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Was würde er tun? Ausgerechnet die E-Mails. Das aufgeweckte Mädchen hatte sich immer brennend für Tillas Glauben interessiert. Kleine Häppchen davon waren auch in diesen Mails zu finden. Dabei wusste Tilla sehr wohl, wie falsch das war. Ihr Glaube war nicht für jeden das Richtige und für Nina, eine Zwölfjährige, der permanent die Bezugspersonen im Leben wegbrachen, schon gar nicht.

Altgläubige missionieren nicht!, hörte sie ihre Mutter im Geiste mahnen und ließ den Kopf hängen. Was sollte sie tun? Konnte sie etwas tun? Was würde er tun? Das Handy! Würde er Nina auch das Handy wegnehmen? Was, wenn das heutige Gespräch das letzte zwischen ihnen gewesen war? Erstaunt stellte sie fest, wie weh es ihr tun würde, wenn sie den Kontakt zu Nina verlöre. Und noch erstaunter war sie über das dringende Bedürfnis, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Versonnen blickte sie ihr Handy an. Dann stellte sie es entschlossen aus und legte es weg. Auf eine telefonische Predigt von Achim, der sich garantiert in nächster Zeit melden würde, konnte sie gut verzichten.

Widerstrebend nahm sie einen weiteren Umschlag in die Hand.

Kapitel 3


Druiden sind für die Kulthandlungen zuständig. Auch fällen sie über Streitigkeiten das Urteil. Ob eine Untat begangen, wenn es über die Erbschaft oder über die Grenzen einen Streit gibt, entscheiden dieselben. Entschädigungen und Strafen setzen sie fest.

– Caesar BG VI 13 –

Tilla tappte auf leisen Sohlen über den Flur, es war schon weit nach Mitternacht. Dennoch riss sie ungeduldig den Umschlag auf, ließ sich mit den Seiten ins Bett fallen und begann zu lesen.

Thurizan wusste, dass sich die Welt um das kleine Paradies, in dem sie lebten, veränderte, und er trug schwer an Sorge, denn die Veränderungen bedrohten die Seinen. So schritt er eines Tages in die Berge hinauf, um mit den Göttern Zwiesprache zu halten. Viele Tage wanderte er und suchte nach einem Götterzeichen. Fast war er am Fuße der höchsten Erhebung angelangt. Die Schritte fielen ihm, betagt wie er war, nun leichter, denn es wurde eben. Lang war es her, als er an dieser Stelle gewesen. Endlich zeigte sich Cernunnos in Form eines Hirsches. Sein Geweih war stark und weit verzweigt, sein Rücken strahlte silbern. Lange schaute das Tier dem Druiden in die Augen, bevor er sich abwandte. Thurizan folgte dem majestätischen Tier durch Hochwald und Dickicht, welches sich plötzlich lichtete. Doch als Thurizan das lichte Plateau erreichte, war der Hirsch verschwunden. Thurizan stand vor einem Abgrund, der ihm einen weiten Blick über das Land der Götter erlaubte. Ein Wolkenhauch waberte vor ihm über das zerklüftete Gestein. Thurizan erkannte den Fingerzeig der Himmelsgöttin und näherte sich der Stelle. Der Boden bestand aus Alisannos’ grauem Gestein, überzogen mit Cerunnos’ gelben Flechten. Hierauf lag ein runder Stein von der Farbe herbstlicher Sonne. Ehrfürchtig nahm Thurizan das eigroße Kleinod in die Hand. Er wusste, solche Edelsteine entstammten dem Saft des Lebensbaumes, jenes immergrünen Baumes, der sie mit seinen wohl duftenden Nadeln im Winter tröstlich daran erinnerte, dass das Leben nur schlief und wiederkehren würde. Besonders zur Wintersonnenwende verehrte das Volk von Thurizan diesen Baum. Sie huldigten durch ihn den Göttern, die sie um die Wiederkehr des Lichtes und des Lebens um sie herum baten. Der große Stein in seiner Hand war viele tausend Fruchtzeiten alt. Warm und rund lag er in der Hand des Druiden und vermochte ihn augenblicklich mit Zuversicht zu erfüllen. Thurizan hob den Stein gegen Belenos’ Sonne, welche gerade in diesem Moment über eine Bergkuppe vor ihm lugte und ihm ihre warmen Strahlen sandte. Ein dunkles Ästchen mit zwei aufsteigenden Streben war in dem Stein zu sehen, die Rune Fehuz, Symbol des Feuers. Die Götter hatten ihm in diesem Stein ein wichtiges Zeichen hinterlassen. Thurizans Blick wanderte demütig und dankbar zu Boden. Dort, wo sich zuvor Cerunnos’ Flechten und Alisannos’ Gestein ein stummes Gefecht geliefert hatten, offenbarte sich dem Druiden nun ein erzdurchsetzter Felsbrocken mit roten Schlieren darin. Sein Blick kehrte zurück zu der Feuerrune. Feuer war das einzige Element, welches Erz zu läutern vermochte. Nun verstand Thurizan endlich, was die Götter von ihm erwarteten.

