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Kapitel 7


Die Tapferkeit der Kelten erklärt sich durch ihren ausgeprägten Unsterblichkeitsglauben und den Glauben an die Seelenwanderung.

– Caesar, de Bello Gallico, VI 14 –

Lieber hätte Tilla die Asche ihrer Mutter zu einem heiligen Ort der Kraft irgendwo in der Nähe gebracht, am liebsten zum Elfenstein. Sie wusste, ihre Mutter hatte den Elfenstein geliebt, aber der Friedwald im Südharz war eine wirklich schöne Alternative. So folgte Tilla der Bundesstraße nach Bad Sachsa in gedrückter Stimmung. Sie fühlte sich unendlich allein.

Es hatte sie gleichzeitig verstört und mit Ärger erfüllt, als sie einige Tage zuvor erfuhr, dass ihre Mutter ihre eigene Beerdigung bis hin zur Auswahl des Baumes, an dessen Wurzeln ihre Asche beigesetzt werden sollte, selbst vororganisiert und bezahlt hatte. Astrid Volkers, mit der ihre Mutter zusammen aufgewachsen war, hatte sie über diesen Umstand informiert. Seither fragte sich Tilla unaufhörlich, ob ihre Mutter ihren Tod geahnt oder womöglich doch geplant hatte?

»Nein!«, schrie Tilla trotzig auf und schlug auf ihr Lenkrad. Der Fahrer eines silbergrauen Wagens überholte sie mit röhrendem Motor und bedachte Tilla mit aggressiven Gesten. Vermutlich klebte der arme Mann seit Braunlage hilflos hinter ihrem Auto, das Tilla unter der Last wild strudelnder Gedanken viel zu langsam über den Harz steuerte.

Endlich erreichte sie ihr Ziel und bog auf den bereits erstaunlich vollen Waldparkplatz ab. Widerstrebend stieg Tilla aus und schritt langsam auf Astrid zu, die sich mit einer Frau in Förstergrün unterhielt.

»Tilla-Liebes, schön, dass du schon da bist.«

Herzlich nahm die Ältere Tilla in den Arm, die sich sofort an der Freundin ihrer Mutter festklammerte.

»Oh Astrid, ich komme mir so nutzlos vor … auch ein bisschen ausgeschlossen. Ich wusste gar nichts von all dem hier.«

Tilla versuchte den Vorwurf ihres letzten Satzes mit einem Lächeln zu übertünchen. Astrid strich ihr über die Wange. Tilla wandte sich ab und sah sich verloren um. Für sie war nicht nur die Menge der Besucher erstaunlich, die auf Hederas Beisetzung warteten, es wunderte sie zudem, dass sie so wenige kannte.

»Mach dir darüber keine Gedanken, Tilla. Deine Mutter und ich hatten schon öfter über dieses Thema gesprochen. Wir haben uns gemeinsam eine wunderschöne dicke Buche in der Nähe eines Teiches ausgesucht. Es wird dir gefallen.«

Tilla sah Astrid fassungslos an. »Ihr ward zusammen hier?«

»Aber ja. Es wird auch mein Baum werden«, sagte Astrid mit einem fröhlichen Lächeln, als spräche sie über ihren nächsten Urlaub und nicht über ihre Beerdigung. Verwirrt tappte Tilla hinter Astrid und der Försterin her, die sie zuvor mit einem freundlichen Nicken und einem leisen Beileidsbekunden begrüßt hatte.

Das Grüppchen, das nun gemächlich durch den Hochwald östlich der kleinen Harzstadt Bad Sachsa schritt, sah so gar nicht wie eine Trauergemeinde aus. Wetterfeste, dem grauen Himmel angepasste praktische Kleidung herrschte vor. Astrid trug einen weinroten Mantel, eine dunkle Hose und bequeme Halbschuhe. Nur Tilla war mit einem schwarzen Trenchcoat bekleidet. Wieder sah sie sich um. Menschen aller Altersgruppen waren gekommen. Eine Familie wurde von ihrer kleinen Tochter begleitet. Mit den wippenden blonden Zöpfen und der liebevoll bestickten hellblauen Strickjacke unter der offenen, leuchtend roten Wetterjacke bot das Mädchen einen fröhlichen Blickfang. Tilla warf ihr ein Lächeln zu. Ihre Augen begannen zu brennen und sie bedauerte unendlich, dass Nina an diesem Tag nicht hier sein durfte. Das kleine Mädchen lächelte zurück und winkte ihr zaghaft.

