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»Scheiße! Ich weiß es doch auch nicht«, antwortete Berking seinem Freund und Kollegen ungehalten. Hoffnungsvoll blickte er einem Uniformierten entgegen, der von einem Rundgang durch das Haus zurückkam. Dessen Kopfschütteln ließ Berkings Gesichtszüge geradezu gefrieren. »Dieser Anton Müller muss seine Kumpels irgendwie gewarnt haben!«

»Wie denn? Der sitzt in U-Haft«, hielt Schüssler dagegen.

»Irgendwer hat die Bande aber gewarnt«, erwiderte Berking ungehalten.

»Tja, Berking, die sind wohl besser organisiert als wir«, murrte Harmsen und machte Anstalten zu gehen.

Berking fluchte lauthals und schimpfte dann vor sich hin: »Wir brauchen endlich Namen! Unsere Kollegen müssen sich diesen Müller noch mal vornehmen.«

Dieser Fehlschlag hatte gerade noch gefehlt. Es war ein grauenhaftes Jahr gewesen, dessen Ereignisse selbst eine so kleine Polizeidienststelle wie die von Goslar nicht unbeeindruckt gelassen hatte.

Für Hanjo Berking hatte das Jahr 1977 mit einer hässlichen Häufung von Katastrophen begonnen. Erst war ein Freund von ihm bei dem Einsatz in Grohnde schwer verletzt worden, und kurze Zeit später waren seine Eltern bei dem Flugzeugabsturz auf Teneriffa ums Leben gekommen, der mittelbar mit einem Bombenattentat zu tun hatte. Das vergangene Jahr war nicht nur für ihn ein schwieriges gewesen. Die Ordnungskräfte vibrierten geradezu, selbst im beschaulichen Goslar. Allerorts erwartete man neue Zusammenschlüsse von gewaltbereiten Weltverbesserern. Waren es im Norden eher linke Gruppierungen, so hatten sie es im Harz und seiner Umgebung zumeist mit Rechtsradikalen zu tun. Hanjo hatte schon lange aufgegeben, den Unterschied begreifen zu wollen.

Nun stand er in diesem verdammten Haus mitten in der Feldmark unweit der Grenze, dessen Leere nicht nur die Goslarer Polizei, sondern vor allem ihn persönlich der Lächerlichkeit preisgab.

Hanjos Blick richtete sich auf den Rücken seines Vorgesetzten Harmsen, der den Tatort verließ. Er hatte Mühe, seinen Zorn zu zügeln. Hanjo zwang seinen Blick von seinem Chef weg und ging durch den Flur in eine Art Wohnzimmer, hinter dessen Fenstern sich eine weitläufige Ackerfläche erstreckte. Die Wände waren mit allerlei Symbolen versehen worden, von denen Hanjo einige als nationalsozialistisch erkannte. Am Kopfende des Zimmers prangte eine recht kunstvolle Zeichnung an der Wand, die an die überschwänglichen Bilder der Jahrhundertwende erinnerte. Ein von Eichenlaub umranktes Schwert in einer Art Wappen schwebte einem Altarbild gleich in Augenhöhe. Die Waffe mit ihren Rankenmustern und dem verzierten, in einem großen Stein mündenden Griff mit Strahlenkranz war so kunstvoll in Szene gesetzt, dass man fast meinte, es von der Wand nehmen zu können.

»Das Bild zeigt zumindest, dass sie hier gewesen sind«, stellte Schüssler mit Blick auf die Wandzeichnungen fest. »Was bedeuten denn all diese doppelten Achten?« Er wies auf die anderen Wände, wo sich diese Zeichen mehrfach wiederholten.

»Der achte Buchstabe des Alphabets ist ein H. Doppel-H steht für ›Heil Hitler‹ «, knurrte Hanjo fahrig.

»Und diese Symbole? Sind das überhaupt Buchstaben?«

Hanjo Berking schüttelte den Kopf. »Die kenne ich auch nicht, außer dem SS-Zeichen hier.« Nachdenklich schritt er die Wände des Hauses ab. »Ulli, sorg doch bitte dafür, dass ein Fotograf das verewigt«, verlangte er nun.

Ullrich Schüssler nickte und ging nach draußen, um von einem der Einsatzfahrzeuge einen Funkspruch abzusetzen.

»Kommissar Berking …«

Hanjo drehte sich zu dem uniformierten Kollegen um.

»Im Keller sind Blutspuren. Ist aber nicht viel, eher so ein paar Spritzer.«

Hanjo Berking folgte dem Kollegen in einen erstaunlich hohen Kellerraum. Er ließ den Blick über die dunklen Flecken an Wand und Boden schweifen. Dabei fielen ihm Haken in der Decke und tiefe Rillen in den Wänden auf.