Lächelnd drehte sich Tilla in ihren Kissen um und knipste das Licht aus. Sofort tauchte das Bild bewaldeter Bergkuppen vor ihrem inneren Auge auf und begleitete sie sachte in einen wohligen Traum.

Kapitel 4


Ne sexum in imperiis discernunt. Beim Oberbefehl machen die Celtae keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern.

– Tacitus Agricola 16 –

Ihr kleiner alter Geländewagen, dessen Gaspedal Tilla so ungnädig niedertrat, gab beunruhigende Geräusche von sich. Nicht einmal die großen weißen Ranken, die sie kurzerhand über die Rostschäden gepinselt hatte, konnten über den erbärmlichen Zustand ihres Gefährts hinwegtäuschen.

Tilla ließ die Ebene des südlichen Salzgitters rechts liegen. Noch ein paar Kilometer weiter und sie würde den Brocken bereits in der Ferne sehen können. Ihr Blick heftete sich geradezu zwanghaft auf den Horizont. Endlich. Die Harzberge tauchten auf. Schlagartig verflüchtigten sich alle schlechten Gefühle in Tillas Innerem. Fast konturengleich mit den Berggipfeln schmiegten sich schwere graue Wolken an die sanft gerundete Gipfellinie von Brocken, Achtermann und Rammelsberg. Die zweiten Wolkengipfel, die sich wie weitere Berge ausnahmen, machten den Harz an diesem Tage zu einem gewaltigen Massiv. Tilla wusste, dass der Mantel, den der Harz an diesem Tag trug, dem Oberharz schlechtes Wetter, Regen und dichten Nebel brachte, während um sie herum auf der Autobahn 395 noch die Sonne schien. Sie wunderte sich wieder einmal, wie sehr sie sich über den Anblick der Harzkuppen freute, die einst das von den Römern so gefürchtete Waldgebiet Hercynia eröffneten.

Sie hatte ihre Mutter am Morgen mehrfach vergeblich anzurufen versucht, somit wusste Hedera gar nicht, dass sie kam. Doch Tilla war nicht der Mensch, der von einem spontanen Entschluss abließ. Sie redete sich damit froh, dass Hedera vielleicht zu einem ihrer häufigen Spaziergänge aufgebrochen war, bei denen sie Kräuter für ihre Naturmedizin sammelte. Tilla betrachtete die letzten gelben Blätter, die vereinsamt umherwehten, und murmelte kopfschüttelnd: »Blödsinn! Kräuter am ersten November. Verdammt, Mutsch, wo bist du?«

Merkwürdig. Es war die Nacht nach Samhain, dem höchsten Feiertag der Altgläubigen. Wieso war ihre Mutter nicht zu Hause? War sie vielleicht bei anderen Altgläubigen eingeladen gewesen? Für sie und die Ihren begann mit Samhain das neue Jahr. Grund genug für Tilla, die spannungsgeladene Beziehung zu ihrer Mutter auf eine neue, gesundere Basis zu stellen. Tatsächlich hatte ihr das Verhältnis zu Nina gezeigt, wie zerbrechlich so eine Beziehung zu Kindern sein konnte und wie vorsichtig man als Erwachsener mit einem jungen, unsteten, weil suchenden Geist umgehen musste. Plötzlich gab so viel, was sie ihrer Mutter erzählen wollte. Es gab auch vieles, was sie ihre Mutter fragen wollte.

