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1 Einleitung

Praktische und wissenschaftliche Probleme fordern im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen und Behinderungen immer wieder Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld gerade in der heutigen Zeit heraus. Dieser Bereich ist von einem Anstieg multidimensionaler und komplexer Fragestellungen im Hinblick auf individuellen Förderbedarf geprägt. Die bisherigen eher „klassischen“ diagnostischen Arbeitsfelder Lernbehinderung, geistige Behinderung, Verhaltensstörung, Sprachstörungen und -behinderungen, körperliche Behinderung, Beeinträchtigungen und Behinderung der Sinne (Seh- und Hörbehinderung) haben sich angesichts verstärkter und immer komplexerer Not- und Problemsituationen von Kindern bis in den Bereich der Regelschule erweitert. Dieses Problemfeld Regelschule ist teilweise durch Schüler mit Verhaltens-, Lern- und Leistungsstörungen, psychosomatischen Auffälligkeiten (Essprobleme, Bauch- und Kopfschmerzen, Tics, Obstipation, Magenbeschwerden, Einschlafschwierigkeiten etc.) sowie durch Abhängigkeit von Medikamenten, Drogen und Alkohol gekennzeichnet. Wir haben es mit einer Heterogenität der Schülerschaft zu tun, wie sie bisher noch nicht festgestellt werden konnte. Entwicklung, Schullaufbahn und Leben von ca 25 Prozent der Kinder in der Regelschule erweisen sich nicht als positiv. Diese Kinder gelten als lern-, leistungs- oder verhaltensgestört und damit meist auch als erziehungsschwierig. Es handelt sich dabei um Schüler, die durch das Erleben permanenter Frustrationen und Ängste in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit gefährdet sind. Ein kritisches Hinterfragen der Lehrplaninhalte, pädagogischer und didaktischer Methoden, eigentlich eine Diagnostik der Schule und deren Umfeldbedingungen ist längst überfällig.

Erst recht im Förderschulbereich (bisher „Sonderschulbereich“) kann man von einer heterogenen Schülerschaft sprechen, die von schwerster geistiger Behinderung und damit Mehrfachbehinderung, von der Sinnesbehinderung bis hin zum überdurchschnittlich intelligenten, aber extrem verhaltensgestörten Kind reicht. Darunter finden sich Schüler mit Wahrnehmungsstörungen unterschiedlicher Art, mit Teilleistungsstörungen, gravierenden Lese- und Schreibproblemen, Dyskalkulie, Erziehungsschwierigkeiten, mit psychischer und physischer Frühdeprivation, mit autistischen Zügen, seelischer Behinderung und Hyperaktivität – allgemein gesehen: Schüler mit kognitiven und emotionalen Strukturierungs- Und Verarbeitungsstörungen sowie Schüler, die unter primär behindernden Bedingungen außerschulischer Art aufgewachsen sind, bei denen eine Kind-Umfeld-Diagnose dringend geboten ist. Dabei muss man erkennen und feststellen, dass es diese Störungen oder Behinderungen in linearer oder einheitlich-homogener, klar abgrenzbarer Form überhaupt nicht gibt. Wir haben es sowohl mit den Phänomenen Heterogenität, Individualität, Mehrfachstörung und -behinderung von Schülern als auch mit behindernd wirkenden Umfeldbedingungen zu tun.

Daraus erwächst – unter bildungspolitischem Aspekt betrachtet – die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen ein von ihrem spezifischen Förderbedarf bestimmtes, also beobachtungs- / diagnosegeleitetes und differenziertes Förder- sowie Lerntherapieangebot sowohl im Regel- als auch im Förderschulwesen ggf. unter Einbezug von Lerntherapie bereitzustellen. Zieldifferentes Lernen wird orientiert an der jeweiligen Entwicklungsstufe des Schülers angestrebt.

Historisch betrachtet haben diagnostische Fragestellungen im sonder- oder heilpädagogischen Arbeitsfeld eine bewegte, meist vom Zeitgeist geprägte, insofern auch kritikbedürftige Geschichte, die hier allerdings nur in akzentuierter Form aufgezeigt werden kann.

