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Zur Erziehung und Unterrichtung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder verfügt die Bundesrepublik über ein differenziertes System unterschiedlicher Förderschulen. Es gibt Förderschulen (für Blinde, Sehbehinderte, Gehörlose, Hörgeschädigte, Körperbehinderte und für Kranke), die in Analogie zum Regelschulwesen zu sehen sind. In ihnen ist es wenigstens prinzipiell möglich, bis zur Hochschulreife zu gelangen. Schulen für den Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung und für den Förderbedarf Sprache streben nach entsprechendem therapeutischem Erfolg eine Rückführung in das Regelschulsystem an. Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen hingegen vermitteln einen eigenen Abschluss und bieten die Option einer externen Hauptschulabschlussprüfung. Schulen für Kinder mit Förderbedarf geistige Entwicklung führen meistens in eine beschützende Einrichtung. In einigen Bundesländern gibt es nachdrückliche Bemühungen, diese Differenzierung zu überwinden und Kinder mit Behinderung bzw. mit einem speziellen Förderbedarf in Regelschulen „integrativ“ zu fördern. Insgesamt werden gegenwärtig fast 66.000 (13,3 %) der Schüler mit Behinderung in Regelschulen integrativ unterrichtet. Die Integrationsquote variiert jedoch in Abhängigkeit vom Schweregrad der Behinderung, der Behinderungsart oder auch von der Höhe des Förderbedarfs beträchtlich (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2003). Im Zusammenhang mit der Integrations- und Inklusionsdebatte wird in der erziehungswissenschaftlichen Literatur und im Praxisfeld zunehmend der Begriff „behindert“ zu Gunsten der Umschreibung „Person / Schüler mit besonderem / speziellem Förderbedarf“ ersetzt.

Anforderungen an die Diagnostik

Primäres Ziel der sonderpädagogischen Diagnostik ist die Feststellung des besonderen Förderbedarfs mit einer anschließenden Entscheidung über den angemessenen Förderort (Förderschule oder Regelschule). Das dabei von Lehrkräften der Sonder- bzw. Förderschulen durchzuführende Verfahren ist weitgehend durch Verordnungen der Bundesländer geregelt, in denen u. a. eine medizinische und eine sonderpädagogisch-diagnostische Überprüfung verbindlich vorgeschrieben werden. Soweit es sich auf schulische Entscheidungen bezieht, ist das Verfahren für die verschiedenen Gruppen von Kindern mit Behinderung formal weitgehend gleich und von der Wahl des späteren Förderortes unabhängig. Verantwortlich für seine korrekte Durchführung ist die Schulaufsicht.

Spezielle Förderung kann darüber hinaus auch an Regelschulen unter Einbezug mobiler sonderpädagogischer Dienste an Sonderpädagogischen Förderzentren erfolgen. Die Regelschule hat an sich auch die Aufgabe, Schüler zu fördern. Hierzu ist ein von einem Kompetenzteam erstellter Förderplan hilfreich (Bundschuh 2019, 231–247, Kap. 6.6.3), d. h., auch an der Regelschule kann individuelle Förderung mittels eines Förderplanes durchgeführt werden.

Bei Kindern mit Sinnesbeeinträchtigung (-schädigung) oder Kindern mit Körperbehinderung erfolgt eine einschlägige Diagnostik bereits im Kleinkind- oder Vorschulalter (Kap. 5.2.2). Sie ist im Rahmen von Frühförderung teils medizinisch, teils pädagogisch-psychologisch an den Möglichkeiten sensorischer oder motorischer Förderung orientiert (Bundschuh 2019, 256–267). Bei Kindern mit Sprachstörung ist eine Diagnostik der Sprachentwicklung (Sprachdiagnostik), die in logopädische Therapien münden kann, schon im Vorschulalter möglich. Bei vorliegendem Förderbedarf geistige Entwicklung (traditionell „geistige Behinderung“) steht pädagogisch-psychologisch betrachtet die Diagnostik des Entwicklungsstandes mit Hilfe von Entwicklungsskalen und Entwicklungstests, speziell auch unter Anwendung diagnostischer Verfahren für verschiedene Schweregrade von Behinderung, und darüber hinaus die Diagnostik adaptiver Kompetenzen im Vordergrund (Kap. 5.2.2.2 bis 5.2.2.4). Entwicklungsstörungen, speziell auch Förderbedarf geistige Entwicklung, zu diagnostizieren bedeutet, sich an pädagogischen Prinzipien der Frühdiagnostik und Frühförderung zu orientieren.

