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Abbildung 5: Anteil Länder, in deren Lehrpläne bestimmte Fächer(-gruppen) explizit genannt sind


Quelle: Meyer et al. 1992

Bis zum späteren 20. Jahrhundert hat sich somit weltweit ein recht einheitlicher Fächerkanon herausgebildet. Mehr noch: Wie hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann, ist es über die Länder hinweg auch zu einer Angleichung in Bezug auf die Stundendotation der einzelnen Fächer gekommen. Und wie eine spätere Untersuchung (Benavot 2002b) belegt, hat diese Angleichungstendenz bis zur Jahrtausendwende weiter angehalten. Selbstverständlich würde man grosse Unterschiede finden, würde man die einzelnen Inhalte und Themen vergleichen, die in den jeweiligen Fächern behandelt werden. Der Sprachunterricht in Mozambique wird sich zweifellos ganz erheblich von dem in Kanada unterscheiden. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass die Bildungseinrichtungen wenigstens in den äusserlichen Formen weltweit eine nicht geringe Ähnlichkeit aufweisen, dass sie sich auf dieser Ebene also recht gleichförmig präsentieren.

Man mag sich fragen, wie es dazu gekommen ist, dass sich eine bestimmte, ursprünglich in den Ländern des Westens entwickelte Form der Institutionalisierung von Bildung in verhältnismässig kurzer Zeit weltweit zu etablieren vermochte. Auf den ersten Blick widerspricht dies dem, was man intuitiv annehmen würde und was Durkheim auch klar formuliert hatte: dass nämlich die Art und Weise, wie Bildung in einer Gesellschaft organisiert ist, eng mit der jeweiligen Gesellschaftsstruktur zusammenhängt. Und unter dieser Voraussetzung müsste man bezüglich des Bildungswesens grosse Unterschiede beispielsweise zwischen noch stark agrarisch geprägten Gesellschaften und modernen «Wissensgesellschaften» erwarten.

Ein Schlüssel zum Verständnis dürfte in den Erwartungen zu suchen sein, die an die Wirkungen von Bildung geknüpft werden. Da sind zunächst die Erwartungen bezüglich dessen, was schulische Bildungsprozesse bei Schülerinnen und Schülern bewirken. Wir gehen in der Regel ganz selbstverständlich davon aus, dass diese sich Dinge aneignen, die sie sich ohne den Schulbesuch nicht erwerben würden – Kompetenzen kognitiver Art natürlich, aber auch Wertorientierungen, soziale Normen und Verhaltensmuster, ja eine generelle Bereitschaft zum lebenslangen Weiterlernen.

Die so erworbenen Grundlagen, so lässt sich der Faden weiterspinnen, befähigen sie dazu, sich im späteren Erwachsenenleben – als Arbeitskräfte, Bürger und Bürgerinnen, Eltern oder Konsumenten und Konsumentinnen – adäquat zu verhalten, kompetent und verantwortungsbewusst zu handeln, konstruktive Beiträge in Gesellschaft und Staat zu leisten. Wir nehmen also in aller Selbstverständlichkeit an, dass all das, was in Bildungseinrichtungen erworben wird, nachhaltig ist und auch nach längerer Zeit positive Wirkungen zeigt.

In dieser Betrachtungsweise erscheint es einleuchtend, dass das Handeln schulisch gebildeter Erwachsener in seiner Summe dazu führt, dass es der Gesellschaft gut geht; dass sie in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht gedeiht und sich weiter entwickelt; dass die Demokratie funktioniert; dass Gesellschaften in der Lage sind, Probleme wie Hunger, Säuglingssterblichkeit, Gewalt, Aids und Umweltprobleme besser in den Griff zu bekommen. Was die westliche Welt betrifft, sorgen mächtige Organisationen wie die OECD und die EU dafür, dass die Wahrnehmung der Bildung als eines über Wettbewerbsfähigkeit entscheidenden Faktors aufrechterhalten bleibt. Und in dem Masse, wie Bildung zu all dem in der Lage ist beziehungsweise zu sein scheint – und hier schliesst sich der Kreis –, erarbeitet sich die Gesellschaft auch die materiellen und kulturellen Mittel, das Bildungswesen noch weiter zu entwickeln, es auszuweiten und qualitativ zu verbessern.