Im Jahre 1904 setzte das französische Ministerium für Unterricht eine Kommission ein, die einen Unterrichtsplan für anormale und zurückgebliebene Kinder ausarbeiten sollte. Alfred Binet (1857–1911), der anfangs Jurist war, sich später den Naturwissenschaften der Psychologie und medizinischen Fragen zuwandte, befand sich als Berichterstatter in dieser Kommission. Seine Aufgabe war die Klärung der Frage, wie der Intelligenzgrad jener Kinder festgestellt werden könnte, die nicht in der Lage waren, dem üblichen Unterricht zu folgen. Die „Auslese“ der genannten Kinder stand als Problem im Mittelpunkt. Für Binet war dies der Anstoß, zusammen mit dem Arzt Théodore Simon (1873–1961) das bekannte Binet-Simon-Testsystem auszuarbeiten.

Diese Zeit, die noch zahlreiche Impulse durch die experimentelle Psychologie, Physiologie, Medizin, durch die Naturwissenschaften, v. a. auch durch die Mathematik erfuhr, wird als ein wesentlicher Ausgangspunkt der sonderpädagogisch-psychologischen Diagnostik betrachtet.

Die 1884 durch das französische Unterrichtsministerium eingesetzte Kommission aus Medizinern, Naturwissenschaftlern, Pädagogen und Psychologen arbeitete ein dreiteiliges Verfahren zur Erfassung von Kindern mit geistiger Retardation aus. Binet und Simon stellten im Jahre 1905 dieses Verfahren zur Feststellung von Kindern mit „geistiger Inferiorität“ vor. Es beinhaltete:

„1 Ärztliche Untersuchung (,medizinische Methode‘) zur Aufdeckung der anatomisch-physiologischen Ursachen, geistiger Inferiorität‘.

2 Schulleistungsprüfung (,pädagogische Methode‘) zur Feststellung des Wissensbestandes und der Fertigkeit in den Kulturtechniken.

3 Intelligenzprüfung (,psychologische Methode‘) zur Feststellung, ob schon von der Anlage her eine geistige Minderbegabung als Ursache für das Schulversagen vorliegt.“ (Kautter / Munz 1974, 291).

Es ergibt sich die Überlegung, ob und inwieweit die vorhandenen psychologisch-pädagogischen und auch medizinischen Methoden der Gegenwart sich als Entscheidungshilfen zur Förderung von Kindern mit Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen eignen. Auch wenn wir es zunächst mit diagnostischen Problemen zu tun haben, erhält die pädagogisch-heilpädagogische Fragestellung (Bundschuh 2010, 32–37) den Vorrang. Im Zentrum stehen Kinder, allgemein sich lebenslang entwikkelnde Menschen mit mehr oder weniger großen Problemen, Beeinträchtigungen und Behinderungen, ihnen muss geholfen werden.

In diesem Zusammenhang gelten an sich teilweise immer noch folgende aus den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (1973) abgeleitete Prioritäten:

a) Prophylaxe von Schulversagen und Lernbehinderung,

b) Schulprobleme beheben sowie Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen – ggf. durch therapeutische Maßnahmen – aufarbeiten und therapieren,

c) Vermittlung von Kenntnissen, Einstellungen und Fertigkeiten mit der Zielrichtung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.

So wird die Aufgabe der Erörterung der Problematik „sonderpädagogisch-psychologische Diagnostik“ als „Förderdiagnostik“ vor allem mit der Erkenntnis verbunden sein, dass es um Informationsgewinnung zwecks Hilfe in einer Not- und Problemsituation und damit um Verstehen und Förderung geht. Der heilpädagogische Aspekt steht im Vordergrund.

Unter Berücksichtigung dieses Aspektes erfolgt in Kapitel 2 ein kurzer Überblick zur Geschichte der Intelligenzdiagnostik unter Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte.

Kapitel 3 thematisiert Aufgaben, Funktionen und Bereiche, Ziele und Fragestellungen der aktuellen sonder- und heilpädagogischen Diagnostik.

Das vierte Kapitel behandelt testtheoretische Voraussetzungen zur Durchführung sonder- und heilpädagogischer Diagnostik. Es gibt eine kritische Einführung in das Verständnis notwendiger testtheoretischer Grundlagen. Dabei werden grundsätzliche Kompetenzen vermittelt, über die professionell diagnostizierende Lehrer an Förderschulen, sonderpädagogischen Förderzentren, in heilpädagogischen Einrichtungen und im Bereich Lerntherapie verfügen müssen.