Obwohl Verhaltensstörungen relativ frühzeitig diagnostiziert werden können, wird die Diagnose für viele Kinder erst im Grundschulalter relevant, wenn sie mit den Regeln für angemessenes schulisches Verhalten kollidieren. In der schulischen Praxis werden Aufmerksamkeitsstörungen (Aufmerksamkeitsdiagnostik) und soziale sowie emotionale Störungen (Bundschuh 2003, 159–180; 2019, 193–206, 219–229) häufig als dominierend beschrieben.

Förderbedarf Lernen tritt in der Regel im Gegensatz zu den übrigen Förderbedürfnissen (traditionell: Behinderungsarten) erst im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beschulung auf. Aus diesem Grund ist es grundsätzlich diskussionswürdig, inwieweit Lern- und / oder Verhaltensprobleme mit den Ressourcen des Kindes zusammenhängen oder als institutionelles Versagen der Schule zu betrachten sind.

Die Diagnostik von Kindern mit einem speziellen Förderbedarf erweist sich häufig als komplex, denn es muss meist auch die Kind-Umfeld-Diagnose einbezogen werden, teilweise verbunden mit der Problematik „Grenzfälle“ und Mehrfachbehinderung. Kinder mit Lernschwierigkeiten zeigen häufig auch Verhaltensstörungen; Kinder mit Sprachstörungen haben teilweise auch Schwierigkeiten im Lernen; sinnes- und / oder organgeschädigte Kinder können ebenso verhaltensgestört, sprachgestört oder lernbehindert sein wie sensorisch und körperlich gesunde Kinder. In solchen Fällen kann die vorgesehene Beschulung dann eher von äußeren Umständen (z. B. Erreichbarkeit von Schulen) als von konkreten Ergebnissen der Diagnostik abhängen.

Gerade die Diagnostik von „Lernbehinderung“ galt lange Zeit und gilt heute noch als problematisch im Kontext umstrittener Praxis.

Im Jahre 1973 verabschiedete der Deutsche Bildungsrat eine einflussreiche Definition von Lernbehinderung, die unterdurchschnittliche Intelligenzleistung und schwerwiegendes, umfängliches Schulversagen als bestimmende Merkmale von Lernbehinderung vorsah (Deutscher Bildungsrat 1973, 38). Die Diagnose Förderbedarf Lernen umfasst weit mehr als Intelligenzdiagnostik und Schulleistungsdiagnostik.

Die angeführte Definition von Lernbehinderung stimmt nicht, wie man vermuten könnte, mit dem überein, was im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch unter „learning disabilities“ verstanden wird. Diese werden als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher und unterscheidbarer Störungen (oder Schwierigkeiten) verwendet, die das Lernen beeinträchtigen können. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Rechenschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsstörungen gehören beispielsweise dazu. Learning disabilities werden vorwiegend als isolierte Teilleistungsstörungen bei durchschnittlicher Intelligenz betrachtet, die nicht zu „umfänglichem Schulversagen“ führen müssen. Sie fallen daher nicht unter den Begriff der Lernbehinderung.

Je umfänglicher der Förderbedarf – „das Schulversagen“ – eines Kindes ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Teilleistungsstörungen gemeinsam auftreten.

Insofern bedeutet eine Diagnostik von Lernbehinderung auch Sprachdiagnostik, Aufmerksamkeitsdiagnostik und Diagnostik von Lernstörungen.

Dies stimmt mit einem differenzierten Beschreibungsversuch von Kanter (1980) überein, in dem Lernbehinderung einerseits auf niedrige Intelligenz zurückgeführt wird und andererseits auf chronifizierte Lernstörungen, die neurologisch, konstitutionell, psychoreaktiv und / oder sozio-kulturell bedingt sein können. Es handelt sich demnach bei den Schülern mit einem speziellen Förderbedarf Lernen (bisher „Lernbehinderung“ genannt) um eine heterogene Gruppe. Dies zeigt sich auch an den Inhalten der diagnostischen Gutachten.