Aaron Benavot hat diesen Kreislauf schematisch festgehalten (Abbildung 6), dabei aber auch auf die Brüchigkeit der Überlegungskette hingewiesen, insbesondere auf den Umstand, dass sie zwar sehr plausibel und überzeugend klingt, die angenommenen positiven Zusammenhänge jedoch kaum wirklich nachgewiesen sind (Benavot 2002a). Wenn seine Einwände im Folgenden kurz dargestellt werden, kann es nicht darum gehen, die positiven Effekte schulischer Bildung geradewegs infrage zu stellen: Dass sich Kinder in der Schule viel Wissen aneignen, wird kaum jemand bezweifeln wollen; ebenso wenig dass sie von ihren Lehrerinnen und Lehrern mit Werten, Normen und Haltungen vertraut gemacht werden. Dass wir Dinge, die wir uns in der Schule angeeignet haben, im späteren gesellschaftlichen Leben nutzbringend anwenden können, entspricht einer alltäglichen Erfahrung. (Ob die Kenntnis der Zahl der Saturnmonde dazu gehört, ist eine andere Frage.) Zudem lässt sich nicht bestreiten, dass eine moderne, komplexe Gesellschaft auf gut ausgebildete Fachkräfte und urteilsfähige Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist.

Abbildung 6: Institutionalisierte Modellvorstellung bezüglich des Zusammenhangs von Bildung, Individuum und Gesellschaft


Quelle: Benavot 2002a

Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass ein präziser Nachweis der im Schema vermerkten (nur) positiven Zusammenhänge kaum geleistet ist und auch schwer zu erbringen wäre. Die Probleme beginnen bereits bei den vermuteten positiven Wirkungen eines ausgebauten Schulwesens. Mit Leistungsmessungen im Zusammenhang von TIMSS, PISA und anderen Studien lässt sich bestenfalls ein Teil der erworbenen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler erfassen. Wirkungen im Sinne des Aufbaus von Werthaltungen und die Übernahme von Normen sind schon viel schwieriger nachzuweisen. Und auch in Bezug auf die kognitiven Kompetenzen ist noch kaum geklärt, welches genau, neben schulexternen Faktoren, der Anteil der Schule an deren Erwerb ist und welche Aspekte schulischer Kompetenzvermittlung ihre Aneignung tatsächlich begünstigen.

Der Nachweis eines positiven Zusammenhangs zwischen den erworbenen Kompetenzen und deren Auswirkungen auf das Handeln von Erwachsenen stellt sodann die Wissenschaft vor enorme methodische Probleme. Gross angelegte, sich über lange Jahre hinweg erstreckende Langzeitstudien wären erforderlich, die ausserdem eine grosse Zahl von nicht-schulischen Faktoren kontrollieren müssten, um den spezifisch schulischen Beitrag nachzuweisen.

Und dass sich das – nach Annahme durch die Schule ermöglichte – vernünftige Handeln erwachsener Menschen so ohne Weiteres in gesellschaftlichen Fortschritt ummünzen lässt, ist zumindest fraglich. Denn was individuell vernünftig sein mag, kann bekanntlich aus gesellschaftlicher Sicht durchaus auch schädlich sein. So mag es für gut ausgebildete Menschen in Entwicklungsländern ein rationaler Entscheid sein, nach Europa oder in die USA auszuwandern, wo ihre Kompetenzen nicht nur nachgefragt, sondern auch gut bezahlt sind. Für die betreffenden Entwicklungsländer aber resultiert aus der Abwanderung, dem sogenannten brain drain, klar ein gesellschaftlicher Schaden.

Aber trotz ihrer zahlreichen Lücken ist die oben skizzierte Überlegungskette heute weit verbreitet; nicht als eine wissenschaftliche Erkenntnis allerdings, sondern als Bündel von Überzeugungen. Man findet sie in linken politischen Kreisen ebenso wie in rechten, unter Arbeitgebern wie auch in den Gewerkschaften – und eben bei Menschen in reichen, hoch entwickelten Gesellschaften nicht anders als in armen Entwicklungsländern. Bildung als Einrichtung, die sowohl individuellen als auch kollektiven Nutzen bringt, geniesst in allen Teilen der Welt grosses Vertrauen.