»Die Ringe waren vielleicht für Boxsäcke. Könnte ein Raum für Kampftraining gewesen sein«, murmelte Hanjo Berking. »Staubt das ganze Haus ein. Ich will jeden Fingerabdruck in diesem Haus, jedes Haar und jede Faser in der Akte haben.« Sein Blick fiel auf die Blutspritzer. »Nehmt auch davon Proben.«

»Wozu das denn?«

»Vielleicht können unsere Laborratten ja eine Blutgruppe feststellen oder so was. Nehmt einfach Proben und packt es ein!«, herrschte Berking den Kollegen unnötig grob an. Dann ging er nach draußen und tat, als würde er sich den Garten ansehen. Er hatte versagt.

Nach einer Weile gesellte sich Ullrich Schüssler hinzu, der ahnte, wie seinem Freund zu Mute war.

»Der Fotograf kommt«, erklärte er unbeholfen und starrte ebenfalls über die ungepflegte struppige Fläche, die an einer vereisten, krautigen Hecke endete.

Hanjo stierte missmutig schweigend in die kahle Winterlandschaft. Die Wintersonne war in dem aluminiumfarbenen Himmel nur zu ahnen.

»Mensch, Hanjo … mach dir keine Vorwürfe. Immerhin wissen wir jetzt, dass du mit deinem Verdacht richtig lagst. Hier war wirklich eine rechtsradikale Truppe am Werk. Das zählt!«

»Sie sind uns aber durch die Lappen gegangen«, haderte Hanjo. »Monatelange Arbeit … alles umsonst.«

»Wir hatten die Adresse doch gerade erst aus diesem Müller herausbekommen. Hanjo, dafür kann keiner was!«

»Wahrscheinlich rekrutieren sie woanders schon die nächsten Jungen, die einfach nur nach Idealen suchen.«


»Also auch verschwunden«, stellte Hanjo Berking müde fest. Er kippelte mit seinem Stuhl herum und schaute leer aus dem Fenster. Es schneite schon wieder.

»Ja, die Wohnung war völlig verwüstet. Sieht ganz nach einem Kampf aus. Aber eines ist merkwürdig … « Ullrich Schüssler blätterte in einer Akte, die er nun auf Berkings Schreibtisch fallen ließ. »Sein Wagen wurde in Braunlage gefunden. Gar nicht weit von dort, wo die Kleine wohnte, die vergewaltigt wurde.«

Hanjo Berkings Stuhl kam lautstark auf allen vier Füßen zu stehen. »Was?«, fragte er völlig unnötig, denn er hatte seinen Kollegen überdeutlich verstanden. In den letzten Wochen war es ihm fast gelungen, das Gesicht der jungen Frau aus dem Kopf zu bekommen, an die er so ungebührlich oft hatte denken müssen. Ungebührlich deshalb, weil diese Gefühle einen Verrat an seiner Frau Annalena darstellten, die er doch liebte.

»Hatte sich denn noch etwas wegen der Kleinen ergeben?«, fragte Schüssler vorsichtig.

Berking entging der forschende Blick seines Kollegen nicht. Er gab sich nun betont unbeteiligt.

»Die Vergewaltigung meinst du? Nee. Ich glaube auch nicht, dass wir da etwas herausbekommen. Sie leugnet die Sache. Und ihre Freundin mauert ebenso hartnäckig.«

»So ein Blödsinn!«, maulte Schüssler. »Ob sie den Scheißkerl kennt?«

»Entweder das … oder sie schämt sich.«

»Wie kann man sich dafür schämen, wenn man vergewaltigt wird?«, begehrte Schüssler auf.

»Na ja, meist geht der Vergewaltigung ja doch ein gewisses Geplänkel voraus. Ein Blick hier, ein Lächeln dort – und das ist es, wofür sich die Frauen schämen«, meinte Hanjo, während er eine kurze Notiz in eine der Akten schrieb.

»Hm«, grummelte Schüssler. »Sag mal, weißt du eigentlich, dass sich einige Burschen dort oben eine kernige Prügelei geliefert haben? Dieser Dr. Volkers hatte noch mal hier angerufen. Muss wohl eine Woche vor unserer Hausstürmung gewesen sein.«

Nun schaute Hanjo doch auf. »Die haben sich geprügelt? Und?«

Schüssler lachte und schüttelte den Kopf. »Ich hatte diesen Dr. Volkers zurückgerufen. Er meinte, einer von denen hatte wohl sogar eine üble Stichwunde im Bein, aber keiner hat dem Arzt etwas sagen wollen. Eine Anzeige gab es auch nicht. Nichts.«

Hanjo lächelte müde. »Tja, das ist eine eingeschworene Gesellschaft dort oben. Wir werden wohl nie erfahren, was dort vorgefallen ist. Hätte sich nicht dieser Dr. Volkers damals gemeldet, ich bezweifle, dass wir überhaupt je von der Vergewaltigung erfahren hätten.«

»Ist ein vernünftiger Mann, dieser Doktor. Meine Güte, war die Kleine hübsch«, meinte Schüssler versonnen.