Hedera hatte sie allein aufgezogen. Tilla gab in Gedanken zu, dass Hedera ihre Sache nicht besser hätte machen können. Ihr hatte es an nichts gefehlt. Dennoch hatte Tilla sich oft gewünscht, mehr über ihren Vater zu erfahren oder Verwandte ihres Vaters zu treffen, vielleicht eine zweite Großmutter, Tanten oder Cousins. Das Bild von Großmutter Leandra tauchte vor ihrem inneren Auge auf und ließ sie kurz lächeln. Nein. Dieses Mal würde sie sich nicht mit einer romantisch verklärten Antwort bezüglich ihres Vaters zufriedengeben. Sie wollte seinen Namen, damit sie Nachforschungen anstellen konnte.

Der Brocken wurde immer größer und damit auch Tillas Angst vor den Fragen, die ihre Mutter stellen würde. Ihre Kampfeslust vom Moment zuvor fiel kläglich in sich zusammen. Sie wusste, schon die lapidare Frage, was sie so trieb, würde sie zu hektischer Beredsamkeit veranlassen, die ihre Mutter sofort durchschauen würde. Hedera würde traurig den Blick senken und nicht weiter nachhaken. Tilla hatte diesen Blick auch vor sich gesehen, als sie ihrer Mutter am Telefon mit vielen, zumeist unnötigen Worten erklärt hatte, warum sie das Studium aufgegeben hatte.

Mit schmerzlicher Klarheit dachte Tilla darüber nach, was sie trieb. Nichts. Nichts, auf das man irgendwie stolz sein könnte. Sie war eine Versagerin. Erst hatte sie Psychologie studiert und dann zur Historie gewechselt. Beide Fächer war sie zu Anfang mit großem Engagement angegangen. Doch dann hatte sie begonnen, abends in der Studentenkneipe Blue Note zu kellnern. Irgendwann hatte sie nur noch gekellnert. An Mabonadh, Mitte September, hatte sie eingesehen, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Ihre Kommilitonen waren alle längst zu neuen Ufern aufgebrochen. Tilla hatte einen Entschluss gefasst und einen Tag nach Mabonadh, der Tag-und-Nacht-Gleichen des Herbstes, ihre Sachen gepackt und Göttingen den Rücken gekehrt, um nach Braunschweig zu ziehen. Der Nachteil war, Achim lebte in Braunschweig. Der Vorteil war, Nina lebte in Braunschweig.

Wieder wurden ihr die Augen feucht, als sie daran dachte, wie sehr sich Nina über diese Neuigkeit gefreut hatte. Seither hatten sie sich mehrfach heimlich getroffen. Tilla hatte ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Lehndorf bezogen und kellnerte in einer kleinen Kneipe im Magniviertel. Es war in Ordnung. Aber aus Sicht ihrer Mutter war es sicher ein kleines Leben – ein sehr kleines.

Der Motor ihres Wagens erstarb mit einem würgenden Gurgeln. Vor ihr erhob sich ein kleines Siedlungshaus. Zwischen dem Haus und einem etwas zurückliegenden Schuppen links daneben war ein großer Garten zu sehen, dessen Üppigkeit sogar zu dieser Jahreszeit erkennbar blieb. Efeu hielt das Häuschen etwa zur Hälfte mit seinen langen grünen Fingern umfasst und gab ihm etwas Verwunschenes. Der Anblick des Hauses, in dem sie aufgewachsen war, hatte Tilla stets mit Wärme an einstige Geborgenheit erinnert. Doch heute schien ihr das Gebäude irgendwie kalt und abweisend. Langsam stieg Tilla aus ihrem Wagen. Es war seltsam, dass so gar nichts darauf hindeutete, dass ihre Mutter zu Hause war. Der bewaldete Hang hinter dem Haus nahm den Räumen bereits am frühen Nachmittag das Licht. Eigentlich hätte das Küchenfenster beleuchtet sein müssen.