Mutsch, wie hast du es geschafft, in deinem Leben so viele Leute kennenzulernen?, dachte Tilla und spielte kurz mit dem Gedanken, zu einem wilden Lauf anzusetzen, der sie von hier wegbrachte. Vermutlich hätte sie es mal wieder zu irgendeiner überstürzten Dummheit gebracht, hätte Astrid ihr nicht in diesem Moment den Arm um die Schultern gelegt. Endlich erreichten sie eine stattliche Buche, vor der sich ein Rund aus Efeuranken um eine Holzscheibe in den Waldboden schmiegte. Ein Mann in konventioneller Schwarzkleidung, vermutlich vom Bestattungsinstitut, brachte die Urne und stellte das, mit einem Ginkgoblatt verzierte helle Gefäß, auf die Scheibe. Es roch wunderbar nach Waldboden und frischem Holz. Tilla blickte auf die grüne Rosette aus Efeu.

Die Trauergäste bildeten einen großen Halbkreis um die Buche. Als jeder seinen Platz gefunden hatte, trat Tilla an den grünen Kreis heran und nahm einen hellen Stein mit glitzernden Einsprenkelungen aus der Manteltasche. Sie hatte den Stein völlig verkrampft in der Hand gehalten, seit sie ihren Wagen verlassen hatte.

Steine sind die ältesten Wächter der Erde, hörte Tilla die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf wispern, was sie ruhiger werden ließ. Sie dachte an gemeinsame Ausflüge, bei denen sie Steine gesammelt hatten. Der Stein in ihrer Hand stammte vom Elfenstein, einer Klippe oberhalb von Bad Harzburg, die Tilla unzählige Male zusammen mit ihrer Mutter besucht hatte. Behutsam legte Tilla ihn auf die Efeuranken, richtete sich auf und trat zurück, damit die anderen Trauergäste vortreten konnten. Als Erstes legte das kleine Mädchen einen kleinen Tannenzweig nieder und dankte mit vor Aufregung stolpernden Worten dafür, dass Hedera ihrer Mama geholfen hatte. Weitere Äste, Zapfen, ein paar Kastanien und unzählige beschriebene Steine sammelten sich nunmehr um die Efeurosette. Viele waren es, die das Bedürfnis hatten, sich von Hedera Leinwig zu verabschieden. Tilla ließ ihren Tränen freien Lauf. Doch im Gegensatz zu den Tränen der letzten Tage waren diese irgendwie befreiend.

Wie aus weiter Ferne drang Astrids Stimme an ihr Ohr. »Deine Mutter hat viele dieser Menschen kennengelernt, als die sich mit einer Krankheit quälten. Menschen, die an einem Scheideweg standen. Einige haben überlebt und sind heute hier. Du kannst stolz auf deine Mutter sein!«

Tilla blickte in Astrid Volkers blaugraue Augen, die ihr aufmunternd zulächelten. Sie strich Tilla noch einmal über die Schultern, bevor sie sich zu der grünen Rosette begab. Bewundernd sah ihr Tilla zu, wie sie ohne Notizen und Zettel ihre Rede begann. Tilla war ihr unendlich dankbar dafür. Sie selbst war so durcheinander, dass sie nicht einmal einen Dreizeiler ohne zu stottern auf den Weg gebracht hätte.

»Hedera, botanischer Name für die Efeupflanze; Efeu, Immergrün, seit der Antike als Heilpflanze bekannt. Ihr Name war wohl gewählt von ihrer Mutter, die ihr Leben im fernen Wales verließ, um der Liebe nach Deutschland zu folgen. Hederas Vater starb, bevor er seine Tochter in den Armen halten konnte. Ein Schlag für die junge Frau aus Wales. Aber ein wundervoller Glücksfall für meine Familie, denn Leandra Lleynwitch kam mit ihrer Tochter Hedera unter dem Herzen in unser Haus. Meine Brüder und ich bekamen nicht nur eine wundervolle Nanny, wir bekamen in Hedera eine Schwester, die beste Schwester, die man sich nur wünschen kann … meine Seelenschwester.«