Hanjo Berking gab ein knappes »Ja« von sich und versuchte die tannengrünen Augen und die roten Locken mühsam aus seiner Erinnerung zu verdrängen. »Und der Wagen von unserem Obernazi ist dort gefunden worden?«

»Ja. Aber der Bursche ist wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte ja weder unter seinen Nachbarn noch in der Uni Freunde. Die wenigen, die ihn von den Vorlesungen kannten, beschrieben ihn als ziemlich verschlossen. Nach Aussage seines Professors für…« Schüssler warf einen Blick in seine Akte, »… für Physik war er hochintelligent. Seit Beginn der Weihnachtsvorlesungspause hat ihn niemand mehr gesehen. Ich denke, der wurde dort unter falschem Namen geführt, so etwas ist für unsere Nazifreunde ja kein Problem. Und dort, wo wir seinen Wagen gefunden haben, will ihn niemand gekannt haben.« Schüssler blätterte weiter und sagte nachdenklich: »Dann hat sich noch ein Bundeswehrsoldat oben aus Clausthal abgesetzt. Von dem fehlt auch jede Spur. Aber das hat mit unserem Fall wohl nichts zu tun.«

Berking starrte nachdenklich seine Tischplatte an. »Für unsere Gegend ein bisschen viel Zufälle.«

Schüssler schaute auf. »Du vermutest doch wohl da keinen Zusammenhang?« Er schüttelte lachend den Kopf. »Jetzt wirst du aber paranoid, mein Lieber!«

»Wahrscheinlich«, maulte Berking, zog sich seine Telefonkartei heran und suchte sich die Nummer von Dr. Volkers heraus.

Kapitel 1


Aus Liebe zu der Keltin Kamma tötete der Fürst Sinorix deren Gatten Sinatos.Nach langem Zögern gab Kamma dem Werben des Sinorix nach und lud ihn in den Artemis-Tempel ein, deren Priesterin sie war. Sie bot ihm einen vergifteten Weihetrank, nachdem sie vorgekostet hatte. Sinorix tat es ihr nach und trank. So tötete sie den Mörder ihres Mannes und opferte dafür ihr Leben.

– Plutarch Moralia 257 F –

Dreißig Jahre später

Hedera konnte an nichts anderes mehr denken als daran, dass sie ihrer eigenen Geschichte begegnet war. Sie hatte ihn wieder gesehen. Und was noch schlimmer war, er hatte sie gesehen. Erst hatte sie geglaubt, einem Trugbild aufzusitzen, denn sie wähnte ihn längst im Zwischenreich. Doch er war am Leben.

Auf den Hochwiesen von Braunlage hatte sie Blätter des roten Fingerhutes sammeln wollen, um daraus eine Wundverbandabkochung für einen ihrer Patienten zu machen. Fingerhut gab es auch hier im Tal. Wieso trieb es sie immer wieder zu einem Ort, wo man sie verhöhnt und gedemütigt hatte? Warum war er dort gewesen? Er, der ihr Leben fast zerstört hatte. Wegen dem, was er getan hatte, war sie vor dreißig Jahren aus Braunlage weggegangen, damit ihre Tochter Tilia, die von allen Tilla genannt wurde, ohne das Getuschel der Nachbarn aufwachsen konnte. Tilla.

Ihr wurde eiskalt. Warum kam er gerade jetzt zurück? Ahnte er etwas? Was würde er tun, wenn er von Tilla erfuhr? Sollte sie ihre Tochter warnen? Nein! Hedera wusste genau, dass Tilla, wenn sie von ihm erfuhr, schnurstracks zu ihm gehen würde. Nein, so ging es nicht. Hedera ließ den Kopf sinken.

Ihre Tochter hatte den alten Glauben immer abgelehnt und Hedera hatte sie gewähren lassen. Den alten Glauben zu praktizieren, forderte viel von einem. Es war nicht für jeden der richtige Weg. Der, der ihn gehen wollte, musste sich bewusst dafür entscheiden. Sie wusste, Tilla hatte den Ruf der alten Götter vernommen, doch noch hatte sie sich nicht entschieden. Ihr scharfer, von erlerntem Wissen dominierter Verstand überlagerte den Teil ihrer Persönlichkeit, den man für den alten Glauben brauchte. Würde Tilla je in der Lage sein, sich einer Sache zu widmen, die über das Erklärbare hinausging?