Und nicht nur das: Diese gemeinsame Überzeugung leitet auch das Handeln der Menschen rund um die Erde an, nicht zuletzt das Handeln derer – Regierungen und Ministerialbeamten, Internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, Weltbank und Währungsfonds –, die über den Auf- und Ausbau der Bildung entscheiden. Für sie hat das Bündel von Überzeugungen auch einen Aufforderungscharakter. Man erwartet von ihnen, dass sie das so positiv konnotierte Gut ‹Bildung› in ausreichendem Mass und von guter Qualität bereitstellen. Und in der Tat halten sie sich zumindest rhetorisch weltweit an dieses Handlungsskript.

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen soll noch einmal auf die im vorangehenden Abschnitt erörterte Frage nach den Erklärungen für die Bildungsexpansion Bezug genommen werden: Dort wurde die funktionalistische und die Statuswettbewerb-Hypothese erörtert und in Aussicht gestellt, eine weitere, die Institutionalisierungshypothese, in Betracht ziehen zu wollen.

Gemäss dieser dritten Institutionalisierungshypothese lässt sich die Bildungsexpansion darauf zurückführen, dass der Wert von Bildung für die individuelle Entwicklung wie auch für den gesellschaftlichen Fortschritt ganz einfach zu einer immer breiter anerkannten Selbstverständlichkeit geworden ist. Wie sich gezeigt hat, gilt dies längst nicht mehr nur für die elementare, sondern auch für weiterführende Bildung. Die Menschen sind überzeugt, ein generelles Anrecht auf (weiterführende) Bildung zu haben, und die in den Regierungen und Ministerien Verantwortlichen gehen recht übereinstimmend davon aus, dass der Ausbau der Bildung dem gesellschaftlichen Ganzen dient. Eigentlich Grund genug für die Schweizer Bildungsverantwortlichen, für 95 Prozent der kommenden Schüler- und Schülerinnengenerationen zumindest einen sekundären Schulabschluss anzustreben und das tertiäre Bildungswesen auszubauen.

3Institution als soziologischer Begriff

Die in diesem Kapitel verfolgte Absicht war und ist es, die Vorstellung von Bildung als einer sozialen Institution zu erläutern. Insofern es sich beim Institutionsbegriff zwar um eines der zentralen Konzepte der Gesellschaftswissenschaften handelt, dieses jedoch vielschichtig und kaum präzise definiert ist, wurde in den vorangehenden Abschnitten der Versuch unternommen, das Konzept der sozialen Institution im Allgemeinen und der Institution Bildung im Besonderen gleichsam aus verschiedenen Perspektiven einzukreisen. Im vorliegenden Schlussabschnitt soll es nun noch darum noch gehen, die dabei zu Tage geförderten Facetten zu bündeln, um so zu einer etwas abstrakteren Begriffsbestimmung zu gelangen.

Die theoretisch angelegten einleitenden Abschnitte sollten verdeutlichen, dass sich Institutionen nicht nur aus zwei entgegengesetzten Blickwinkeln – einmal im Mikrokosmos einzelner handelnder Menschen, sodann aber auch in einer Makroperspektive mit Blick auf ganze Gesellschaften – betrachten lassen, sondern dass sie auch nicht auf eine bestimmte Grössenordnung festgelegt sind. Während Berger und Luckmann das Konzept aus dyadischen und triadischen Interaktionsbeziehungen herleiten, die sich über die Generationen hinweg verfestigen können, stellt Durkheim den Zusammenhang zu ganzen Gesellschaften her. Er thematisiert Bildung als bereits bestehenden, wenngleich sich weiter entwickelnden gesellschaftlichen Teilbereich.