Als Tilla das niedrige Gartentor öffnete, kam ihr Paris mit lautem, sich beschwerendem Miauen aus Richtung des Schuppens entgegen. Tilla bückte sich und kraulte die Katze hinter den Ohren, doch das Tier genoss diese Zuwendung nur kurz. Behände hüpfte Paris die Treppenstufen zur Haustür hinauf. Neben einem riesigen ausgehöhlten Kürbis, in dem eine Kerze flackernd ihr letztes Licht abgab, drehte die Katze einen gezierten Kreis. Auffordernd blickte sie Tilla an. Tilla kramte ihren Schlüssel hervor und schloss auf.

»Mutsch?«, rief Tilla, während sie durch den Flur ging. Paris lief durch den Flur voraus, blieb dann jedoch unschlüssig stehen. Mit einem langgezogenen tiefen Laut zeigte die Katze, dass etwas nicht stimmte. Eine Geruchsmischung aus unangenehm scharfem Kräutersud, abgestandener Luft und einem deplaziert wirkenden Hauch von Parfum zog Tilla entgegen. Sie schnupperte dem fremden Aroma hinterher, das sich durch die ins Haus strömende Frischluft verflüchtigte. Ein Aftershave?

»Mutsch? Bist du da? Ich bin’s!« Tilla zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe im Flur. »Mutsch?«

Tillas Stimme wurde immer dünner. Zögerlich ging sie um die Ecke und spähte in die Küche. Ihre Mutter saß unbeweglich im fast dunklen Raum in der Ecke der Küchenbank. Die Hände im Schoß, der Kopf war auf die Brust gesunken. Als Tilla den Lichtschalter umlegte, traf es sie wie ein Schlag.

Kapitel 5


Das Volk der Celtae ist hochgewachsen, rotblond und hellhäutig,weil die bräunende Sonne ihren Weg über Alpen und Pyrenäen nicht recht findet.

– Ammianus Marcellinus XV 12,1 –

Während die Küche von der ungewohnten Betriebsamkeit umhereilender Polizisten erfüllt war, hockte Tilla im Flur auf dem Boden. Sie hatte sich das Tuch aus dem langen roten Haar gezogen, das ihr Gesicht nun wie ein Vorhang verdeckte. Paris hatte sich in ihrem Schoß verkrochen.

Die uniformierten Polizisten hatten mehrfach versucht, Tilla ins angrenzende Wohnzimmer zu nötigen, doch sie hatte sich geweigert. Dort waren die Sachen ihrer Mutter, ihr Geruch und ihre Gegenwart. Noch fehlte ihr der Mut, sich dem zu stellen. Sie hatte ihre Mutter im Stich gelassen und fühlte sich zugleich von ihr im Stich gelassen. Ihre Mutter war tot.

»Frau Leinewig …«

»Leinwig«, verbesserte Tilla müde.

»Entschuldigung. Ich bin Andreas Kamenz, Kommissar Kamenz. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Tilla sah zu ihm auf. Er war kaum älter als sie. Sie stand mühsam auf und sah ihn an.

»Hatte Ihre Mutter Probleme?«

»Probleme?«, fragte Tilla irritiert.

»Nun, Probleme, die zu ihrem Entschluss geführt haben können.«

»Entschluss?«, brüllte sie den überraschten Polizisten an. »Was für einen Entschluss bitteschön?« Paris sprang von ihrem Arm.

Bevor der junge Kommissar ihr antworten konnte, trat ein älterer Mann mit einem Alukoffer von der Küche in den Flur. Er betrachtete Tilla sorgenvoll, nahm seine Brille ab und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts.

»Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust, Frau Leinwig. Ich habe ihre Mutter und ihre Arbeit immer sehr geschätzt.« Dann wandte er sich an den Polizeibeamten. »Es sieht tatsächlich alles nach einer Vergiftung aus. Die Symptome passen zu Aconitin. Sicherheit kann aber nur eine Obduktion geben, die ich in diesem Fall empfehlen würde.«

Andreas Kamenz nickte. »Das werde ich veranlassen. Ich danke Ihnen für Ihr schnelles Kommen, Herr Doktor Rosenberg.«

Der Graugekleidete nickte Tilla noch einmal zu und verließ dann das Haus. Tilla starrte ihm fassungslos nach, während das Wort Obduktion in ihrem Kopf nachhallte.

»Frau Leinwig, auf dem Küchentisch steht ein Gebräu mit einem wirklich ekligen Geruch. Sagen Sie, was ist Aconitum Napellus?«, fragte Kamenz in ruhigem Ton.