Hederas Blick fiel auf die Manuskriptseiten ihres Buchentwurfes auf dem Arbeitstisch in ihrer Apotheke. Sie hatte einen Weg gefunden, die Sage am Leben zu erhalten. Ein Weg, der vielleicht der falsche war, doch sie hatte keine Wahl mehr. Nicht mehr, seit er zurückgekommen war. Nach seinem Tod hätte es vorbei sein sollen. Aber er lebte und er würde seine Suche nach dem Artefakt fortsetzen.

Sie musste ihre Tochter warnen, ihr so vieles erklären, aber würde Tilla die Gefahr überhaupt begreifen? Sie wusste, ihre Tochter war eine Kämpferin, wenn es sein musste. Doch zurzeit ging sie noch allem aus dem Weg, was nach Anstrengung, Verantwortung oder gar nach dem alten Glauben roch. Hedera seufzte tief. In der heutigen Welt war kein Platz für Magie. Für Hedera hingegen war es Teil ihres Lebens. Nicht nur die Historie, auch die Natur bestimmte ihr Leben. Sie war Heilpraktikerin. Einige ihrer Patienten kamen von weit her, um sich von ihr behandeln zu lassen. Ausnahmslos alle gingen ruhiger und zufriedener, als sie gekommen waren, obwohl sie keineswegs alle heilen konnte. Sie konnte so vielen helfen. Warum war sie zeit ihres Lebens an ihrer Tochter gescheitert?

Mit professionellem Blick überprüfte Hedera die kopfüber hängenden Pflanzen. Mit zarten Bewegungen befühlte sie hier die Festigkeit eines Stängels, dort den Restfeuchtegehalt einer Blüte. Der Göttin sei dank war der Sommer etwas trockener gewesen als der vorangegangene. Die Pflanzen waren langsamer gewachsen und hatten mehr Wirkstoffe ansammeln können. Sie war zufrieden mit ihrer Ernte. Zart strichen ihre Finger über die filigranen Blüten, die ihre Farbe noch immer nicht verloren hatten. Würden sie je zur Anwendung kommen? Zweifelnd sah sie sich in ihrer Apotheke um, die viele hundert, zum Teil sehr seltene Kräuter beherbergte. Nein, es würde nicht mehr lange dauern, bis er sie gefunden hatte.

Hedera vertrieb die schmerzhafte Erinnerung. Liebevoll strich sie ihrer Katze, die selbstsicher auf dem Fensterbrett thronte, über den schwarzseidigen Kopf und ging dann nach draußen, um die letzten Strahlen der Herbstsonne zu genießen. Paris sprang elegant von ihrem Thron und folgte Hedera zu der Bank unter der Linde, wo sie sich genüsslich auf dem kleinen hölzernen Tisch zusammenrollte. Hedera wusste, dass sich bald der Kreis ihres eigenen Lebens schloss. Aufgrund ihres Glaubens hatte sie keine Angst vor dem Tod, aber dass durch ihren Tod etwas unendlich Wichtiges unvollendet bleiben könnte, beunruhigte Hedera viel mehr.

Sie wusste mittlerweile, was dieser vermaledeite Gegenstand im Laufe der Zeit schon alles angerichtet hatte. Zuletzt hatten Hitlers Schergen danach gesucht, der Göttin sei Dank erfolglos. Dann war er gekommen und hatte sie so umschwärmt. Doch eigentlich hatte er nur das Artefakt im Sinn gehabt. Wie hatte sie nur glauben können, dass er Gefühle für sie hegte?

Aber wie sollte sie Tilla all das erklären? Ihre Tochter, deren beste Freunde Computer, Fernseher und ihr elektronisches Spielzeug waren. Nur ihr Name Tilia – die Linde – erinnerte noch an die Göttin Erde. Doch sie verweigerte sich sogar ihrem Namen. Immer hatte sie sich selbst lieber Tilla genannt. Ihre kleine Tochter, die in ihrem toten Vater einen Helden sah. Hedera schloss die Augen. Würde Tilla die Wahrheit verkraften? Sie musste. Es wurde Zeit, dass sie erwachsen wurde. Bei ihren keltischen Urahnen galten Kinder mit zwölf Jahren als erwachsen. Ihre Tochter hatte wirklich lange genug Zeit gehabt.