Tilla lauschte Astrids Worten, die so voller Liebe daherkamen. Ohne das Pathos der Trauer erzählte Astrid Anekdoten und kleine Begebenheiten, die Hedera besser darstellten, als es jede Beschreibung vermocht hätte. Es gelang es ihr sogar, die Gegensätze zwischen Tilla und ihrer Mutter so versöhnlich zu schildern, dass sich selbst in Tillas verquollene Augen ein Lächeln verlief. Hörte man Astrid zu, gerieten Tillas Rebellentum und Hederas gutmütige Ignoranz desselben geradezu zu einer ergötzlichen Geschichte, auf deren Fortsetzung man förmlich brannte. Astrid kam nun auf Hederas Arbeit zu sprechen. Sie erwähnte einige der Menschen, die gekommen waren, um ihr das letzte Geleit zu geben. Mit glänzenden Augen und ausgebreiteten Armen wünschte Astrid Hedera auf ihrem weiteren Weg, dass all die Liebe der Anwesenden sie begleiten möge.

Tilla schaute sich leicht verunsichert um. Doch die Leute störten sich offenbar nicht an dem ungewöhnlichen Ende einer Trauerrede, die wirkte, als würde man eine Reisende mit besten Wünschen auf seine langersehnte Tour schicken. Die, die gekommen waren, wussten, wer und was Hedera gewesen war. Dass einige Trauergäste aufgeschnittene Äpfel nach vorne streckten, das Zeichen der Wicca, während sie Astrids Wunsch wiederholten, empfand Tilla als wohltuend. Sie trat nach vorn und nahm Äpfel sowie liebevolle Blicke entgegen. Es sollte für lange Zeit das letzte Mal sein, dass Tilla von so viel Toleranz gegenüber ihrem glaubensbedingten Anderssein umgeben war.

Kapitel 8


Die Druiden benutzten die Schrift, um die Ewigkeit zu beeinflussen. Obwohl die Schrift einen magischen Aspekt hatte, war den Kelten das gesprochene Wort am wichtigsten.

– Jean Makale 238 –

Tilla stand vor Empörung der Mund offen, als die Staatsanwältin mit theaterreifem Timbre und wohldosierten Gesten aus den E-Mails vorlas, die Tilla seinerzeit an Nina geschickt hatte. Die Zitate waren aus dem Zusammenhang gerissen und beschworen ein so unheilvolles Bild herauf, dass Tilla zu einer religiös verklärten Terroristin mutierte, bevor die Verhandlung richtig begonnen hatte.

Belästigung und Bedrohung einer Minderjährigen lautete die Anklage, in deren Verlesung die Staatsanwältin Begriffe wie Stalking, Sektierertum und den Verdacht der Förderung von Prostitution einer Minderjährigen zwischen die spröden Paragraphenreihen eingearbeitet hatte. Natürlich hatte Tilla in der für sie so typisch temperamentvollen Art sofort zu einem energischen Protest angesetzt, woraufhin Dr. Bleibtreu jene unseligen E-Mails hervorgezogen hatte. Die Staatsanwältin drehte sich nun um und ließ die Prozessakte mit den Mails auf den Tisch fallen, als ekele sie sich davor.

»Haben Sie das geschrieben?«, fragte sie und bedachte Tilla mit einem vernichtenden Blick.

Genau in diesem Moment verstand Tilla, warum keltische Druiden dem geschriebenen Wort nicht trauten. Unschlüssig irrte ihr Blick zwischen der Staatsanwältin und dem unbeugsam dreinschauenden Richter hin und her. »Ja schon … aber nicht so, die Zitate sind völlig aus dem …«

»Ah«, fiel Dr. Bleibtreu ihr ins Wort. »Und dann wollen Sie immer noch behaupten, Sie hätten der Tochter meines geschätzten Kollegen Dr. Achim von Steinfeld nicht schaden wollen?«

Tilla erstarrte förmlich, wobei Zorn und Verwirrtheit sich die Waage hielten. »Ich würde Nina nie schaden!«

»Gut«, ließ Richter Konrad Jürgens in sonorem Bass hören. Er schenkte seiner Kollegin von der Anklage ein zufriedenes Nicken. »Vielen Dank, Frau Staatsanwältin. Die Angeklagte bestreitet offenbar sämtliche Vorwürfe und ich denke, dann können wir auch mit der Beweisaufnahme und der Zeugenvernehmung beginnen.«

Die Haartracht des Richters erinnerte wegen der Stirnfransen an die römischer Imperatoren. Ein paar Mal bildete sich Tilla tatsächlich ein, er würde mit einem plötzlichen Hochziehen der linken Schulter und rascher Bewegung der linken Hand eine unsichtbare Toga zurückwerfen.