Tillas Zorn fiel in sich zusammen. Verwirrt antwortete sie: »Das ist Eisenhut. Wieso?«

»Unsere Leute haben das Kraut im Tee mit dem verglichen, was Ihre Mutter an Kräutern hortete. Es ergab sich eine Ähnlichkeit mit dem Inhalt einer Schublade, auf der Aconitum Napellus stand. Die Lade war herausgezogen und stand auf der Arbeitsplatte vor dem Fenster.« Vorsichtig fügte er hinzu: »Das war es, was ich mit dem Entschluss Ihrer Mutter meinte.«

Tilla starrte den jungen Mann verstört an. Selbstmord? »Hören Sie, das ist völlig unmöglich! Meine Mutter würde niemals …«, begann Tilla fahrig, um dann jedoch verwirrt abzubrechen. Es war ihr einfach nicht möglich, das Unaussprechliche auszusprechen.

»So etwas ist immer besonders schmerzhaft für die Hinterbliebenen«, bemerkte Kamenz leise.

Tilla hätte ihm am liebsten in das vor Mitgefühl triefende Gesicht geschlagen, doch ihre Hand mit den klappernden Armreifen hob sich lediglich, um wirr durchs Haar zu fahren.

»Sie verstehen nicht … meine Mutter ist eine … wir sind … wir haben eine besondere Religion. Selbstmord … stört das Gleichgewicht«, haspelte Tilla, sah aber, dass er nichts davon verstand. Wie sollte er auch. Verzweifelt wedelte sie mit den Armen herum. »Meine Mutter würde sich doch nicht … umbringen. Sie war eine anerkannte Heilpraktikerin. Sie war beliebt. Ich wüsste wirklich nicht, was sie zu einem Selbstmord treiben sollte!«

»War sie vielleicht krank?«

»Krank?«, wiederholte Tilla dümmlich. »Äh, nein. Nicht, dass ich wüsste.«

»Würden Sie es denn wissen?«

Tilla erstarrte.

»Sehen Sie, manchmal verheimlichen die Menschen so etwas. Die Nachbarn sagten, Hedera Leinwig habe allein gewohnt. Sie wohnen also nicht hier? Wann waren Sie zuletzt hier?«

Tilla blickte den jungen Polizisten an. Seiner Frage haftete nichts Vorwurfsvolles an und doch war es ein Vorwurf. Einer, den sich Tilla selbst machte. »Ich … es ist schon etwas her. Ich habe bis vor kurzem in Göttingen gewohnt, wegen meines Studiums. Dann kam der Umzug, da habe ich sie nicht so häufig gesehen.«

Kamenz machte ein zustimmendes Geräusch und zog ein Notizbuch aus seiner Tasche. »Umzug? Und wo wohnen Sie jetzt?«

»In Braunschweig, also in Lehndorf.« Tilla nannte ihm ihre Wohnanschrift.

Während er schrieb, fragte er: »Dieses Aconitum Napellus, Eisenhut, es ist ziemlich giftig, oder?«

Tilla schlang die Arme um den Körper und sagte abweisend »Ja.« Sie wollte nicht mehr reden. Sie wollte hier weg, allein sein.

»Sie konnten mir sofort den deutschen Namen für das Kraut nennen. Verstehen Sie auch etwas von all diesen …« Sein Stift machte eine kreisende Bewegung in Richtung des Zimmers, in dem Hederas Apotheke untergebracht war. »… von all diesen Giftkräutern?«

Sein dunkles Haar war kurz geschnitten und nach hinten gekämmt. Ein paar Strähnen hatten sich dennoch aus der Gelstarre gelöst und standen rebellisch nach vorn. Seine blauen Augen, die zu Beginn des Gespräches noch etwas müde gewirkt hatten, schienen nun wacher und eine Nuance schmaler geworden zu sein.