Aus Sicht der Psychologie unterscheidet sich der diagnostische Prozess bei Kindern mit einem hohen Förderbedarf (Kinder mit Behinderung) nicht grundsätzlich von sonstiger pädagogisch-psychologischer Diagnostik, allerdings liegt der Schwerpunkt auf der sonder- und heilpädagogischen Verantwortung. Im außerschulischen Kontext arbeiten Psychologen u. a. mit (Kinder-)Ärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern, Kindertherapeuten, Logopäden oder Physiotherapeuten zusammen. Dabei geht es um individuelle Diagnostik und Therapie, die in der Regel als unmittelbare Hilfe wahrgenommen werden. Im schulischen Kontext dagegen sind auch schwierige institutionelle Entscheidungen zu treffen, dabei sind Sonderpädagogen die professionellen Interaktionspartner.

In Ablehnung einer Diagnostik, die Selektionsentscheidungen im Schulsystem unterstützen oder gar legitimieren sollte, entwickelte sich das Programm Förderdiagnostik (Bundschuh 1994; 2007; 2019). Es geht dabei zunächst um das (Fremd-) Verstehen der Kinder, um Beziehungsgestaltung, ganzheitliche, qualitative und / oder prozessorientierte-systemische Sichtweisen. Quantitative Diagnostik (standardisierte Tests oder Kategoriensysteme) spielt vor allem im institutionellen Bereich eine Rolle. Darüber hinaus leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Erkennung von Ursachen (z. B. Wahrnehmungsstörungen, Ängste, psychische Probleme allgemein) und kann damit auch im Dienste einer differenzierteren Analyse einer Lern-Leistungs- und / oder Verhaltensproblematik und der sich daraus abzuleitenden Fördermaßnahmen stehen.

Man muss davon ausgehen, dass Behinderungen nicht isoliert auftreten, dass sie sekundäre Beeinträchtigungen im Gefolge haben. So kann man sagen, dass jedes Kind mit einer Behinderung auch „mehrfachbehindert“ sein wird, denn auch soziale und emotionale Bereiche sind in der Regel betroffen (Bundschuh 2003). Daraus ergibt sich die Aufgabe, durch Förderpläne und Einleitung kompensatorischer Maßnahmen Folgebeeinträchtigungen orientiert an vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen vorzubeugen.

Aber auch nach der Beseitigung einer Störung werden weitere Betreuung und Fürsorge notwendig sein, dafür müssen behindernde Bedingungen im Umfeld des Kindes analysiert und neutralisiert werden.

Man kann wie folgt den Gegenstand sonderpädagogischer Diagnostik beschreiben: Gegenstand einer sonderpädagogischen Diagnostik ist der Mensch / das Kind, der / das bezüglich einer (optimalen) Entfaltung seiner Möglichkeiten im geistigen, sozialen, emotionalen oder physischen Bereich gefährdet, bedroht, gestört oder behindert ist, wobei Prozesse der Isolation von der Aneignung der Welt (behindernde Bedingungen) stets mitgedacht werden müssen.

Einbezogen werden demnach in den Gegenstandsbereich die Sozialrückständigkeiten der Gesellschaft, die in der Form von Einstellungen, Verhaltensweisen, Gepflogenheiten, materiellen Bedingungen und gesetzlichen Regelungen, Gefährdungen, Störungen und Behinderungen teils verursachen, teils steigern, teils ignorieren und damit mögliche Hilfestellungen verhindern.

Aus diesem komplexen Gegenstand ergibt sich für die sonderpädagogisch-psychologische Diagnostik ein weites Aufgabenfeld.

3.3 Aufgabenbereiche sonder- und heilpädagogischer Diagnostik im Rahmen institutioneller und organisatorischer Entscheidungsfelder

Innerhalb unseres Schulsystems stehen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der individuellen Schulkarriere institutionelle Entscheidungen über den weiteren schulischen Werdegang an. Dabei stellt die Entscheidung für oder gegen den Förderschulbesuch eines Kindes oder Jugendlichen eine Besonderheit dar. Sie verlangt die Durchführung eines formellen Verfahrens, in dessen Verlauf eine pädagogisch-psychologische Diagnostik und Begutachtung erfolgt. Dieses Tätigkeitsfeld wird in der deutschen Sonderpädagogik als eine genuin pädagogische Aufgabe betrachtet, bei welcher der Psychologie nur der Status einer Hilfswissenschaft zugesprochen wird. In der Praxis werden daher in der Regel ausschließlich Lehrer für Sonderpädagogik mit dieser Aufgabe betraut; die Beteiligung von Diplom-Psychologen stellt eine Ausnahme dar, wenngleich Kooperation stets wünschenswert ist.