Tilla wechselte einen zornigen Blick mit Peter Ehlers. Auch er war am Morgen zuversichtlich in diesen Gerichtssaal gekommen. Nun verdüsterte sich sein Blick zusehends.

»Die Geschädigte, Nina von Steinfels, wird als Jugendliche später allein im Richterzimmer vernommen werden. Ich rufe Dr. Achim von Steinfels auf«, tönte der Richter in ein Mikrofon.

Tillas Expartner betrat den Saal mit beschwingtem Schritt, um am Zeugentisch Platz zu nehmen. Während Richter Jürgens seine Belehrungsformeln herunterleierte, die von Steinfels natürlich bestens bekannt waren, beobachtete Tilla ihn. Über seine zur Schau getragene Mischung von anbetender Bewunderung für den Richter, dem hochachtungsvollen Nicken, das sich an die Staatsanwältin richtete, und seiner rechtschaffenen Zufriedenheit wunderte sie sich nicht im Mindesten. Hier geschah alles in seinem Sinne.

»Herr von Steinfels, bitte erzählen Sie uns doch, wie Sie die Lebensgemeinschaft mit Frau Leinwig erlebten«, bat die Staatsanwältin und schenkte dem Zeugen ein strahlendes Lächeln.

»Lebensgemeinschaft, nun ja, das Wort Gemeinschaft scheint Frau Leinwig doch so ganz anders zu interpretieren als sonst in unserer Gesellschaft üblich. Sagen wir es mal so: Ich hatte zuweilen den Eindruck, dass der Freundeskreis meiner Expartnerin eine Kleinstadt zu füllen vermochte.«

Heiterkeit brandete auf und Tilla schlug die Hände vor das Gesicht, um ihre Umwelt vor den Unflätigkeiten zu schützen, die ihr zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorquollen. Als wäre sie gar nicht anwesend, erörterten ihr Expartner, die Staatsanwältin und der Richter in geschäftsmäßigem Ton Tillas angebliche Liebschaften und sexuelle Fehltritte unter dem Aspekt der schädigenden Auswirkungen auf Ninas Seelenleben. Dem argumentierte ausgerechnet Peter Ehlers, ihr Exliebhaber, nach besten Kräften entgegen, ohne jedoch etwas ausrichten zu können. Geschickt ließ Achim von Steinfels Schlagworte wie ausuferndes Sexualverhalten und Hexenrituale in seine Rede einfließen, dass sie in den Köpfen der Anwesenden eine untrennbare Einheit ergaben. Tilla fragte sich sogar einen Augenblick lang selbst, ob sie eine völlig entfesselte Nymphomanin war. Ihre glaubensbedingte Zuwendung zu Gefühlen brachte es tatsächlich mit sich, dass eine als angenehm empfundene Zweisamkeit recht oft und zuweilen auch etwas übermütig körperliche Nähe erreichte. Als Altgläubige war Tilla die aus dem Christentum resultierende Prüderie völlig fremd. Aber war sie deswegen gleich ein sexsüchtiges Monster, vor dem man ein junges Mädchen wie Nina schützen musste? Mit mühsam verhaltenem Zorn beobachtete Tilla das Trio infernal. Die kühle Staatsanwältin und der Richter waren ein eingespieltes Team, und Achim fügte sich ein, als arbeiteten die drei eine perfekt choreographierte Drehbuchszene ab. Tilla fluchte leise. Natürlich. Wieso wurde ihr jetzt erst klar, dass sich ihr Expartner, diese inquisitorische Schnepfe und dieser Richter kannten, vermutlich gut kannten. Ernüchtert stellte sie fest, hier war alles verloren. Würde sie womöglich im Gefängnis landen?

Tilla war in diesen Gerichtssaal gekommen, um ein Missverständnis aufzuklären. Doch nun reihte man Vergehen über Vergehen aneinander und machte sie zu einer sexsüchtigen, emotional unausgereiften Sektiererin. Ihr Glaube wurde gerade zu ihrem Untergang.

»Frau Leinwig, Sie haben die schweren Vorwürfe von Seiten des Antragstellers gehört. Was sagen Sie dazu?«, tönte es kühl vom Richtertisch.

»Ich weiß gar nicht, was ich zu diesem Blödsinn sagen soll! Ich habe Achim abserviert und bekomme hier eine Retourkutsche«, ereiferte sich Tilla.

