Leser einen anderen Bedarf [...] und gehör[t]en folglich zu einem eigenen sachlichen Lesermarkt. [...] Gerade diese Verschiedenheiten begründe[te]n indes die mangelnde funktionelle Austauschbarkeit von regionalen Abonnement-Tageszeitungen und Straßenverkaufszeitungen“.273 Wegen der bestehenden inhaltlichen und qualitativen Unterschiede zwischen Presseerzeugnissen verschiedener Produktmärkte sei auch nicht ersichtlich, inwiefern eine schnelle und mehr oder weniger kostenneutrale Produktumstellung von Straßenverkaufszeitungen auf eine regionale Abonnement-Tageszeitung möglich sein solle.274

Die Ausschließlichkeit des Merkmals der funktionellen Austauschbarkeit wurde vom BGH darüber hinaus in dem Beschluss Backofenmarkt275 herausgestellt: Für die sachliche Marktabgrenzung sei „allein die funktionelle Austauschbarkeit der Produkte aus Sicht der Marktgegenseite“276 entscheidend.

Im Fall Philipp Holzmann/Hochtief277 hat das Kammergericht für den Fall, dass das Bedarfsmarktkonzept zur Erfassung und Gewichtung von Wettbewerbsbeziehungen ungeeignet sei, eine Modifikation vorgenommen; zur Findung anderer Bewertungsmaßstäbe könne „grundsätzlich auch eine Marktabgrenzung nach Größenkriterien in Betracht kommen“.278 Im konkreten Fall ging es um die Abgrenzung von Märkten für Bauleistungen. Aufgrund der Vielfältigkeit der angebotenen und nachgefragten Bauleistungen sah das Kammergericht Anhaltspunkte für eine größenmäßige Abgrenzung des Marktes, wenn es auch eine strikte Größenschwelle, wie das Bundeskartellamt sie angenommen hatte, für bedenklich hielt, da die behauptete Kompetenzzäsur nicht voll bestätigt werden könne.279

Im Rahmen der Anwendung des Bedarfsmarktkonzepts soll nach einzelnen Entscheidungen auch eine anbieterseitige Beurteilung erfolgen und die Produktions- und Angebotsumstellungsflexibilität Eingang in die Abgrenzung des Marktes finden (hierzu aus ökonomischer Sicht oben S. 98–101). So stellte der BGH in seinem Beschluss Staubsaugerbeutelmarkt280 die Frage, ob ein Hersteller von Staubsaugerbeuteln, „der bislang ein Marktsegment bedient [...], zur Erzielung eines besseren Preises bereit und in der Lage ist, seine Produktion kurzfristig umzustellen, um das andere Segment zu bedienen [...]“.281 In der Entscheidung National Geographic II präzisierte der BGH dies mit der Formulierung, Angebotsumstellungsflexibilität könne im Rahmen der Marktabgrenzung Berücksichtigung finden, „wenn die Anbieter bereit und in der Lage sind, ihre Produktion kurzfristig und mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand umzustellen“.282

Auch das Bundeskartellamt wendet das Kriterium der Angebotsumstellungsflexibilität regelmäßig an.283 So erörterte es in GoodMills/Erwerb der Mehlmarken „Diamant“ und „Goldpuder“ von PMG die Angebotsumstellungsflexibilität von Anbietern konventionellen Mehls in Bezug auf das Angebot von Bio-Mehl.284 In EDEKA/Kaiser’s Tengelmann diskutierte das Bundeskartellamt die Angebotsumstellungsflexibilität der Hersteller im Rahmen der Abgrenzung des Beschaffungsmarkts. Dabei differenziert das Bundeskartellamt zwischen einer rein technisch vorhandenen Umstellungsflexibilität und der Wirtschaftlichkeit einer solchen Umstellung. Es gehe „nicht nur um die Frage, inwieweit die gleichen Produktionsanlagen bei der Herstellung verwendet werden können. Vielmehr ist darüber hinaus auch die unternehmerische Grundausrichtung des Unternehmens in die Bewertung der Umstellungsflexibilität einzubeziehen. Diese kann der Wirtschaftlichkeit einer Umstellung entgegenstehen“.285 Entscheidend seien insoweit die wirtschaftlichen Anreize für eine Umstellung, gerade auch im Hinblick auf die Verhandlungsmacht des Abnehmers (hier des Handelsunternehmens).286

In Funke Mediengruppe/Programmzeitschriften der Axel Springer SE setzte sich das Bundeskartellamt ausführlich mit der Angebotsumstellungsflexibilität als Kriterium der sachlichen Marktabgrenzung auseinander. Konkret ging das Bundeskartellamt der Frage nach, ob neben entgeltlichen Programmzeitschriften auch allgemeine Publikumszeitschriften in den Markt miteinzubeziehen sind. In diesem Kontext erörterte das Amt u.a. die Angebotsumstellungsflexibilität und kam zu dem Ergebnis, dass die für die Herausgabe einer Programmzeitschrift erforderlichen Daten einen wesentlichen Hinderungsgrund darstellen. Die Daten von allein in Deutschland bis zu 400 Fernsehsendern müssten aufbereitet werden, was „nicht ohne Aufwand und nicht ohne zeitlichen Vorlauf“ möglich sei. Zudem seien die Kosten des Betriebs einer Programmredaktion „am Anfang deutlich höher als die eines etablierten Anbieters“, da 90 % der Ausstrahlungen Wiederholungen seien, sodass etablierte Anbieter auf ältere Inhalte eigener Datenbanken zurückgreifen können.287