Hedera saß noch eine Weile in ihrem geliebten Garten und beobachtete das Spiel des Windes mit den Blättern und Ästchen, bis ihr zu kühl wurde und sie ins Haus ging. Im Wohnzimmer glitt ihr Blick über die Fotografien an der Wand. Wie schon so oft musste sie lächeln. Da gab es ein Foto von Tilla, auf dem sie übermütig einen Waldweg entlanglief und sich auf Hederas Zuruf hin umdrehte. Daneben hing ein uraltes Foto von ihr selbst. Ihre Miene hatte damals die gleiche Unbekümmertheit gehabt wie die von Tilla auf dem Foto daneben. Es musste wohl ein Jahr vor dem schrecklichen Abend aufgenommen worden sein. Es war fast schon unheimlich, wie sehr sie sich ähnelten. Tilla war etwas größer als Hedera, aber ihre Gesichter und vor allem ihr rotes Haar glichen sich so sehr, dass sie auf diesen Bildern Zwillinge hätten sein können. Eine Sache gab es aber doch, die sie beide unterschied. Von Tillas Augen glich nur eines den grünen Augen ihrer Mutter, das andere war von hellem Braun. Die verschiedenfarbigen Augen passten zu der Zerrissenheit ihrer Tochter.

Hederas Lächeln wich einem schmerzlichen Ausdruck, denn sie wusste, sie musste die Fotos vernichten. Sie musste alles vernichten, was auf Tillas Existenz hinwies. Nur so konnte sie ihre Tochter schützen.

Widerstrebend nahm sie die Bilder von der Wand und trug sie in die Küche. Ihr Blick fiel auf eine alte Kinderzeichnung, deren vergilbte Fläche bis zur kleinsten Ecke mit vielen hübschen Einzelbildchen gefüllt war. Hedera lächelte. Dieses Bild zeigte nicht nur das Zeichentalent ihrer Tochter, es offenbarte auch ihren unruhigen Geist, der seine Ideenfülle und seine Neugier auf Neues kaum zügeln konnte. Seufzend nahm sie das Bild von der Küchenwand und legte es auf den Stapel, der vernichtet werden musste. Hedera blickte auf den Platz in der Eckbank. Tillas Platz. Hier hatte ihre Tochter immer gesessen und die Zeilen der Tageszeitung durchpflügt, wenn dort ein Fortsetzungsroman abgedruckt worden war. Hedera lächelte bei der Erinnerung daran, dass ihre aufbrausende Tochter jeden Tag aufs Neue laut schimpfend kundgetan hatte, dass sie die nächste Folge jetzt und augenblicklich lesen wollte.

Das war es! Die Idee, wie sie ihre Tochter erreichen konnte, kam geradezu elektrisierend. Tilia gierte nach all den Dingen, die sie nicht haben konnte. Sofort strebte Hedera an ihren Arbeitstisch. Das Manuskript, sie musste Tilia neugierig darauf machen. Entschlossen begann sie ihren Buchentwurf in einzelne Blätterhaufen zu unterteilen. Dann holte sie Umschläge, versah sie mit Tillas Göttinger Adresse und steckte in jedes Kuvert ein Teil der Geschichte um das sagenhafte Schwert Harcylugh, bis ein Stapel von Postsendungen vor ihr lag.D

Kapitel 2


Doch des Heldengeschlechts Enkel verhüllten Hermanns Namen,

bis ihn Klopstock’s mächtige Harfe sang der horchenden Ewigkeit.

Heil, Cheruskia, dir!

– Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Harzgedicht, 1772 –

Harcylugh – von H. Lleynwitch. Verwundert blickte Tilla auf die Papierbögen in ihrer Hand. Lleynwitch, die Hexen von Lleyn. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Ihre Familie war aus Wales nach Deutschland gekommen. Ihre Großmutter hatte noch den ursprünglichen Namen Lleynwitch geführt, bevor ihre Mutter Hedera ihren Familiennamen in Leinwig hatte ›eindeutschen‹ lassen.

Dies ist die Geschichte des sagenhaften Keltenschwertes Harcylugh. Es entstand in einer Zeit, in der Magie ein ebenso notwendiger wie geschätzter Teil des Lebens der Menschen war. Über die Magie waren die Menschen mit ihren Göttern verbunden. Magie begleitete den ewigen Kreislauf des Jahres und des Lebens. Geführt von der Großen Göttin bemühten sich Menschen, es ihr recht zu tun und die große Waage im Gleichgewicht zu halten. Harcylugh – geschmiedet durch den Druiden Thurizan und geweiht durch die Götter des Harces – vereinte sowohl dunkle als auch lichte Kräfte in sich. Ob es Gerechtigkeit oder Vernichtung brachte, entschied sich durch die Seele dessen, der es führte. Stark, sehr stark waren seine magischen Kräfte. Eines Tages geriet die große Waage in Bewegung.