Im fünften Kapitel werden wichtige Methoden und relevante Verfahren zur Gewinnung diagnostischer Informationen beschrieben, die zur Beobachtung und Feststellung des Entwicklungsstandes, der Intelligenz, der Schulleistung, des sozialen und affektiv–emotionalen Verhaltens, der Sprache, Motorik, Wahrnehmung und damit der Beantwortung (sonder-) und (heil-) pädagogischer Fragestellungen dienen. Diese Methoden und Verfahren bilden die Grundlage für die Erstellung förderungsorientierter sonderpädagogischer Gutachten und für Lerntherapie. Dieses Kapitel thematisiert auch spezielle Probleme wie diagnostische Fragen bei Autismus, schwerer geistiger Behinderung und im Kontext Kind-Umfeld-Analyse.

Das sechste Kapitel beschreibt das Vorgehen bei der Erstellung eines pädagogisch-psychologischen, speziell förderungsorientierten Gutachtens mit dem Ziel der Feststellung und Beschreibung des sonder- und heilpädagogischen Förderbedarfs. Ferner enthält es wichtige Aspekte der Förderung.

Ressourcen und Kompetenzen der Schüler zu erkennen, trägt nicht nur dazu bei, Schüler zu fördern, Unterricht erfolgreich planen und durchführen zu können, sondern auch dazu, Schüler zu bilden und die Persönlichkeit zu entfalten. In diesem Kontext bietet dieses Kapitel auch kompetenzorientierte Fördervorschläge z. B. für die Bereiche Alltagsbewältigung, Kognition, Schule, Unterricht, Emotionalität und Sozialverhalten sowie konzeptionelle Überlegungen zur Förderplanung im Hinblick auf Notwendigkeit, Verständnis, Grundsätze, Aufgaben, Prozesshaftigkeit, Aufbau und Inhalt.

2 Geschichtlicher Aufriss der Intelligenzdiagnostik unter besonderer Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte

Lernziele

1. Informieren über erste Ansätze sonderpädagogischer Diagnostik im Rahmen der Geschichte der Intelligenzdiagnostik.

2. Aufzeigen, welche unterschiedlichen Versuche unternommen wurden, um Intelligenz näher zu erfassen und zu beschreiben.

3. Den Ansatz Binets nachzuvollziehen und kritisch zu würdigen.

4. Wesentliche Momente einer Weiterentwicklung der Intelligenzerfassung und -beschreibung aufzuzeigen.

Zur Zeit des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert, im Zeitraum zwischen 1890 und 1920, vollzog sich in der Psychologie eine Wende. Aus einer mehr theoretisch ausgerichteten Psychologie, die sich anfangs nur sehr vorsichtig an praktische Aufgaben heranwagte, wurde immer mehr eine angewandte Psychologie. Sie erhielt ihre Impulse im Wesentlichen durch das technisch-wissenschaftliche Denken dieser Zeit (Dorsch 1963, 40 ff).

2.1 Die Entstehung der Psychodiagnostik

Die ersten Psychologen, die sich mehr dem Experiment zuwandten, waren in hohem Maße durch die Physik und Medizin geprägt. Den Grundstein für die Entstehung einer besonderen Diagnostik auf psychologischem Gebiet legte Francis Galton (1822–1911) in einem Laboratorium in London 1884 / 85. Er beschäftigte sich mit der Messung individueller psychologischer Unterschiede und legte den Schwerpunkt auf die Abweichungen vom Durchschnitt. Er schuf damit den Ansatz für eine differenzielle Psychologie. Sein im Jahre 1883 erschienenes Werk trug den Titel: „Inquiries into human faculty and its development“. Ihn interessierten vor allem die menschlichen Fähigkeiten und deren Entwicklung. Galton gab dem Experiment in der Psychologie die besondere Wende zur Testform, indem er z. B. beim Menschen die Hörschwelle feststellen, Gewichte ordnen und Reaktionszeiten messen ließ.