In seinem Total/OMV-Beschluss stellte der BGH erneut ausschließlich auf das Bedarfsmarktkonzept ab. Inhaltlich betraf die Entscheidung die Abgrenzung den Produktmarkt im Bereich von Otto- und Dieselkraftstoffen. Diese seien aus Nachfragersicht aufgrund der vorgelagerten Systementscheidung für eines der beiden Betriebsmittel nicht austauschbar. Eine Korrektur über das Kriterium der Angebotsumstellungsflexibilität lehnte der BGH vorliegend ab.288

Auch in Bezug auf die räumliche Marktabgrenzung wird von der Rechtsprechung allein die funktionelle Austauschbarkeit zur Abgrenzung herangezogen.289 So führte das OLG Düsseldorf im Beschluss Tagesspiegel/Berliner Zeitung II290 aus, „eine regional orientierte Abonnement-Tageszeitung [...] [werde] nur von den in ihrem Verbreitungsgebiet ansässigen Lesern als eine geeignete Informationsquelle über regionale und lokale Ereignisse angesehen und nachgefragt“.291 Insbesondere sieht das Gericht in dieser Entscheidung keine Veranlassung dazu, das Bedarfsmarktkonzept dahingehend zu modifizieren, dass auch auf die Angebotsumstellungsflexibilität abzustellen sei. Eine Modifikation sei schon allein deshalb nicht erforderlich, da „an Hand des Kriteriums der funktionellen Austauschbarkeit das Nachfrageverhalten auf dem von der Fusion betroffenen Lesermarkt verlässlich festgestellt werden [könne] und sich deshalb auch die Wettbewerbsverhältnisse auf dem relevanten Angebotsmarkt zuverlässig und realistisch erfassen [ließen]“.292

Im Fall Sanacorp/ANZAG293 ging es um die räumliche Abgrenzung des Marktes der Belieferung von Apotheken durch Pharmagroßhändler. Das OLG Düsseldorf griff hier zunächst auf eine Radiusbetrachtung zurück, indem es den räumlich relevanten Markt als „dasjenige Gebiet, welches der Großhändler [...] aus Kostengesichtspunkten sowie nach dem Kriterium logistischer Optimierung bedienen [...] kann“,294 definierte und wegen fehlender anderweitiger aussagekräftiger Abgrenzungskriterien einen Radius von 150 km um jede einzelne Großhandelsniederlassung als räumlich relevanten Markt annahm.295 Diese Abgrenzung wurde vom BGH gerügt: Zwar sei richtig, dass zur Abgrenzung des räumlichen Marktes das Bedarfsmarktkonzept angewandt und geprüft wurde, „welche Pharmagroßhändler aus der Sicht der Apotheker, die im Versorgungsgebiet der jeweiligen Niederlassung [...] liegen, zur Deckung ihres Bedarfs in Betracht kommen, also eine Ausweichmöglichkeit gegenüber einer Belieferung [...] bieten“296; jedoch werde die vorgenommene Radiusbetrachtung dem tatsächlichen Liefergebiet nicht gerecht. Dieses sei als ein um bis zu einem Faktor zehn kleineres mehr rechteckiges als kreisförmiges Gebiet anzusehen, da „nicht überall innerhalb des [...] Radius [...] mit gleicher Intensität von Apotheken nachgefragte Produkte [...] ausgeliefert [würden]“.297 Der BGH verwies die Sache zurück an das OLG Düsseldorf mit der Forderung nach genauerer Untersuchung der tatsächlichen Lieferpraxis. Das OLG ermittelte daraufhin, dass die Apotheken beim Großhändler in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle drei Auslieferungen pro Tag nachfragen. Aus dieser Lieferfrequenz folgerte das Gericht, dass jede Auslieferung in einem Zeitrahmen von 2,5 Stunden ausgeführt werden müsse. Diese dem Großhändler zur Verfügung stehende Fahrzeit wiederum definiert nach den Ausführungen des OLG den räumlichen Bereich, der vom Niederlassungsstandort aus versorgt werden könne und damit den räumlichen Markt, der – entgegen der Einschätzung des BGH – letztlich doch so weit ausgedehnt lag wie ursprünglich vom OLG angenommen.298 In der nachgehenden Praxis des Bundeskartellamtes liegt der Fokus daher zwar auf den tatsächlichen Gegebenheiten, immer wieder jedoch betont die Behörde, dass für die Marktabgrenzung nach dem Bedarfsmarktkonzept die Ausweichmöglichkeiten der Gegenseite maßgeblich seien. So beschränkte sich der räumlich relevante Markt in Pfeifer und Langen/Zuckerfabrik Jülich nicht auf das Gebiet, innerhalb dessen Zucker von den Abnehmern tatsächlich bezogen wurde, sondern erstreckte sich auf das Gebiet, innerhalb dessen den Abnehmern der Bezug von Zucker bei wirtschaftlicher Betrachtung möglich war.299 In den Entscheidungen zu Zusammenschlüssen in der Müllentsorgungsbranche Alba/RWE-MV, Sulo/Cleanaway und Remondis/SAS Schwerin wurden dementsprechend umfassende Ausschreibungsanalysen vorgenommen, um die möglichen Standorte erfolgreicher bzw. erfolgversprechender Gebote zu ermitteln.300 Auch die Entscheidungen Uni-Klinikum Freiburg/Herz-Zentrum Bad Krozingen und Gesundheit Nordhessen/Gesundheitsholding Werra-Meißner-Kreis belegen die gestiegene Prüfungsdichte in der räumlichen Marktabgrenzung. Das Bundeskartellamt nahm zur Ermittlung der räumlich relevanten Märkte für akutstationäre Krankenhausdienstleistungen eine umfangreiche Analyse der Einzugsgebiete der in Frage stehenden Krankenhäuser vor und definierte anschließend diejenigen Gebiete als räumlich relevanten Markt, die durch eine hohe Eigenversorgungsquote gekennzeichnet waren.301 Ebenso verzichtete das Bundeskartellamt in der Entscheidung Shell/Lorenz Mohr bei der Abgrenzung der räumlich relevanten Tankstellenmärkte auf eine starre Radiusbetrachtung. Es bestimmte stattdessen mithilfe des sog. Erreichbarkeitsmodells, welche Tankstellen innerhalb von 60 Minuten erreicht werden können und fasste diese zu einem räumlich relevanten Markt zusammen.302 Zuletzt nahm das Bundeskartellamt auch in CTS Eventim/SCORPIO Konzertproduktionen zur räumlichen Marktabgrenzung bei Musikfestivals eine detaillierte Analyse (u.a. anhand der Postleitzahlen) der räumlichen Einzugsgebiete der Festivalbesucher vor.303