(1) Sie bemüht sich um die Diagnose des Erscheinungsbildes von „Beeinträchtigungen“ (Gefährdung, Störung, Behinderung, sonstige Probleme). Mit dem Erkennen einer Form der Gefährdung ist zugleich die Erforschung der Ätiologie des Phänomens unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes, speziell der Erziehungsfelder (Familie, Pflegefamilie, Heim, Schule) und der materiellen Umwelt sowie ökonomischer Bedingungen verbunden. Hinweise und Informationen oder nur Informationen erhält man durch Fremd- und Eigenanamnese (Kap. 5.3), durch Befragung von Eltern, Lehrern, weitere Bezugspersonen, Kind, durch vorliegende Schülerakten, manchmal auch durch den Einsatz von Testverfahren (Angst, Motivation, Wahrnehmung …). Bei der Frage nach der Ätiologie ist der diagnostizierende Sonderpädagoge auf ärztliche Untersuchungsbefunde angewiesen. Allerdings werden vom Mediziner nur Aussagen über physische Bereiche erwartet. Der Arzt kann z. B. Hinweise auf organisch bedingte Störungen geben, die zur Erklärung einer Verhaltensstörung beitragen können, oder er kann verweisen auf Sinnesbeeinträchtigungen, die von ärztlicher und pädagogischer Seite zu entsprechenden Aktivitäten führen müssen.

Es sollte nicht die Aufgabe des Arztes sein, einen Förderbedarf festzustellen, sondern den allgemeinen Gesundheitszustand des Kindes sowie mögliche organische Ursachen einer Störung, insbesondere Sinnesbeeinträchtigungen, und Möglichkeiten einer ärztlichen Behandlung zu erkennen. Die Aufgaben, Probleme und Prinzipien der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pädagogen werden immer wieder diskutiert, wobei folgende Aspekte im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen:

1. Analyse der Aufgaben einer Zusammenarbeit und Präzision der Notwendigkeiten einer Kooperation;

2. Formen von Kooperation, Hintergründe von Problemen, Ansätze für erforderliche Veränderungen;

3. Ableitung von Prinzipien wirksamer Kooperation zwischen Ärzten und Pädagogen aus den gemeinsamen Aufgaben und den vorliegenden negativen und positiven Erfahrungen.

Dabei werden vor allem vier Formen unzweckmäßigen Verhaltens zwischen Medizinern und Pädagogen unterschieden: die Konfrontation, die Okkupation, Subordinationsansinnen und bloß additive Beziehungen.

(2) Die sonder- oder heilpädagogische Diagnostik entscheidet, ob ein Kind einer individuellen Betreuung und Förderung mittels Aufnahme in eine Förderschule bedarf oder ob möglicherweise auf der Basis von Beratung des Regelschullehrers oder der Eltern, vielleicht auch mit Hilfe „Mobiler Dienste“ individueller Förderunterricht oder Therapie genügen. Ein ganz besonderes Problem stellen Kinder dar, deren Leistungen sich im Grenzbereich bewegen. Dabei sei betont, dass ein Gutachten ohne Vorschläge für praktikable Fördermaßnahmen im Aufgabenbereich der sonderpädagogischen Diagnostik nahezu wertlos ist.

(3) Liegt sonderpädagogischer Förderbedarf vor, bedarf es der Entscheidung, in welcher Schule (Regelschule oder Förderzentrum) der Schüler am besten gefördert werden kann; bzw. ob eine spezielle Förderung durch ambulante Dienste oder eine Therapie, ggf. Lerntherapie, angezeigt erscheint.

Analoge Entscheidungen wären auch vor dem Schuleintritt bezüglich einer bestimmten vorschulischen Einrichtung zu treffen.