Tilla begann ihre Antwort abzuwägen. »Nein, ich verstehe nicht viel davon. Pflanzenkunde ist natürlich etwas, mit dem ich aufgewachsen bin, es ist der Beruf meiner Mutter. Sie ist … sie war eine Naturheilkundige. Aber ich hatte nie viel damit zu tun.«

Kamenz Blick ruhte eine Weile auf ihr. »Kann sie sich mit der Dosierung irgendwie vertan haben?«

Tilla antwortete ungehalten: »Man kann sich nicht mit einer Dosierung vertun, Eisenhut ist einfach nur verdammt giftig.«

»Wenn das Zeug so giftig ist, wozu hatte Ihre Mutter dann so etwas?«

Tilla versuchte sich zu erinnern, wozu man Eisenhut einsetzte. »Ich glaube, meine Mutter machte Salbe daraus. Gegen starke Schmerzen.«

»Aha. Ein Tee aus Eisenhut war also eher ungewöhnlich?«

Tilla war verwirrter als je zuvor in ihrem Leben. Nach einiger Zeit antwortete sie mit dünner Stimme: »Ein Tee aus Eisenhut ist absolut tödlich.«

Kapitel 6


Mädchenreden vertraue kein Mann, noch der Weiber Worte.

Auf geschwungnem Rad geschaffen ward ihr Herz, trug in der Brust verborgen.

– Edda, Hávamál, des hohen Lieds 83 –

Er konnte es nicht fassen. Auch wenn sie dreißig Jahre älter geworden war, so hatte sie doch nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Ganz im Gegenteil – das Leben, das man ihr durchaus ansah, hatte ihre besondere Ausstrahlung noch um einiges vergrößert. Sie gehörte zu den Menschen, denen die Zeit einfach nichts anhaben konnte. Wieso wunderte er sich darüber? Sie war schließlich eine Hexe. Sagte man Hexen nicht nach, dass sie Raum und Zeit beherrschten? Ein Lächeln stahl sich in seine Züge, was selten passierte. Die ungewohnte Gefühlsregung erstarrte und verflog. Sie war tot. An dem Gift gestorben, das auch ihn um ein Haar nach Walhall gebracht hatte.

Wieder einmal war er dem Tod nahe gekommen, sehr nahe. Er war sicher, beim nächsten Mal würde der Tod gewinnen. Was sie anging, war er wirklich keinen Deut klüger geworden. Ihr gastfreundliches Gehabe, wie hätte er sich gewünscht, dass es ehrlich gewesen wäre. Doch noch als sie ihm zu verstehen gab, dass sie genau wusste, was er suchte, war ihm der Gedanke an so einen perfiden Angriff gar nicht gekommen. Er hatte noch darauf geachtet, dass sie zuerst von dem Tee trank. Dann hatte auch er ein paar beherzte Schlucke genommen und sich über den bitteren Geschmack hinter der Süße gewundert. Es brauchte einige Minuten, bis er ihren Plan erkannt hatte, und da war es schon fast zu spät gewesen. Sein Mund hatte gebrannt, sein Körper gekribbelt und der kalte Schweiß war ihm ausgebrochen. Sofort war er aus der Küche geeilt und hatte sich übergeben. Wie hatte sie die schmerzhaften Auswirkungen des Giftes nur unterdrücken können? Gegen seinen Willen stieg Hochachtung in ihm auf.

Erst nach einer Ewigkeit hatte er sich wieder genügend unter Kontrolle gehabt, um das Telefon bedienen zu können. Seine Leute, die er herbeordert und die das Haus gründlich durchsucht hatten, konnten nichts finden. Rein gar nichts.

Immer wieder dachte er über die Möglichkeit nach, dass sie die Suche vielleicht doch aufgegeben hatte. Aber hätte er dann nicht wenigstens die Aufzeichnung über das Artefakt finden müssen? Nein. Der einzige Grund dafür, dass er gar nichts fand, war der, dass er nichts finden sollte. Ihr Versteck war genial, da war er ganz sicher. Sie hatte ihn überlistet. Das völlige Ausbleiben von Ärger erstaunte ihn. Ihr Venuszauber hatte ihn wohl noch immer im Griff, über ihren Tod hinaus. Nicht dass er je der Typ gewesen wäre, der an so etwas wie Zauberei glaubte. Obwohl … sie hatte ihr Leben für dieses Artefakt gegeben. Ein Artefakt, von dem man annahm, dass es rund zweitausend Jahre alt war. Und wenn ihm wirklich eine so starke Magie innewohnte, wie die Sage behauptete? Er hielt nicht viel von alten Sagen, doch nun erfüllte ihn plötzlich ein geradezu bohrendes Verlangen nach dem Artefakt.