Noch im Backofenmarkt-Beschluss304 von 1995 nahm der BGH eine Begrenzung des räumlich relevanten Marktes auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vor. Der allgemeine Gesetzeszweck des GWB, einen Zusammenschluss zu untersagen, wenn im Inland eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird, gebiete es, den räumlichen Markt „normativ auf das Inland als den größtmöglichen räumlich relevanten Markt“305 zu beschränken. Zusätzlich wurden zur Unterstützung dieser Beschränkung auf das Inland praktische Gründe, nämlich die eng begrenzten Ermittlungsbefugnisse des Bundeskartellamtes im Ausland, angeführt. Auch noch nach Inkrafttreten der 6. GWB-Novelle wurde hieran zunächst festgehalten. § 130 Abs. 2 GWB beschränke den Anwendungsbereich des Kartellgesetzes ausdrücklich auf solche Wettbewerbsbeschränkungen, die sich im Inland auswirkten, sodass der räumlich relevante Markt allenfalls das Inland umfassen könne.306 Im Fall Dürr/Alstom307 beschränkte das Bundeskartellamt den räumlich relevanten Markt auf das Inland, obwohl bei der vorgenommenen wirtschaftlichen Betrachtung ein viel größeres Gebiet als räumlich relevanter Markt anzunehmen war.308 Hiergegen wendet sich der BGH nun aber im Beschluss Staubsaugerbeutelmarkt.309 Eine normative Begrenzung des räumlich relevanten Marktes sei nicht mehr tragbar, „denn die räumlichen Grenzen eines Marktes [ließen] sich allein nach ökonomischen und nicht nach rechtlichen Kategorien bemessen. Im europäischen Binnenmarkt, in dem die nationalen Grenzen keine Marktzutrittsschranken mehr bilde[te]n und sich deswegen die räumlich relevanten Märkte unabhängig von den Staatsgrenzen zwischen den Mitgliedstaaten entwickel[te]n, [sei] eine solche mit der ökonomischen Wirklichkeit nicht in Einklang stehende künstliche Grenze besonders unbefriedigend“.310 Zwar müsse ein Zusammenschluss nach wie vor im Geltungsbereich des GWB eine marktbeherrschende Stellung entstehen lassen oder verstärken, hierzu sei jedoch gerade keine normative Begrenzung des räumlich relevanten Marktes erforderlich, da auch in jedem Teilbereich eines über die Grenzen eines Landes hinausgehenden Marktes, in dem eine marktbeherrschende Stellung erlangt werde, eine solche beherrschende Stellung vorliege.

10 674,42 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
1472 стр. 55 иллюстраций
ISBN:
9783800593453
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Хит продаж
Черновик
4,9
453