Bei Schülern mit Mehrfachbehinderungen i. e. S. ist die Frage der Aufnahme in eine bestimmte Schule nicht selten mit großen Problemen verbunden. Es gibt Kinder, die z. B. deutliche Merkmale einer Körperbehinderung, einer sprachlichen Behinderung oder einer geistigen Behinderung zeigen. Bei solchen Kindern sollte nicht in erster Linie nach der Offensichtlichkeit einer Behinderung entschieden werden, vielmehr sollten das Wohl des Kindes, seine Entfaltungsmöglichkeiten, vor allem der individuelle Förderbedarf bei der Wahl der Fördermaßnahmen dominieren.

(4) Eng verbunden mit der Diagnose ist die Prognose. Es werden gezielte und überlegte Hinweise auf die mögliche zukünftige Entwicklung gegeben. Es geht um die Fragestellung der Hilfe, Förderung, Förderaussichten, gegebenenfalls auch der Heilungschancen einer Krankheit oder auch um die Verschlechterung eines Verhaltens oder Zustandsbildes. Auch in diesem Fall muss überlegt werden, was optimal getan werden kann (z. B. Muskelschwund, Autismus, Hyperaktivität). Bei Kindern und Jugendlichen im Hauptschulalter kann mit der Prognose auch die Frage der Eignung für ein bestimmtes Berufsfeld verbunden sein; denn gerade im sonderpädagogischen Bereich müssen Spezialbegabungen im Hinblick auf geistige, soziale, körperliche Möglichkeiten besonders früh erkannt und gefördert werden.

Die Prognose hängt wesentlich von der Kenntnis des Umfeldes eines Kindes ab. Wichtige Momente sind beispielsweise die Flexibilität oder Rigidität, ganz einfach die Umstellungsfähigkeit der Eltern bei Erziehungsfehlhaltungen, die Wirkung einer Heimaufnahme, Fördermaßnahmen, therapeutische Einflüsse, die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule überhaupt.

Über die Probleme der „Prognose“ wird im Verlauf dieses Abschnittes eingehender diskutiert.

Die weiteren Aufgaben der sonderpädagogischen Diagnostik können nach den einführenden Beschreibungen in kurzer Form aufgezählt werden. Diagnostische Aktivitäten mit Gutachtenerstellung und Förderungsvorschlägen sind nötig:

(5) bei eventueller Rücküberweisung (Rückführung) an die Regelschule;

(6) bei einer Überweisung an eine andere (sonderpädagogische) Einrichtung bzw. Förderschule;

(7) jeweils am Ende eines Schuljahres für den Schülerbogen und den Förderplan (meist Kurzgutachten über Fortschritte, Verschlechterungen, psychische und soziale Auffälligkeiten, Verhalten allgemein);

(8) wenn die Eltern eine Verlängerung der Schulbesuchszeit beantragen, d. h., die Lehrer müssen beurteilen, ob eine Verlängerung pädagogisch sinnvoll ist;

(9) bei einer Heimeinweisung;

(10) bei Gericht und Jugendamt (Diebstahl, Vergewaltigung, Gewaltanwendung …)

(11) im Zusammenhang mit der Früherkennung und Früherfassung von Behinderung bedrohter Kinder (Weiterentwicklung des Gedankens einer möglichst frühen und intensiven Förderung gefährdeter und von Behinderung bedrohter Kinder in den letzten Jahren);

(12) aktive Mithilfe – auch durch den Einsatz diagnostischer Mittel – bei der Berufsfindung (Unterstützung des Arbeitsamtes; Kontakte mit Betrieben);

(13) im Rahmen eines Einbezugs förderdiagnostischer Aufgaben im Bereich erweiterter Aufgabenfelder wie Frühförderung und Regelschule.

Sonderpädagogik ist heute weitaus mehr als Sonderschulpädagogik, sie findet nicht nur in Förderschulen statt, sondern reicht weit in die Früherziehung und Vorschulerziehung sowie in die Bereiche der Regelschule hinein, gefordert durch Kinder und Eltern in Problemsituationen im Erziehungs- und Lernprozess. Es geht dabei zunächst primär um Prävention, Integration und Inklusion (vgl. Schäfer / Rittmeyer 2015).

Als übergreifende permanente Aufgabe wird Verhaltensbeobachtung Erziehungs- und Lernprozesse begleiten (Kap. 5.2.1).