Übereinstimmend ist jedoch der implizite (Berger und Luckmann) oder explizite (Durkheim) Hinweis darauf, dass sich Institutionen letztlich nur dann angemessen erfassen lassen, wenn man sie auch im zeitlichen Verlauf untersucht. Dabei setzen Berger und Luckmann beim ersten Beginn der Entstehung von Institutionen in konkreten Handlungszusammenhängen an. Damit gelangen sie zu einem Begriff von Institutionalisierung als sozialem Prozess. Durkheim seinerseits setzt gleichsam bei einem (immer vorläufigen) Endzustand an, fordert jedoch eine historische Rekonstruktion.

Ebenso gemeinsam, wenn auch von Durkheim weniger herausgestellt, ist der Hinweis, dass es sich bei Institutionen nicht um tote Strukturen handelt, sondern dass sie notwendigerweise als Sinnstrukturen zu betrachten sind, ihre Grundlage somit stets in der kulturellen, symbolischen Sphäre zu suchen ist. Handeln in sozialen Kontexten setzt voraus, dass die Handelnden ihren Aktionen wechselseitig einen gemeinsamen Sinn zurechnen.

Ronald L. Jepperson hat in einem Aufsatz die Elemente zusammengetragen, die sich bei der Verwendung des Institutionsbegriffs in soziologischen Studien immer wieder finden lassen (Jepperson 1991). Er schlägt vor, Institutionen als «patterns», als «Muster von aufeinander bezogenen Handlungssequenzen», also von Interaktionen zu verstehen. Damit nimmt er einen Gedanken auf, den wir bei Berger und Luckmann in etwas anderer Formulierung angetroffen haben. Ein solches Muster hat den Charakter eines «Drehbuches» oder eines «Skripts», also einer Art Spielvorlage, die den beteiligten Mitspielern bestimmte Rollen in dem gemeinsamen Spiel zuweist. Das gesellschaftliche Leben ist durchdrungen von solchen Skripts und wir sind es gewohnt, uns laufend nach «Drehbuch» zu verhalten: Ob wir zu Weihnachten Geschenke kaufen, in der Strassenbahn aufstehen, um einer behinderten Person Platz zu machen, oder ob wir im Unterricht die Hand erheben, wenn wir uns zu Wort melden möchten – stets verhalten wir uns gemäss den Erwartungen, die mit solchen Skripts verbunden sind.

Die «Muster von aufeinander bezogenen Handlungssequenzen» lassen sich durch eine Reihe von Merkmalen näher charakterisieren.

Soziale Konstruiertheit: Solche Muster entstehen ursprünglich im alltäglichen sozialen Austausch dadurch, dass Individuen ihren aufeinander bezogenen Handlungen einen gemeinsamen Sinn zuschreiben.

Verdinglichung: Einmal konstruierte Muster haben die Tendenz, sich als Folge ihrer Wiederholung zu verfestigen, zunächst zu Routinen und schliesslich zu Konventionen zu werden, die den Menschen gleichsam als unumstössliche gesellschaftliche Tatsachen entgegentreten. Aus «so machen wir das» wird, wie bereits erwähnt, «so macht man das». Je mehr dies der Fall ist, desto eher werden sie auch von Menschen übernommen, die damit ursprünglich gar nichts zu tun hatten. Man denke an die Junglehrerin, die neu zum Kollegium stösst. Sie wird recht bald begreifen, welcher ‹Tarif› im Schulhaus und Lehrerzimmer gilt. Und sie wird die betreffenden, ungeschriebenen Regeln und Gesetze – vielleicht nach anfänglichem Widerstand – recht bald in ihrem eigenen Handeln berücksichtigen.

Stabilität: Die erwähnte Verfestigung verleiht institutionalisierten Handlungssequenzen mit der Zeit ein erhebliches Mass an Stabilität und aus der Sicht der handelnden Menschen auch Erwartbarkeit. Wer mit dem Skript vertraut ist, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass sich die «Mitspieler» ihrerseits in einer ganz bestimmten Art und Weise verhalten.