Die Staatsanwältin hob die Brauen, warf ostentativ einen Blick in ihre Unterlagen und bemerkte süffisant: »Sie sind abserviert worden, Frau Leinwig. Es ist wohl eher Ihr Vergehen, das eine Retourkutsche darstellt.«

»Das stimmt nicht!«, hielt Tilla zornig dagegen.

»Frau Leinwig, keiner der hier Anwesenden ist taub«, maßregelte sie Richter Jürgens streng und verlangte dann: »Dann erklären Sie uns doch einfach mal, was Altgläubige so tun. Aber in einem gemäßigten Ton, wenn ich bitten darf!«

Tilla atmete einmal tief durch, fing sich einen warnenden Blick ihres Anwaltes ein und hob dann mühsam ruhig an: »Ich lebe nach den gleichen Werten wie jeder hier. Die alte Religion ist nur eben keine Offenbarungsreligion, wie Christentum, Judentum oder der Islam, sie geht auf die keltische Kultur zurück.«

Peter Ehlers griff nach einigen bedruckten Dokumenten. »Herr Vorsitzender, darf ich mir an dieser Stelle erlauben zu erwähnen, dass der sogenannte ›alte Glaube‹ mittlerweile als Religion anerkannt wird. In den USA erfährt der Wicca-Glaube sogar beachtlichen Zulauf. Ich habe hier einige, dies belegende Quellen, die …«

»In Amerika, ja?«, unterbrach ihn der Richter. »Wo Darwins Evolutionslehre abgelehnt wird und wo sich Anhänger der Scientology-Sekte in Talk-Shows verbreiten?« Natürlich erntete er beflissene Heiterkeit. Selbst gegen das Kichern über seinen gelungenen Witz kämpfend, gluckste Richter Konrad Jürgens: »Verzeihen Sie mir diese Auflockerung, werter Kollege Ehlers. Ich wollte Ihnen damit nur deutlich machen, dass wir in Deutschland andere Maßstäbe setzen als unsere Cowboyfreunde jenseits des Großen Teiches.« Dann wandte er sich wieder Tilla zu. »Frau Leinwig, im Zuge der Beweisaufnahme muss geklärt werden, ob ihr Glaube eine schädigende Auswirkung auf Nina von Steinfels gehabt hat. Also beschreiben Sie uns Ihren Glauben!«

Tilla bemühte sich, ihre Stimme auf eine tiefere Frequenz zu bringen, um ihre brodelnde Wut zu übertünchen.

»Altgläubige streben danach, rechtschaffene, gute Menschen zu werden. Unsere Religion praktizieren wir im Gegensatz zu der von Ihnen erwähnten Scientology-Sekte im Stillen. Wir benötigen keine Vermittler zu unseren … zu unserem Gott.« Bewusst umschiffte Tilla den Umstand, dass Altgläubige noch an ein Konglomerat verschiedenster Götter glaubten, ein Umstand, der von der christlichen Kirche so gar nicht akzeptiert wurde. »Wir haben also keinen Pastor und dementsprechend keine Kirchenhierarchie, die sich mit der Verbreitung des Glaubens beschäftigt. Wir missionieren nicht. Hin und wieder gehen auch wir Altgläubigen in eine christliche Kirche und suchen dort Inspiration, doch die meisten von uns finden diese eher in der Natur, denn unser Glaube ist an die alte Naturreligion angelehnt«, erklärte Tilla mit mühsam gleichförmig gehaltener Stimme.

»Sie beten also in der Natur?«, fragte Staatsanwältin Bleibtreu in unschuldigem Ton.

»Ja, ich persönlich gehe am liebsten in den Wald, an einen einzelnen Felsen, einen See oder an einen anderen schönen Ort, an dem ich die Natur und Jahreszeiten deutlich spüren kann.«

»Nackt?«, fragte Dr. Bleibtreu, wobei ihr wohlgeformter Mund vor Vergnügen darüber zuckte, dass Tilla ihr in die Falle gegangen war.

Tilla sog scharf die Luft ein. »Nein, natürlich nicht, ich …«

»Aber es gibt Altgläubige, die ihre Zeremonien nackt durchführen?«

»Ja schon, aber …«

»Gibt es auch männliche Altgläubige?«

»Ja …«

»Und die beten auch nackt?«

»So was kommt vor, aber …«

»Sind Sie bei ihren Öko-Bet-Aktionen immer allein? Oder gesellen sich auch andere Neuzeithexen und Hexer dazu?« Letzteres betonte Staatsanwältin Bleibtreu in besonders abfälligem Ton.