Bereits in seinem Buch „Hereditary genius, an inquiri into its laws and consequences“ (1869) versuchte er die Hochbegabung messbar zu machen, indem er das Verhältnis feststellte, in welchem der Geniale zur Bevölkerung steht. Galton wandte statistische Methoden auf die Problematik der Vererbung an, indem er das unter dem Namen Gauß-Verteilung bekannte Gesetz aufgriff. Damit war die Grundlage der Normalverteilungs- oder auch Wahrscheinlichkeitskurve geschaffen.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Psychodiagnostik muss auch noch James McKeen Cattell (1860–1944) genannt werden. Er schrieb im Jahre 1890 einen Arikel über „Mental tests and their measurements“. Aufgrund dieses Artikels wird Cattell gewöhnlich als Urheber des Begriffs „Test“ bezeichnet. Bereits 1896 begann Cattell bei Studenten, die sich an der Columbia-Universität immatrikulieren ließen, mit der Überprüfung der Intelligenz. Seine Testbatterie beinhaltete z. B. Maximalgeschwindigkeit der Armbewegung, Bestimmung der Schmerzschwelle bei Druck, Reaktionszeit für Farben, Halbierung einer Strecke nach Augenmaß, Zahl der nach einmaligem Hören behaltenen Buchstaben ...

Bekannt ist auch die Methode von Hermann Ebbinghaus (1850–1909), der sich mit Lern- und Gedächtnisvorgängen beschäftigte, vor allem im Zusammenhang mit erlebnisneutralen, unvorbelasteten Elementen (Lernen sinnloser Silben). 1897 veröffentlichte Ebbinghaus einen Lückentest als Intelligenztest, der gelegentlich heute noch Verwendung findet (Lück 2013, 59 ff.). Es handelt sich um einen Gruppentest, zu dessen Durchführung lediglich Papier und Bleistift gebraucht werden.

2.2 Beiträge der Psychiatrie

In Deutschland versuchten Psychiater durch psychologische Versuche, die individuellen Unterschiede vor allem zur Klärung „psychischer Defekte“ sichtbar zu machen. Zu nennen sind hier an erster Stelle Konrad Rieger (1855–1939) und Emil Kraepelin (1856–1926). Sie brachten die experimentell-psychologischen Methoden als erste in die Nervenheilkunde ein. Kraepelin führte an Patienten Versuche durch, über die wir heute (zumindest partiell) geteilter Meinung sein können. Lernvorgänge wurden gemessen, einstellige Zahlen mussten fortlaufend addiert, Zahlenreihen und sinnlose Silben auswendig gelernt werden. Es entstand die Idee, „künstliche Geistesstörungen“ auf dem Wege der Ermüdung, Erschöpfung, aber auch über Stimulanzien und Giftwirkungen zu erzeugen. Versuchspläne weisen darauf hin, dass sich Vpn fünf Tage lang den verschiedensten Arbeiten und Prüfungen aussetzen mussten (Dorsch 1963, 46 ff).

Der Würzburger Psychiater Rieger arbeitete bereits (1889 / 90) einen Entwurf zur Intelligenzuntersuchung aus, der eine allgemein anwendbare Methode zur Intelligenzüberprüfung darstellte. Gemessen wurden u. a. Wahrnehmung, Gedächtnis, Nachahmung, Assoziation, identifizierendes Erkennen, Kombination.

Den Ideen zur Überprüfung der Intelligenz fügte Theodor Ziehen (1862–1950) einen sehr wichtigen Gedanken hinzu. Er stellte die Forderung auf, man müsse erst bei allen Aufgaben zur Intelligenzprüfung die Schwankungsbreite ermitteln, bevor man solche Aufgaben verwende. Es genügte also nicht, dass man Tests entworfen hatte, vielmehr mussten sie auch erprobt werden, d. h., es musste experimentell geklärt werden, wie gut oder wie schlecht eine bestimmte Personengruppe die Testaufgaben löste. Dieser Ansatz stellte vor allem im sonderpädagogischen Bereich einen Anlass zur Kritik dar (Defizitbeschreibungen, Wertungen; Kap. 3.4 und 5.2).

2.3 Der Ansatz Alfred Binets

Man kann Alfred Binet (1857–1911) als das „Haupt“ der französischen Schule für experimentelle Psychologie bezeichnen. Er schuf einen ganz neuen, vor allem auch für die sonderpädagogische Diagnostik – zumindest historisch gesehen – relevanten Ansatz (Dorsch 1963, 48 ff.; Lück 2013, 175 f.). Binet studierte zunächst Jura, dann wandte er sich hauptsächlich den Gebieten Medizin, Psychiatrie und Psychologie zu. Ganz allgemein ausgedrückt, suchte er nach Zusammenhängen zwischen der körperlichen und geistigen Entwicklung. Man kann es wohl als Binets Leistung bezeichnen, dass er Alter und Intellekt in Bezug setzte. Dies soll insofern näher dargestellt werden, als diagnostisch-sonderpädagogische Belange tangiert werden. Darüber hinaus interessierten Binet stets Fragen, die Kinder betrafen. So gab er zwischen 1894 und 1896 Arbeiten über Gedächtnis und Suggestibilität bei Kindern heraus. Immer wieder beschäftigen ihn die Auswirkungen des Altersfortschrittes, der altersbedingten Reife auf die Intelligenzleistung und auf den Intelligenzwandel des Individuums.