Aus der Diagnose und Analyse der vorliegenden Problematik ergibt sich die Aufgabe, die Möglichkeiten der Erziehung und Bildung des jeweiligen Kindes zu eruieren. Sonderpädagogik muss sich beschäftigen mit der Frage nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung eines Kindes mit Behinderung, mit der Frage nach der optimalen Förderung, der Ermutigung, evtl. mit dem Problem, dass das Kind lernt, mit seiner Behinderung zu leben, mit dem Ausgleich einer Beeinträchtigung etwa auch auf anderem Gebiet, also mit der Frage der Kompensation (Alfred Adler).

Auch die Selbstregulierungstendenzen und die Selbstentfaltungskräfte im kindlichen Organismus sind zu beachten, d. h., ein Kind ist wandelbar im Laufe des Wachstums, es „entwickelt sich“ (Konstruktivismus) und wird nicht nur geprägt (Bundschuh 2008, 97 ff.). Im Zusammenhang mit der Diagnose gibt der Sonder- und Heilpädagoge Hilfestellung, beseitigt hemmende Einflüsse, behindernde Bedingungen und erstellt einen Förderplan (vgl. Kap. 6.6.3) und trägt damit zur Entfaltung der im Kind vorhandenen Möglichkeiten bei. Überforderungssituationen in der Grundschule werden im Zusammenhang mit helfenden und unterstützenden Maßnahmen abgebaut, Erfolgserlebnisse vermittelt, soziale Diskrimination durch den Anschluss an die Klassengemeinschaft (Integration, Inklusion) beseitigt. In unmittelbarem Zusammenhang mit den konkreten Aufgaben des diagnostizierenden Lehrers für Sonderpädagogik stehen noch einige wichtige Aspekte, wie z. B. die grundsätzliche Frage nach der Sicherheit bzw. Unsicherheit einer Diagnose, die Frage der Ätiologie und der einzuleitenden Förder- und Therapiemaßnahmen, ferner die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule für das Kind und die Familie. Die hier angeführten Aspekte sollen zumindest punktuell im Folgenden angesprochen werden.

Man kann sagen, dass eine Diagnose, die zugleich Fördermaßnahmen intendiert und impliziert, umso schwieriger wird, je stärker ein Mensch beeinträchtigt ist, etwa bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung oder mit schweren Verhaltensstörungen. Häufig wird die eigentliche Primärbehinderung (Grundbehinderung) von sekundären oder tertiären Behinderungen oder Störungen überlagert, die sich in der Folgezeit aufgebaut haben, wie das bei der Taubheit, Blindheit, bei körperlichen Beeinträchtigungen schlechthin der Fall ist oder im psychischen Bereich bei sozialen Störungen bis hin zur Neurose. Es kann vorkommen, dass sich im Verlauf einer psychologisch-sonderpädagogischen Untersuchung bei problematischen Kindern Widersprüche zeigen zwischen der intellektuellen Leistung, die im Intelligenztest erreicht wird, und der schulischen Leistung, zwischen den Aussagen des bisherigen Lehrers und den Ergebnissen der sonderpädagogischen Untersuchung (schlechte Leistungen in der Schule – relativ gute bei der Untersuchung). In einem solchen Fall müsste die Möglichkeit zu einer längeren Beobachtung eines Probanden, zu wiederholtem Testen mit verschiedenen Verfahren gegeben sein, vor allem auch mit möglichst „kulturfreien“ Verfahren, also mit Tests, deren Ergebnisse kaum von Lernprozessen, von Anregungen durch die Umwelt beeinflusst werden, um zu einer weitgehend gesicherten Information und Aussage über eine Förderung zu kommen.

Ungereimtheiten und Widersprüche im Verlauf einer Untersuchung sollten stets zu denken geben und nach Möglichkeit aufgeklärt werden.