Der Druide Thurizan, dem die Götter sehr zugetan, schuf das Artefakt des Kampfes, um den Untergang seines Volkes zu verhindern. Thurizans Stamm lebte am Tor zum harten Holze der Region Harcynia und gehörte zum alten, allerorts verschwindenden Volke der Celtae. Wie alle Menschen mied auch der Stamm von Thurizan die höher gelegenen Regionen des Harces. Natur und Wetter waren dort so launisch wie der frühe April.

Die Götter liebten den Harce. Brigidh, die Himmelsgöttin, zog treu ihre Bahnen. Taranos ließ gern sein Rad des Donners über die Kuppen der Berge grollen, auf dass es in den Tälern widerhallte und das Moos neben den Bächen erzittern ließ und Lugh, der Lichtbringer, fing gern Taranos’ Blitze. Auch Cernunnos, dessen Haupt ein Hirschgeweih ziert, spielte hier seine machtvolle Magie der Fruchtbarkeit üppigst aus, sodass Wege an dem Dickicht wüchsiger Bäume und Pflanzen scheiterten. Harte Eichen, richtende Linden für das Thing, Buchen, in deren Spaltenstäbe Runen geritzt waren, und der immergrüne Lebensbaum, jeder älter als alle Bewohner des Dorfes zusammen, priesen Cernunnos‘ Macht im hohen Harce. Nur dort, wo Alisannos Stein auf Stein häufte, musste sich Cernunnos geschlagen geben. Aber seine Schutzbefohlenen, die Hirsche, mehrten sich zu großer Zahl. Dem Herrn der Fruchtbarkeit zur Seite stand Crodo, der Herr der Elemente, welcher den Harce mit unzähligen Quellen und mineralischen Schätzen reich begüterte. Der hohe Harce war ein Spielplatz der Götter, mit deren Launen sich niemand maß. Am Tor zum Harce lag ein gefälliges Dorf mit einem festen Zaun aus starkem Astwerk, in dem gute Menschen lebten. In diesem Zaunland entstand das magische Schwert.

Tilla legte die Blätter beiseite und betrachtete nachdenklich den Packen brauner Umschläge, die ihr per Nachsendeauftrag von Göttingen gefolgt waren. So etwas war typisch für ihre Mutter. Harcylugh … was hatte sie denn da wieder für ein Märchen ausgegraben?

Unwillig legte sie die anderen, noch ungeöffneten Umschläge beiseite. Es war schon verrückt. Nun lebte sie schon seit so vielen Wochen in Braunschweig, ohne dass sie ihrer Mutter und ihrer Heimat, dem Harz, einen Besuch abgestattet hatte. Die Briefumschläge erinnerten sie schmerzlich an ihr Versäumnis. Paradoxerweise sank Tillas Mut, sich bei ihrer Mutter zu melden, mit jedem weiteren Tag, denn sie war überzeugt, dass ihre Mutter wütend auf sie sei. Eigentlich wusste Tilla, wie falsch das war. Eigentlich …

Ob es ihre Vaterlosigkeit war oder das Los des Andersseins durch ihren keltischen Glauben, Tilla erwartete immer irgendeine Katastrophe. Daher kostete sie das Hier und Jetzt stets in vollen Zügen aus. Das Nachdenken über Konsequenzen ging ihr zumeist ab. Ihre Mutter, im Gegensatz zu ihr der ruhige, besonnene, aber auch leicht verklärte Typ, hatte sie immer dafür gemaßregelt.

Hedera Leinwig hatte stets etwas, was sie gedanklich beschäftigte, sehr zum Ärger ihrer Tochter. Tilla hatte seit jeher das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter nie ganz da war, wenn sie sich unterhielten. Außerdem hatte Hedera alles, was Tillas Vater betraf, aus ihrem Denken ausgeklammert. Dass ihre Mutter dafür Gründe gehabt haben könnte, hatte Tilla nie gelten lassen. Aus ihrer Sicht hatte Hedera ihr unendlich wichtige Informationen vorenthalten. Im Gegenzug hatte Tilla ihre Mutter dadurch bestraft, dass sie ihr keltisches Erbe ablehnte. Natürlich entsprach dies nicht ihrer wirklichen Überzeugung. Sie war eine Altgläubige und fühlte auch so.

Hedera war Tillas Tiraden immer mit Nachsicht begegnet. So etwas wie Zorn kannte ihre Mutter nicht. Im Grunde ihres Herzens wusste Tilla: Würde sie plötzlich vor der Haustür ihres Hauses auftauchen, ihre Mutter würde lächeln, sie hineinbitten und Tee kochen. Allerdings würde sie dies auch für jeden Staubsaugervertreter tun.