Binet blieb jedoch nicht bei Fragen zur geistigen Leistung des Kindes stehen. Er wandte sich vielmehr auch der Erkundung körperlicher Leistungen und deren Abhängigkeit vom Alter zu. Gemessen wurden Muskelkraft, Handdruck, Zugkraft, Sprungkraft, Schnelligkeit, Vitalität, Atmung und Zirkulation. Er experimentierte mit Reaktionsgeräten wie Dynamometer und Ergograph. Um 1900 veröffentlichte er Arbeiten unter dem Titel „Attention et adaptation“. Darin verglich er intelligente und unintelligente Schüler. Binet benutzte dazu eine Testserie mit Gedächtnisaufgaben, Buchstabendurchstreichen, Übertragen von Ziffern, Sätzen und Zeichnungen, ferner sollten taktile Eindrücke unterschieden werden. Seine Idee, ein Stufenmaß der Intelligenz zu schaffen, war damit jedoch noch nicht realisiert.

Einen entscheidenden Impuls erhielt Binet, als das französische Unterrichtsministerium 1904 eine Kommission einsetzte, die eine Klärung der Frage nach der Unterrichtung geistig zurückgebliebener Kinder herbeiführen und auch einen Unterrichtsplan für „abnorme“ und behinderte Kinder ausarbeiten sollte. In diese Kommission wurde Binet berufen. Von dem Gremium wurde beschlossen, dass ohne pädagogisch-medizinische Begutachtung kein zurückbleibendes Kind aus der Normalschule in die Spezialschule überwiesen werden dürfe.

Diese Maßnahme war gedacht zum Schutz des Kindes. Willkür und Subjektivität sollten verringert werden. Die zentrale Frage lautete nun: Wie aber soll man begutachten? Binet sollte dieses Problem lösen. Zusammen mit seinem Mitarbeiter, dem Arzt Théodore Simon (1873–1961), brachte er eine Serie von 30 Testaufgaben heraus, die hinsichtlich des Schwierigkeitsgrades so anstiegen, dass die ersten Aufgaben dem niedrigsten Intelligenzniveau und die letzten Aufgaben dem normalen kindlichen Intelligenzdurchschnitt entsprachen. Wurden also alle Aufgaben von einem Kind der entsprechenden Altersstufe gelöst, galt das Kind als „normal“. Die Entwicklung der Intelligenz war altersentsprechend.

Damit schufen die beiden Wissenschaftler „eine Klassifikation vom Grenzfall der Idiotie über Imbezillität, Debilität, Schwachbegabte zum Normalfall“ (Dorsch 1963, 51).

Den Testaufgaben ging eine Reihe von Vorversuchen voraus. Man kann unter dieser Rücksicht sogar von einer empirisch orientierten Arbeitsweise sprechen. Es gab auch so etwas wie standardisierte Bedingungen; die Forderungen hierzu lauteten: geringer Zeitaufwand, eindeutige Instruktion, keine Kenntnisaufgabe, keine suggestive Beeinflussung, Beobachtung der Versuchsperson ...

Folgende Aufgabenstellungen, die sich auf die Bereiche „Urteil“, „gesunder Menschenverstand“, „praktischer Sinn“, „Initiative“, „Fähigkeit sich anzupassen“ erstreckten, werden u. a. angeführt:

– Fixierendes Sehen (folgen die Augen des Kindes einer brennenden bewegten Kerze?).

– Durch Sehen hervorgerufenes Greifen. Gegenstand erkennen (ein Holzklötzchen und ein Stück Schokolade zur Wahl).

– Befolgen einfacher Befehle (Türe schließen u. a.). Wortverständnis bei Gegenständen (z. B. Kopf, Augen zeigen lassen). Wortverständnis bei Bildern. Vergleich von zwei verschieden langen Linien. Wiederholen von drei vorgesprochenen Zahlen. Vergleichen von zwei verschieden schweren Gewichten. Definieren von bekannten Gegenständen (Zweckangaben). Wiederholen von vorgesprochenen Sätzen mit 15 Wörtern.