Dieses Mal erkannte Tilla die Falle und sprang auf. »Verdammt noch mal …«, begann sie aufgebracht, doch Peter Ehlers fasste Tilla am Arm.

»Verehrte Frau Kollegin«, sagte er an die Staatsanwältin gewandt, »Ihr polemischer und provokanter Fragestil ist vielleicht bei dem Verhör eines Schwerverbrechers angebracht, doch hier sind wir in einer Gerichtsverhandlung. Behalten Sie diesen vorverurteilenden Fragestil bei, so werden wir uns in der nächsten Instanz wiedersehen!«

Die Staatsanwältin verzog deutlich ernüchtert den Mund. »Ich werde meine Frage umformulieren. Frau Leinwig, haben Sie Nina von Steinfels je zu einem Ihrer Rituale mitgenommen?«

»Nein.«

»Aber Sie sind viel mit ihr spazieren gegangen?«

»Ja ... angezogen«, knurrte Tilla und rief damit ein Kichern bei den Zuschauern hervor.

Die Staatsanwältin zeigte sich dagegen unbeeindruckt. »Ich hörte, dass jeder Besuch in der Natur für Sie etwas Religiöses hat?«

Zögernd gab Tilla zu: »Ja, schon … «

Tilla wurde nun von der zur Hochform auflaufenden Staatsanwältin gefragt, ob sie einer Wicca-Vereinigung angehörte, wo dieser Coven praktizierte, wer ihm angehörte und ob Nina Kontakt zu diesen Personen gehabt habe. Tilla funkelte die Staatsanwältin böse an und schüttelte in einem fort den Kopf, bis es aus ihr herausbrach.

»Heilige Göttin! Nicht jede Altgläubige ist in einem Coven. Nina hatte nie Kontakt zu anderen Altgläubigen.« Böse blitzte sie die Staatsanwältin an und schob trotzig hinterher: »Und wenn, dann hätte es ihr nicht geschadet.«

»Ach, tatsächlich?« Die Staatsanwältin drehte sich so vehement zu Tilla um, dass ihre Robe sie wie einen unheilvollen Geist umwehte. »Angehörige der Wicca nennen sich Hexen. Hexen sind also völlig ungefährlich?«

»Hexen schaden niemandem«, fauchte Tilla und fügte sarkastisch hinzu: »Ich hoffe, Ihre Mutter hat Ihnen nicht zu viel von den Grimm’schen Märchen vorgelesen. Was da drin steht, ist Mist!«

»Wie interessant«, antwortete Staatsanwältin Bleibtreu ungerührt. »Und Sie praktizieren Ihren Glauben im Stillen? Wissen Sie, ich hege ein gewaltiges Maß an Misstrauen gegenüber Glaubensvereinigungen, die im Stillen, also fernab staatlicher Kontrolle praktizieren. Damit folge ich nicht etwa den Ausführungen der Gebrüder Grimm – übrigens geschätzte Juristenkollegen von mir, sondern den neusten Einschätzungen des Bundeskriminalamtes, das gerade zurzeit ziemlich schlecht auf religiöse Fanatiker zu sprechen ist …«

»Frau Dr. Bleibtreu! Ermüden Sie uns nicht mit Ihren Ansichten, die nichts zur Sache beitragen«, wetterte Peter Ehlers. »Meine Mandantin ist keine religiöse Fanatikerin. Sie hängt lediglich einem weniger verbreiteten Glauben an. Einem Glauben, der übrigens länger in dieser Region verwurzelt ist als das Christentum.«

»Im Gegensatz zu Ihnen, werter Kollege Ehlers, halte ich die Wiccaner für eine moderne Sekte, die keinesfalls harmlos ist«, zischte die Staatsanwältin zurück.

»Ich bitte Sie, Frau Kollegin«, ließ Peter Ehlers deutlich abfällig hören. »Eine sektiererische Vereinigung zeichnet sich durch eine pyramidenförmige Hierarchie mit einem strengen Sanktionssystem gegenüber Kritik aus den eigenen Reihen aus. Die meisten Altgläubigen beten allein, und selbst ein Wicca-Coven beinhaltet keines dieser Merkmale.«

Bevor die Staatsanwältin etwas entgegnen konnte, mahnte Richter Jürgens: »Vielleicht sollten wir an dieser Stelle etwas mehr Sachlichkeit in diesen Gerichtssaal zurückbringen und erörtern, was Wicca eigentlich bedeutet.«

Als seien diese Worte ein Einsatzzeichen für die Staatsanwältin gewesen, hob diese nun zu einer ausführlichen Erklärung an. Ihr diskreditierender Vortrag über Wicca und Neuzeithexen überschritt bei Tilla das Maß des Erträglichen.