Abermals fühlte sie den Knoten des Ärgers in ihrem Bauch. »Verdammt!«, schimpfte sie laut auf sich selbst ein. »Ruf sie an!«, befahl sie sich und griff energiegeladen nach dem Handy, das sich just in diesem Augenblick mit einer kernigen Melodie meldete. Tilla sah kurz auf das Display, lächelte und nahm das Gespräch an: »Hi meine Süße. Wie geht’s dir?«

»Oh Tilla! Es wird immer krasser, echt nicht zum Aushalten. Papa hat mir meinen Computer weggenommen! Stell dir das vor!«, echauffierte sich das Mädchen am anderen Ende.

»Oh je, was hast du denn angestellt, Ninchen?«

»Ja, nix!«, empörte sich Nina.

»Na dann …«, meinte Tilla grinsend und wartete. Sie hörte die Zwölfjährige an ihrer Jacke nesteln.

»Na ja, ich hab da was in den Kühlschrank gelegt«, begann das Mädchen zögernd.

»Aha.« Tilla hörte, dass Nina unsicher den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und runterzog. Vermutlich war sie auf dem Schulhof. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr die Zeit der großen Pause. »Nun komm schon, was kann man denn in den Kühlschrank legen, was so einen Ärger heraufbeschwört, dass Achim dir den Computer wegnimmt?«

»Genaugenommen habe ich es nicht reingelegt, sondern im Kühlschrank freigelassen.«

Tillas Augen wurden groß. »Freigelassen? Was denn? Eine Maus? Nachbars Wellensittich? Oh, Nina!«

»Nee. Michi, du weißt schon, meine Freundin, sie hat ne Bartagame, die heißt Camilla.«

»Du hast eine Bartagame in den Kühlschrank gesetzt?«

»Nein, nicht Camilla … ihr Frühstück.«

Tilla runzelte die Stirn. »Und was fressen Bartagamen?«

»Och, Salat, Obst …«

»Nina!«, keifte Tilla ungeduldig.

»Und Schaben … große«, kam es kleinlaut aus dem Telefon.

»Oh nein!« Tilla schloss kurz die Augen. »Okay. Was ist passiert?«

»Mensch, ich wollte doch nur Papas Schnuckelchen ein bisschen ärgern. Aber ausgerechnet an diesem Abend trabt mein Papa selbst zum Kühlschrank. Er hatte sich grad eine Flasche Bier gegriffen … na ja, die landete dann in der Glastür vom Geschirrschrank hinter ihm und Paps schrie wie ’ne Scream Queen in einem Metzelfilm.«

Tilla musste kurz das Telefon herunternehmen, da ihr wegen des mühsam unterdrückten Lachreizes die Tränen übers Gesicht liefen. Ihr Ex, der wegen einer Schabe schrie und die nagelneue Designerküche verwüstete – herrlich! Sie atmete tief durch und antwortete in Gouvernantenton: »Oh, Nina, wirklich, ich fürchte, du hast dir damit keinen Gefallen getan.«

»Ach komm schon. Ich hab dich doch prusten gehört!«

Wieder ging Tillas Atem verräterisch stoßweise. »Ja schon«, gab sie betreten zu, »aber es hat doch keinen Zweck, dass du Achim so gegen dich aufbringst. Was hat denn Gerda gesagt?«

»Ach die, die bringt echt gar nix aus der Ruhe.«

»Und die arme Schabe?«

»Hat Papa ermordet!«

»Hast du was anderes erwartet?«

Das Telefon schwieg.

Tilla bohrte unbarmherzig nach. »Ninchen, du willst doch eine Hexe werden. Wie lautet der höchste Hexengrundsatz?«

»Schade niemandem«, repetierte Nina unbehaglich. »Aber Paps und Gerda hat es doch nicht geschadet, nur dem Geschirrschrank.«

»Und der Schabe? Hexen achten jedes Lebewesen.«

Nina seufzte vernehmlich. »Ach, Scheiße, ja, du hast ja recht.«

Tilla hörte die Schulglocke schrillen und meinte versöhnlich: »Die werden sich schon wieder beruhigen. Wirst sehen, in ein paar Tagen bekommst du deinen Computer wieder. Du brauchst ihn doch schließlich für die Schule.«

Nina stieß einen Seufzer aus. »Weißt du, das ist leider nicht alles. Als Papa dann meinen PC weggenommen hatte, kam er gestern Abend mit unseren E-Mails an.«

»Au Mist!«, entfuhr es Tilla.

Sie hörte Nina laufen. »Das war’s eigentlich, was ich dir sagen wollte. Nun bekommst du wahrscheinlich auch noch Ärger, Tilla. Das wollte ich nicht, echt nicht«, jammerte das Mädchen.

»Mach dir keinen Kopf! Das kriegen wir schon hin«, antwortete Tilla, überzeugt, dass dem nicht so war.