– Erinnerung an vorgelegte Bilder. Zeichnen aus dem Gedächtnis, (geometrische Figur). Wiederholen von mehr als drei vorgesprochenen Zahlen. Längenvergleich mit dem Augenmaß. Ordnen von 5 gleich aussehenden, aber verschieden schweren Gewichten. Ergänzen von Lücken in einem leichten Text mit 7 Lücken. Satzbildung mit drei gegebenen Wörtern.

– Zeitangabe bei umgestellt bzw. vertauscht gedachten Uhrzeigern. Ausschneidversuch. Definieren von abstrakten Begriffen (Dorsch 1963, 51 f.).

Damit versteht Binet letztlich unter Intelligenz die Fähigkeit zum guten Urteilen, Verständnis und Denken.

Binet und Simon schlugen vor, man solle diese psychologische Untersuchung zugleich verbinden mit einer pädagogischen Untersuchung, mit einer Überprüfung des Schulwissens und des allgemeinen Lebenswissens sowie mit einer medizinischen Untersuchung mit allgemein körperlichem Befund und Feststellungen zu physiologischen Funktionen, dem Entwicklungsstand und den erblichen Einflüssen. Milieufaktoren spielten offensichtlich kaum eine Rolle.

Die Testversuche wurden zunächst an Kindern im Alter von 3–11 Jahren durchgeführt. Die 30-Test-Methode aus dem Jahre 1905 verbesserten die beiden Wissenschaftler infolge neuer Erkenntnisse bald. l908 erschien erstmals die unter dem Namen Binet-Simon weltbekannte und verbreitete Methode der Intelligenzprüfung mit dem Titel: „Le développement de l’intelligence chez les enfants“. Diese Intelligenzprüfung enthielt für jedes Alter zwischen 3 und 13 Jahren Testaufgaben. Die Lösung der Aufgaben eines bestimmten Jahrganges wies darauf hin, dass die entsprechende Intelligenznorm erreicht worden war. Löste ein Kind alle Testaufgaben einer Altersstufe, so entsprach dies dem Intelligenzalter dieser Altersstufe. Löste z. B. ein siebenjähriges Kind alle Aufgaben, die für sieben Jahre vorgesehen waren, so stimmten Intelligenzalter (IA) und Lebensalter (LA) überein, d. h., das Kind verfügte nach der damaligen Interpretation über eine „normale Intelligenz“.

Einen Intelligenzrückstand von zwei Jahren – später waren es drei – interpretierte Binet mit „geistiger Schwäche“, die eine Einweisung in die Hilfsschule rechtfertigte. So gab es grob dargestellt drei Möglichkeiten:

IA = LA: durchschnittliche oder normale Intelligenz.

IA > LA: Intelligenzvorsprung (IV) oder überdurchschnittliche Intelligenz.

IA < LA: Intelligenzrückstand (IR) oder unterdurchschnittliche Intelligenz.

Damit gebrauchte Binet zur Charakterisierung der jeweiligen Verhältnisse die Begriffe „Intelligenzvorsprung“ und „Intelligenzrückstand“. Man kann also feststellen, dass Binet die Bezeichnungen Intelligenzalter (IA) und Lebensalter (LA) einführte und die beiden Daten miteinander in Beziehung setzte. Aufgrund dieses Gedankens, Lebensalter und Intelligenzalter zu vergleichen, waren Ansätze für eine „Messung“ (Abschätzung) der Intelligenz geschaffen. Wie bereits dargelegt, beschrieb der Wissenschaftler die Abweichungen von der durchschnittlichen Norm mit den Begriffen Intelligenzvorsprung (IV) bzw. Intelligenzrückstand (IR).

Indem die Aufgaben ständig bezüglich ihres Schwierigkeitsgrades in Kindergärten und anderen Einrichtungen für Kinder überprüft wurden, kann man sagen, dass Binet den Versuch unternahm, eine auf empirischem Wege entstandene Maßskala aufzuzeigen und zu erproben. Mit Hilfe der genannten Aufgabenstellungen ergab sich eine Möglichkeit zur „Klassifizierung des Schwachsinns“ (unterdurchschnittliche Intelligenzgrade). So kam Binet zur folgenden Einteilung geistig Retardierter („Schwachsinniger“):

„Der Debile bleibt auf der Intelligenzstufe des 9- bis 10jährigen Kindes stehen. Er kann nicht ohne Beaufsichtigung leben und seinen Unterhalt nicht selbständig erwerben“ (vergleichbar etwa heute mit dem Intelligenzbereich 55–75).