Zum Aufgabenfeld des diagnostisch tätigen Lehrers für Sonderpädagogik gehören auch Fragen nach dem Zeitpunkt der Entstehung und damit eng verknüpft auch die Frage nach der Ätiologie (Ursache) einer Beeinträchtigung. Wichtig wäre es also zu klären, wann eine Störung oder Schädigung eingetreten ist:

1. pränatal (vorgeburtlich), etwa durch Röteln, infektiöse Hepatitis (Gelbsucht), toxische (giftige) Einflüsse, Sauerstoffmangelzustände, evtl. bereits durch Milieueinflüsse (mangelnde Hygiene, keine Vorsorgeuntersuchung …)

2. perinatal (während der Geburt), evtl. durch eine besondere Lage des Kindes im Mutterleib, Atemstillstand, Asphyxie (Sauerstoffmangel), besondere Umstände bei der Geburt …

3. oder postnatal (nach der Geburt), möglicherweise durch frühkindliche Gehirnschädigung, Unfälle leichter bis schwerer Art, Infektionskrankheiten, besondere Krankheiten oder vielleicht durch ungünstige Milieueinflüsse (soziokulturelle Benachteiligung, wenig Lernreize, schlechte Ernährung , Armut …).

Gerade im Zusammenhang mit einer Milieuschädigung spielt die Intensität und die Dauer eine wesentliche Rolle für den Schweregrad einer Störung oder gar Behinderung. Zu denken wäre z. B. an fortgesetzte Kindesmisshandlung, an ständige Ehekonflikte, die vor dem Kind ausgetragen werden, in die vielleicht das Kind einbezogen wird, an gravierende Fehleinstellungen der Eltern zum Kind …

Zeitpunkt und Ätiologie einer Beeinträchtigung können sicherlich nicht immer ganz exakt eruiert werden, dennoch darf das Bemühen um Klärung der genannten Aspekte nicht als zweitrangig betrachtet werden, da die Fördermaßnahmen in einem unmittelbaren Bezug zum Ursachenbereich stehen.

Die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule sollte für das Kind – und auch für die Eltern – nicht als gering angesehen werden. Die zunächst allgemeine Diagnose und das „ Urteil – förderschulbedürftig“ bringen eine Zuordnung zu einer Minderheit mit sich mit allen Konsequenzen für das spätere Leben. Man muss aber auch bedenken, dass ein Verbleiben an der Regelschule für die Lernbereitschaft und für die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit negative Folgen mit sich bringt, wenn das Kind ständig überfordert wird, immer wieder sein Nicht-Leistenkönnen erfährt und schließlich Schulangst entwickelt. Immer wieder wird die Problematik der Entscheidung „Förderschulbedürftigkeit“ im Zusammenhang mit Schülern im Förderbedarf Lernen zur Diskussion gestellt. Das niedrige Sozialprestige gerade bei der zahlenmäßig größten Gruppe, nämlich bei den Schülern mit Förderbedarf Lernen, zeigt sich nicht nur darin, dass vermeintliche Dummheit in unserer Gesellschaft leider immer noch Spott und Schande hervorruft, sondern auch deutliche Beeinträchtigungen der Entwicklungsmöglichkeiten vor allem nach Beendigung der Schulzeit zur Folge hat, die von der Gesellschaft gesetzt werden.

So bleiben Schülern mit Förderbedarf Lernen bestimmte Berufe verschlossen, denen sie begabungsmäßig durchaus gewachsen wären, wie z. B. die Beamtenlaufbahn des einfachen Dienstes bei der Post oder eine ganze Reihe von Lehrberufen.

Greift man wiederum die Gruppe der Schüler mit Lernbehinderung – jetzt Förderbedarf / -schwerpunkt Lernen – heraus, so muss man bemerken, dass bei keinem anderen Förderschultyp so viele Probleme auftreten, es vielleicht wegen der mangelnden Offensichtlichkeit der Beeinträchtigung dieser Kinder so viele Widersprüche und Anfechtungsklagen gegen Ein- und Umschulungsentscheidungen gab, wie bei Sonderpädagogischen Förderzentren (früher „Hilfsschule“, Schule zur individuellen Lernförderung genannt), weil die „Behinderung“ zu wenig offensichtlich, zu wenig prägnant und auffällig ist, weil sie eben häufig erst dann zutage tritt, wenn schulische Anforderungen an die Kinder gestellt werden. Deshalb sehen auch die Eltern manchmal die Notwendigkeit der Maßnahmen in Form einer „besonderen“ Beschulung ihrer Kinder nicht ein.

Sie wehren sich im Zusammenhang mit dem vielerorts diffamierenden Charakter dieses Schultyps gegen eine Aufnahme ihrer Kinder in eine Schule mit dem Schwerpunkt Förderbedarf Lernen. Der Begriff Lernbehinderung wurde traditionell betrachtet auch als „euphemistisch“, „relational“, „diffamierend“, „fixierend“, „simplifizierend“ und als „pauschalierend“ gesehen.