Vehement sprang sie auf die Beine und brüllte durch den Saal: »Ihr Pseudo-Wissen über Altgläubige strotzt geradezu vor Lücken, Ungenauigkeiten und schlichtem Schwachsinn!«

Jegliches Geräusch erstarb.

Richter Jürgens donnerte in die Stille hinein: »Frau Leinwig! Wagen Sie es noch einmal, ungefragt das Wort zu erheben, werde ich ein Ordnungsgeld gegen Sie verhängen, das ganz schnell zu einer Ordnungshaft werden kann!«

Tilla holte schon Luft für eine weitere Verbalattacke, als Peter Ehlers sie nachdrücklich am Arm fasste und auf ihren Stuhl zurückzwang.

Ungerührt schulmeisterte die Staatsanwältin weiter. »In einem Coven kommen dreizehn Hexen zusammen. Eine von ihnen ist die Anführerin. Ein Coven unterliegt der Allmacht der Priesterin.« Sie zeigte Tilla ein spitzes Lächeln. »Nach Ihren Worten brauchen die Altgläubigen keinen Pastor, weil sie Hierarchien ablehnen, Frau Leinwig. Sind Hierarchien in Ihrem Wortschatz etwas anderes?«

Tilla biss die Zähne aufeinander. Ihre Antwort glich einem mäßig unterdrückten Knurren. »Einem Coven treten Altgläubige bei, die sich etwas mehr Struktur, aber auch Gesellschaft für ihren Glauben ersehnen. Deshalb wird eine Lehrende aber noch lange nicht zu einem Guru oder so was.«

»Guru … ein sehr passendes Stichwort«, antwortete die Staatsanwältin zufrieden. »In allen bekannten Sektenstrukturen sind die Mitglieder die letzten, die zugeben würden, von jemandem manipuliert worden zu sein. Darin liegt ja gerade das Perfide. Wie gefährlich der Wiccakult letztlich ist, wird nicht hier und nicht heute entschieden. Die Vorgehensweise dieser Sekte ist jedoch durchaus bedeutsam für die Beweisführung. Wichtig ist nämlich die Frage: Wie viel hat der von der Angeklagten praktizierte Neo-Hexenkult mit dem von ihr selbst eingebrachten Terminus ›Naturreligion‹ zu tun? Geht es dabei womöglich um rüde Sittenlosigkeit unter dem verharmlosenden Mantel einer Religion?« Die Staatsanwältin ließ den Blick kurz durch den Saal schweifen. »Frau Leinwig fungierte als Bezugsperson für Nina von Steinfels. Die Einlassungen des Antragsstellers, der Frau Leinwig als promiskuitiv und krankhaft sexsüchtig beschreibt, haben überzeugend gezeigt, wes’ Geistes Kind die Antragsgegnerin ist. Fraglos wird eine solche Bezugsperson ihre abstrusen Ideen weitergeben und eine unschuldige Zwölfjährige von den gesellschaftsüblichen Werten abbringen!«

Tillas Beine stemmten sich wie von selbst hoch. Ihre verschiedenfarbigen Augen funkelten in unmäßigem Zorn. In klarem, überraschend ruhigem Ton fragte sie in den Saal: »Hatte ich hier eigentlich je eine Chance?«

»Hatte ich Ihnen erlaubt, das Wort zu ergreifen?«, donnerte Richter Jürgens zurück.

»Nein, aber Sie hätten es mir wohl auch kaum erteilt, oder?«, schrie Tilla.

Richter Jürgens’ Gesicht verfärbte sich weiß. Dr. Bleibtreu und Achim von Steinfels starrten Tilla mit offenen Mündern an. Doch die achtete längst nicht auf die spitzen richterlichen Schreie, die Worte wie »Schweigen Sie« und »weiteres Ordnungsgeld« enthielten. Sie stach mit ihrem Zeigefinger Löcher in Richtung des Richterpultes.

»Das hier zu fällende Urteil stand doch schon fest, als Sie alle heute Morgen vor Ihrem Frühstücksbrötchen gesessen und Ihren blödsinnigen Schulaufsatz über die Wicca auswendig gelernt haben! Sie alle machen diesen Gerichtssaal zu Ihrer persönlichen politischen Bühne und diesen Prozess zu einer Farce …«, brüllte Tilla.