„Der ,Imbezille‘ bleibt auf der Stufe des 6jährigen Kindes stehen. Er kann weder schreiben noch lesen“ (etwa IA 25–59).

„Der Idiot steht auf der Stufe des 2jährigen Kindes, das nicht spricht und nicht versteht“ (etwa IA < 25) (Dorsch 1963, 52 f.).

Im pädagogischen Bereich ist eine solche Einteilung zu kritisieren:

1. Mit dieser schematischen Klassifizierung verbindet sich die Gefahr, dass die so bezeichneten Kinder „festgeschrieben“ werden, d. h., die Beurteilung bzw. Einschätzung der Intelligenz wird als weitgehend endgültig gesehen.

2. Der milieutheoretische Aspekt bleibt unberücksichtigt; die Intelligenzentwicklung scheint damit im Wesentlichen von Anlagefaktoren abzuhängen.

3. Der Versuch einer Charakterisierung menschlicher Leistungen und Fähigkeiten durch die Attribute „Unterhalt selbstständig erwerben“, „weder lesen noch schreiben können“, „nicht sprechen und nicht verstehen“, muss scheitern, weil etwa der Persönlichkeitsbereich völlig unberücksichtigt bleibt, wie z. B. das Gefühlsleben und der musische Bereich, weil insgesamt gesehen die Ausgangsbasis viel zu schmal und zu schematisch ist.

4. Die Begriffe „Debilität“, „Imbezillität“ und „Idiotie“ werden zwar heute teilweise noch im psychiatrischen Bereich verwendet, ihr Gebrauch sollte aber – nicht nur im pädagogischen Feld – entschieden abgelehnt werden, weil deren Inhalte mit Vorurteilen behaftet sind und damit einen diffamierenden Charakter tragen („Menschen zweiter Klasse“ ...).

Bei aller Kritik an der Klassifizierung Binets darf nicht der Impuls dieses Wissenschaftlers für die Problematik der Intelligenzprüfung in Vergessenheit geraten. Seine Ansätze stellten einen wesentlichen Fortschritt dar; so etwa der Aufbau der Verfahren nach dem sogenannten „Staffelsystem“ (Staffel- oder Stufenprinzip), d. h., es liegt eine Staffelung des Tests nach steigendem Schwierigkeitsgrad mit ansteigendem Lebensalter vor. Binet überprüfte die einzelnen Aufgaben ständig. Verbesserungen wurden durchgeführt. Noch vor seinem Tode im Jahre 1911 bestimmte er, dass einheitlich für jede Altersstufe fünf Tests verwendet wurden. Für die 11 Altersstufen vom 3. bis zum 13. Lebensjahr wurden insgesamt 59 Testaufgaben eingeführt (vgl. Dorsch 1963, 53).

Die Forschung und Wissenschaft erkannte Binets Leistung an. Seine Tests und seine Werke wurden in etwa 50 Sprachen übersetzt. Vor allem die Psychiater griffen sein Verfahren, die „Binet-Simon-Stufenleiter zur Messung der Intelligenz“, auf. Binet konnte den mächtigen Aufschwung und den raschen Ausbau seines Systems, aber auch die teilweise heftigen, kritischen Einwände nicht mehr erleben.

Die Leistung Binets wird sicherlich treffend durch einen Beitrag Groffmanns (1971, 167) charakterisiert:

Geht man davon aus, dass ein psychologischer Test im Wesentlichen ein objektives und standardisiertes Maß einer Stichprobe von Verhaltensweisen darstellt, so ist im Zusammenhang mit dem Stufentest von Binet und Simon festzustellen, dass diese Definition in einem Maße erfüllt wurde, wie dies vorher nicht der Fall war. Das Verfahren ist in Anwendung und Auswertung standardisiert, beruht auf einer empirisch hergestellten, objektiven Schwierigkeitsordnung der Aufgaben, Die Notwendigkeit von Reliabilität und Validität war erkannt, der Schritt zum Testsystem vollzogen und ein Vorbild psychologischer Messung geschaffen.

2.4 Die Weiterentwicklung des Binet-Systems

Es begann nun ein rascher Aufschwung der Intelligenzmessung, zunächst am stärksten in den USA.