»Muss Schluss machen. Ciao!«

Tilla fluchte in sich hinein und ließ das Handy sinken.

Die E-Mails. Ausgerechnet. Dass Tilla weiterhin Kontakt zu seiner Tochter hatte, würde Achim keinesfalls hinnehmen. Ein Dr. Achim von Steinfels würde niemals verstehen, dass sie seine Tochter Nina einfach nur ins Herz geschlossen hatte. Für ihn war das Ganze irgendeine perfide Taktik, die einzig dem Zweck diente, ihm zu schaden. In seinen Augen war Tilla die ungeliebte, nicht vorzeigbare weil zu quirlige Ex, die nun auch noch nach Braunschweig gezogen war, obwohl er den Sargnagel seiner Karriere eigentlich in Göttingen wähnte. Sie war eine wandelnde Katastrophe und der Inhalt der E-Mails ein Sakrileg schlechthin. Sie ahnte, dass sie monumentalen Ärger zu erwarten hatte.

Tilla vereinte alle Eigenschaften in sich, die Achim von Steinfels hasste. Sie war sprunghaft, launisch, hektisch, unüberlegt und wegen ihres Glaubens alles andere als prüde. Als sie Achim eines Tages zwischen Frühstücksbrötchen und Müslijoghurt aufklärte, dass sie einem vorchristlichen Glauben anhing, hatte der sie angestarrt, als hätte sie gerade seinen Morgenespresso in Erdöl verwandelt. Eine Wicca, Pagan, heidnisch – so etwas kam für Achim von Steinfels der Aussätzigkeit gleich. Der Jurist hatte sie prompt entsorgt.

Dabei hatte Tilla ihm ihren Glauben bis zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich verschwiegen, sie hatte nur einfach nie darüber gesprochen. Tillas Offenbarung musste Achim geradewegs in die nächste Partnervermittlungsagentur gejagt haben. Knapp zwei Wochen später hatte sie ihre spärliche Habe in einem kleinen WG-Zimmer verteilen müssen, und in das damals im Bau befindliche Haus in Braunschweig war statt ihrer die ordentliche Lehrerin Gerda mit der artigen Bobfrisur eingezogen.

Zwar hatte Tilla nicht übermäßig unter dem Verlust von Achim gelitten, dafür hatte sie ihn einfach zu oft betrogen. Doch die Annehmlichkeiten, die eine Ehe mit einem angesehenen Juristen mit sich gebracht hätte, wären schon nicht schlecht gewesen – zumal sie auf ihrem eigenen, nicht gerade linear verlaufenden Berufsweg nicht recht weiterkam.

Sie hätte es ja noch verstanden, wenn er sie wegen ihres Fehltritts mit seinem Kollegen Peter rausgeschmissen hätte, wenn er den denn überhaupt mitbekommen hatte. Ihre Zeit mit Peter Ehlers, der wie sie aus Bad Harzburg stammte, war überaus vergnüglich gewesen. Resolut vertrieb sie die Erinnerung an den stets ruhigen Juristen mit den sanften braunen Augen. Nein, davon hatte Achim sicher nichts gewusst. Es durfte auch niemand erfahren. Peter hatte eine wundervolle Frau und zwei Kinder.

Sie musste sich besser in den Griff bekommen, was Männer anging! Sie war mittlerweile in einem Alter angekommen, in dem man Beziehungen gefährdete, wenn man so ungehemmt seinem Vergnügen nachging wie sie.

Tilla liebte kurze und unkomplizierte Affären. Der einzige Grund dafür, dass sie es ausgerechnet bei dem verknöcherten Achim mit einer längeren Beziehung versucht hatte, war Nina gewesen. Tilla mochte die clevere Zwölfjährige wirklich sehr und litt unter dem Kontaktverbot. Sie brachte es nicht übers Herz, Nina abzuwimmeln, die sie nach wie vor anrief, so oft es ging. Tilla hatte sich damals mit vollem Elan in die plötzliche Mutterrolle gestürzt, so wie sie fast alles mit ungeheurem Elan tat. Achim war dies gerade recht gewesen. Eine junge und somit formbare Frau, angehende Historikerin, die ihm die Tochter abnahm, die drei Jahre zuvor durch einen Autounfall mutterlos wurde, war ihm schon recht. Die Aufgaben eines alleinerziehenden Vaters waren schließlich nicht recht kompatibel mit dem prall gefüllten Terminkalender eines Achim von Steinfels. Obwohl Achim seine ›Hexe‹ abserviert hatte, war Tilla heimlich die Vertraute des Mädchens geblieben. Bis jetzt.

382,08 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
594 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783947167081
Издатель:
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