Er stieß die befremdlichen Gefühle mit einem ärgerlichen Schnaufer aus. Ob magisch oder nicht, wenn er das Kleinod fand, stand ihm in der Organisation jeder Weg offen. Kaum jemand wusste, wie dicht Hedera davor gestanden hatte, den Kreis der Geschichte zu schließen. Nur er. Er … und sein Bruder. Das kurze Hochgefühl zerstob. Seit jenem verhängnisvollen Abend vor dreißig Jahren hatte er nichts mehr von Gerfried gehört. Seit dem Abend, an dem man ihn fast getötet hatte.

Es gab viele Dinge in seinem Leben, für die er den Tod verdient hätte. Er war ein kompromissloser Killer. Einzig damals hatte er nichts weiter getan, als sich in eine Hexe zu verlieben. Und er war sicher, dass sie seine Gefühle erwidert hatte. Heute mehr als damals. Ihm war nicht entgangen, wie die Härte in den tannengrünen Augen immer wieder aufbrach und ein Sog von Sanftmut ihn einhüllte. Doch dann hatte sie ihm und sich das Gift eingeschüttet. Er war sicher, die Erklärung dafür war dreißig Jahre alt. Was nur war damals geschehen? Seit damals hatte er sich der Frage verweigert, warum man ihn durch den Wald gehetzt hatte. Hederas Verrat, den er bis heute nicht verstand und den er damals nicht im Mindesten erwartet hatte, war der Grund für diese Weigerung. Ihr Brief, der ihn seinerzeit den Häschern auslieferte, hatte ihn fast das Leben gekostet. Vor einer Woche hatte sie ihn mit einem Tee erneut an die Schwelle des Todes geführt.

Langsam drehte er sich auf seinem teuren Schreibtischstuhl um und blickte durch das Fenster aus kugelsicherem Glas über die verschiedenen Rottöne der Dächer Ilsenburgs. Unten vor dem Haus strebte die stets zornige Ilse durch den kahlen Novemberwald zu Tal.

Es waren einfache Dorfburschen, die in jener Nacht zu Killern wurden. Sein Glück, dass sie es versäumten, ihm die Beine zu brechen. So hatte er sich doch noch bis zur Harzhochstraße schleppen können, wo ihn der Alte aufgelesen hatte. Der nahende Tod hatte ihn nicht halb so verstört wie das Jahr danach, das von Schmerzen und Hilflosigkeit erfüllt gewesen war. Das Sehfeld seines rechten Auges war seither eingeschränkt, und eine von Zeit zu Zeit aufsteigende Taubheit im rechten Arm erinnerte ihn daran, dass man ihm damals den Schädel eingeschlagen hatte. Er hatte die Zeit der Schwäche überwunden. Das Schwert, Gabe seines Vaters und Zeichen seines Ordens, war ihm auf diesem Weg hilfreicher gewesen als jeder Arzt. Seine Ordensbrüder hatten es ihm gebracht, nachdem sie seine und Gerfrieds Studentenwohnung nach diesem verhängnisvollen Abend von allen Zeichen des Ordens befreit hatten. Mit diesem Schwert hatte er seinen Körper so unnachgiebig trainiert, dass es noch heute niemand in seinem Umfeld mit ihm aufnehmen konnte, was ihn mit leisem Stolz erfüllte. Immerhin war er doppelt so alt wie die, die unter seinem Befehl standen. Seine Fähigkeiten sicherten ihm ein solides Salär und der Organisation führte sein Können hervorragend ausgebildete, junge Kämpfer zu. Er unterhielt mittlerweile zahlreiche Kampfsportschulen in ganz Deutschland. Die Organisation war sehr zufrieden mit ihm. Was würden sie erst sagen, wenn er das Artefakt fände?

Sein Blick wurde starr. Hedera war tot. Sie konnte ihm nicht mehr sagen, wo es war. Und doch wusste er, sie hatte es. Um in ihre Denkmuster hinein zu finden, musste er sich den Geschehnissen von vor dreißig Jahren stellen.

382,08 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
594 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783947167081
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