Gerade diese Aufgaben des diagnostizierenden Sonder- und Heilpädagogen im institutionellen Bereich haben viel zur Kritik an seiner diagnostischen Tätigkeit beigetragen. Die Frage bleibt offen, wer an seine Stelle tritt, wenn er diese Aufgabe nicht auf der Basis seiner sonderpädagogischen Kompetenz, seines pädagogischen Verständnisses und seiner heilpädagogischen Einstellung realisiert, vielleicht ein Mediziner oder ein Verwaltungsfachmann? Ohne gründliche, aber auch praktikable (!) innovatorische Reflexionen über „rein pädagogische“ Möglichkeiten im Rahmen eines Schulsystems sollte weder das Sonder-, jetzt Förderschulwesen aufgelöst noch der Beruf des Sonder- oder Förderschullehrers „abgeschafft“ werden (vgl. die unbefriedigende, in Einzelfällen schlimme Situation in Italien, über die 1982 Prof. Galliani von der Universität Padua berichtete). Die im folgenden Abschnitt zu thematisierende, pädagogisch akzeptablere Förderdiagnostik im Sinne einer Prozess- und Begleitdiagnostik, die speziell auch im Rahmen von Unterricht realisiert werden kann, erweitert nicht nur Perspektiven, sondern auch Möglichkeiten.

3.4 Sonderpädagogisch-psychologische Diagnose als Förderdiagnose

In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits hervorgehoben, dass die Diagnose alleine im Hinblick auf das Kind wenig Relevanz besitzen würde, wenn nicht gleichzeitig gezielte, differenzierte Vorschläge zur Förderung eines in seiner Entwicklung beeinträchtigten Kindes gegeben würden. Das Moment der Förderung enthält eine so eminent wichtige Funktion, dass nicht darauf verzichtet werden kann, diesen Aspekt zu thematisieren und allen weiteren Ausführungen als Prinzip zugrunde zu legen. Es geht im Rahmen der sonderpädagogischen Diagnostik nicht in erster Linie um die Feststellung einer Störung, eines Defizits oder einer Behinderung, vielmehr ganz speziell um die „Herausstellung der für eine sonderpäd. Förderung geeigneten Ansatz- und Ausgleichsmöglichkeiten“ (Kap. 5.8), wobei man sich auch der ärztlichen Befunde bedienen sollte.

Die förderdiagnostische Untersuchung intendiert insbesondere Ansätze und Vorschläge für gezielte Maßnahmen zum Abbau und zur Kompensation von Beeinträchtigungen, zur Prävention von Störungen, zur Prophylaxe bei vorliegenden Beeinträchtigungen und Anregungen zur Entfaltung einer vorliegenden Spezialbegabung. In diesem Sinne führt die sonderpädagogische Diagnostik, die sich als Förderdiagnostik (Bundschuh 2019) versteht, immer zu einer Bildbarkeits-Diagnose. Der Sonder- und Heilpädagoge forscht gleichsam auch nach einem Begabungsbereich, der einer „Begabungsinsel“ gleichkommt und zur Emanzipation geführt werden soll. Es geht heute nicht mehr in erster Linie um eine „Feststellung“, nicht mehr um ein „Urteil“, nicht mehr um die „Einweisung“ in eine bestimmte „sonderpädagogische Einrichtung“, vielmehr geht es – zunächst allgemein ausgedrückt – um die Transformation förderdiagnostischer Erkenntnisse in die Entwicklung, in Lernprozesse, Unterrichtsprozesse (Curricula), in das Leben eines in seiner Entwicklung gefährdeten und beeinträchtigten Menschen schlechthin.

Förderungsspezifische Diagnostik soll dazu beitragen, erschwerte Lernprozesse zu erleichtern, massives Schulversagen soll so möglichst gar nicht erst entstehen bzw. gemildert oder überwunden werden:

– Zeitlich kann eine förderungsspezifische Diagnostik nicht auf die Überprüfungsperiode beschränkt bleiben. Sie muss stets dann angewendet werden, wenn Lernschwierigkeiten auftreten.

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9783846352861
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