Bevor sie jedoch auch noch mit der anderen Hand bekräftigend auf den Aktenberg ihres Anwaltes schlagen konnte, wurde sie von vier kräftigen Händen hochgehoben. Die vom Richter herbeigerufenen Gerichtsdiener packten Tilla grob und brachten sie aus dem Saal, während diese laute Verwünschungen ausstieß.

Als sich Peter Ehlers nach dem Ende des Prozesses zu ihr in den Flur gesellte, sah er alles andere als zufrieden aus.

»Du kommst mit einer Geldstrafe davon. Vor allem aber musst du dich von Nina fernhalten«, verkündete er.

Tilla reagierte nicht. Sie blickte stattdessen die gegenüberliegende Flurwand an, als versuchte sie, diese in Brand zu setzen.

Peter Ehlers setzte sich seufzend neben sie. »Tilla, tu mir den Gefallen und halte dich daran«, bat er sie eindringlich. »Richter Jürgens machte in der Urteilsbegründung deutlich, dass er den Verdacht der Förderung der Prostitution einer Minderjährigen ebenfalls hatte, dies aber nicht hinlänglich bewiesen werden konnte.«

Tilla traute ihren Ohren nicht. »Was? Verdammt, ich liebe Nina wie eine eigene Tochter! Ich habe mich fast zwei Jahre ausschließlich um sie gekümmert. Achim dagegen glänzte mit chronischer Abwesenheit. Selbst ihr Schulbusfahrer kannte Nina besser als ihr Vater. Ich würde doch nie etwas tun, was ihr schadet! Wie kommen die nur auf so was?«

Peter Ehlers nickte matt. »Ich weiß es doch. Dasselbe hat übrigens auch Nina gesagt, als sie im Richterzimmer verhört wurde. Im Grunde genommen hat dir die Kleine den Hals gerettet. Sie hat wie eine Löwin für dich gekämpft.« Er lächelte. »Mensch, ich weiß gar nicht, wie Achim an so eine großartige Tochter kommt.« Seine Augen ruhten auf ihr. »Weißt du was? Nina ist dir irgendwie ähnlich.« Nun wurden Tillas Augen groß und füllten sich unaufhaltsam mit dicken Tränen. Peter Ehlers legte den Arm um sie. »Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht mehr für dich tun konnte.«

»Das hätte wohl niemand geschafft. Hier konntest du gar nichts mehr tun.« Tilla wischte sich mit einer ärgerlichen Bewegung die Tränen aus dem Gesicht. »Mein Ex, die Staatsanwältin und dieser Richter kennen sich gut, nicht wahr?«

Ehlers gab ein Schnaufen von sich und nickte. »Mich hat das auch kalt erwischt.«

»Aber … kann man denn da nichts machen? Sind die nicht irgendwie befangen oder so?«, fragte Tilla hilflos.

»Befangenheit und ein daraus resultierendes Fehlurteil – das zu beweisen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Braunschweig ist überschaubar, die Juristen hier kennen einander alle.« Er betrachtete Tilla sorgenvoll. »Ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Erst der Tod deiner Mutter und dann das hier ...«

Tilla zog ein Taschentuch aus ihrer überdimensionierten Umhängetasche und schnäuzte sich geräuschvoll.

Peter Ehlers schüttelte den Kopf. »Ich werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass es Achim nicht dabei bewenden lässt. Tilla, verschwinde aus Braunschweig! Geh zurück in den Harz.«

»Zurück nach Bad Harzburg?«

Er nickte.

Sie dachte einen Augenblick still nach und meinte dann kopfschüttelnd: »Scheiße! Ich mache auch nur Mist!«

Peter Ehlers lächelte sie aufmunternd an. »Komm schon Tilla, du bist wahrlich kein Alltagsheld, aber für diese Farce hier kannst du ausnahmsweise mal wirklich nichts!«

Tillas Miene wandelte sich aprilwetterartig zu einem Lächeln.

»Diesen Mist meinte ich auch nicht.«

Sie kam ihm entgegen, küsste ihn und flüsterte: »Aber dass ich zu dumm war, dich zu behalten, als es noch möglich war, das war wohl der größte Mist, den ich je angestellt habe.« Sie lächelte ihn mit feuchten Augen an. »Ich danke dir. Und jetzt geh nach Haus. Grüß deine tolle Frau von mir und mach sie und deine Zwillinge glücklich!«

382,08 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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594 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783947167081
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