Um 1912 versuchte L. M. Terman eine Revision des Stufentests herauszugeben. Aus den Vorarbeiten entstand 1916 die sehr erfolgreiche „Stanford Revision of the Binet-Simon Intelligence Scale“. 1937 wurde diese Revision weiter ausgebaut und als Stanford-Revision von Terman und M. A. Merrill herausgebracht. Inzwischen erschien 1960 eine dritte Stanford-Revision. In den USA gilt dieser Test heute noch als gut standardisiert. Die Stanford-Revisionen hatten vor allem deshalb Erfolge, weil sie doch sorgfältig konstruiert und geeicht, aber auch praktisch problemlos durchzuführen waren. Eine deutsche Bearbeitung von H. R. Lückert (1957) lehnt sich an die Stanford-Revision von Terman und Merrill aus dem Jahre 1937 an.

In Deutschland beschäftigte sich bereits 1910 bis 1914 O. Bobertag mit der Übertragung des Binet-Tests auf deutsche Verhältnisse.

Irmgard Norden gab 1953 das Binetarium – eine Zusammenstellung des Testmaterials – heraus. Damit war der Test so bearbeitet, dass er in Deutschland Verwendung finden konnte. 1954 wurde das Binetarium nochmals überarbeitet.

In Deutschland wurden Eichversuche des Binet-Tests unternommen von Elisabeth Höhn, Gerhild von Staabs und Alf Kleiner.

In der Schweiz sorgten Hans Biäsch, Josefine Kramer und Ernst Probst für die Ausbreitung und Überarbeitungen des Binet-Testsystems.

J. Kramer war mehrere Jahre lang in Heimen tätig, in denen Kinder von 8 bis 16 Jahren betreut wurden. Zugleich war sie Leiterin einer Erziehungs- und Schulberatungsstelle. Kramer überarbeitete den Binet-Test besonders für Schulversager und weniger begabte Kinder (Groffmann 1971; Kramer 1972, 72–78).

2.5 Fortschritte der Intelligenzmessung

Wie bereits dargelegt, sollte nach Binet die Differenz zwischen IA und LA, d. h. die Abweichung von der altersmäßigen Intelligenznorm, als Richtmaß gelten. Es ergeben sich jedoch Probleme, wenn man die Intelligenzhöhe eines Menschen mit den Begriffen „Intelligenzvorsprung“ bzw. „Intelligenzrückstand“ in Form von Monaten und Jahren zum Ausdruck bringen will. An einem praktischen Beispiel soll veranschaulicht werden, dass die Bezeichnungen „Intelligenzvorsprung“ oder „Intelligenzrückstand“ die objektiven Tatbestände verfälschen können. So besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen einem 14-Jährigen mit einem Intelligenzrückstand von zwei Jahren (er befindet sich also auf der Intelligenzstufe eines 12-Jährigen) und einem vierjährigen Kind mit einem Intelligenzrückstand von ebenfalls zwei Jahren (es befindet sich auf der Intelligenzstufe eines zweijährigen Kindes). Es ist offensichtlich, dass ein Intelligenzrückstand von zwei Jahren bei einem vierjährigen Kind viel gravierender ist als bei einem 14-jährigen Jugendlichen, denn die Intelligenzentwicklung vollzieht sich beim Kleinkind viel rascher.

Aufgrund dieser Probleme musste ein Maßstab gefunden werden, der die Gegebenheiten in objektiver Form darstellen konnte. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistete William Stern (1871–1938) im Jahre 1912 mit der Einführung des Intelligenzquotienten (IQ). Stern schlug vor, den Quotienten aus Intelligenzalter und Lebensalter zu errechnen und damit ein „Entwicklungsmaß der Intelligenz“ zu bilden.

Die Formel hierzu lautet:

Später multiplizierte man mit 100. Dies ergab dann eine ganzzahlige „Quotientenskala“, so dass die Formel lautete:


Es ist zu erkennen, dass dasjenige Kind den IQ 1 (100) aufweist, dessen Intelligenzalter genau dem Lebensalter entspricht. Bei überdurchschnittlich intelligenten Kindern müsste demnach der IQ größer als eins (unechter Bruch), bei unterdurchschnittlich intelligenten Kindern kleiner als eins (echter Bruch) sein. Hierzu einige praktische Beispiele:

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