Regelhaftigkeit: Metaphern wie ‹Drehbuch› oder ‹Skript› lassen einen zunächst an Spielvorlagen denken, denen man folgen kann. In dem Masse, wie sie sich verfestigen und verdinglichen, nehmen sie jedoch zunehmend einen normativen Charakter an. Sie transformieren sich in Regeln, die man befolgen muss. Sie mutieren zu Verpflichtungen. Die ‹Mitspieler› sind gehalten, diese zu respektieren. Sie tun dies in der Regel auch, und je länger sie sich regelkonform verhalten, desto weniger fragen sie noch nach deren Sinn.

Selbstverständlichkeit: Institutionalisierte Interaktionsmuster werden für die Beteiligten also zunehmend zu Selbstverständlichkeiten, über die man nicht nachzudenken braucht und derer man sich oft gar nicht mehr bewusst ist. Man braucht beispielsweise nicht mehr darüber nachzudenken, ob man seine Kinder ab dem sechsten beziehungsweise siebten Lebensjahr zur Schule schicken soll. Man tut es einfach.

Universalität: Im alltagssprachlichen Gebrauch verbindet man den Begriff der Institution gerne mit relativ grossen und komplexen gesellschaftlichen Einrichtungen. Man denkt an Dinge wie die AHV, die Armee, die Landeskirche oder das Gesundheitswesen. Wie gezeigt, lässt er sich jedoch auch im Zusammenhang kleiner Gruppen, etwa einer Familie oder Wohngemeinschaft, verwenden. Und wie im vorhergehenden Abschnitt dargestellt, lassen sich auch auf Weltebene, in der Interaktion von Nationalstaaten, Prozesse beobachten, die als Institutionalisierungen aufzufassen sind.

Bis in Bezug auf Schule und Bildung von Institutionen gesprochen wurde, bedurfte es allerdings einer Entwicklung, die sich über Jahrhunderte hinzog. Sie wurde im zweiten Hauptabschnitt in groben Zügen zu skizziert. Dabei sollte zum einen deutlich geworden sein, dass sich die historisch-konkrete Bildungsinstitution in ihren Strukturen und Prozessen nur dann angemessen beschreiben und verstehen lässt, wenn man sie in ihrer Beziehung zum weiteren gesellschaftlichen Umfeld sieht und die Wechselwirkungen zwischen dem Schulwesen und allen anderen sozialen Institutionen, «toutes les autres institutions sociales» in Durkheims Worten, mitberücksichtigt.25 Bei aller Kontinuität bestimmter Formen gesellschaftlich organisierter Bildung, wie zum Beispiel der räumlichen und zeitlichen Anordnung der Wissensvermittlung, kann institutionalisierte Bildung in einer liberalen Gesellschaftsordnung nicht gleich angeordnet sein wie in der ständischen Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts. Die oft zitierte «Selektionsfunktion» der Schule etwa ergibt nur in einer Gesellschaft einen Sinn, in der die gesellschaftliche Stellung der Menschen nicht bereits mehr oder weniger unverrückbar festgelegt ist.

Ein zweiter zentraler Befund, der sich aus dem historischen Rückblick ergibt, betrifft die Frage, welche Elemente es denn eigentlich sind, die komplexen gesellschaftlichen Gebilden wie eben etwa dem Schulwesen über längere Zeiträume hinweg eine gewisse Stabilität verleihen. In der Darstellung von Berger und Luckmann beruht sie darauf, dass ein ursprünglich auf unmittelbarer Erfahrung beruhendes Wissen darüber, wie ‹man› bestimmte Dinge tut, sich auf einer zweiten, sprachlichen Ebene gleichsam verdoppelt und damit an Menschen vermittelt werden kann, die über den unmittelbaren Erfahrungsbezug nicht oder noch nicht verfügen. In dieser Form kann es auch an eine nächste Generation weitergegeben werden, sofern die Gesellschaft über eine entsprechende Einrichtung, beispielsweise ein Schulwesen, verfügt. In dieser Form hat Wissen für die Nachgeborenen die Autorität von etwas nicht Hinterfragbarem und kann dadurch gewährleisten, dass einmal typisierte Handlungsverläufe sich über die Zeit hinweg nur langsam verändern. Demgegenüber beruht die Stabilität der Bildungsinstitution in der Makroperspektive, aus der Durkheim argumentiert, auf ihrer engen Verschränkung mit «allen anderen Institutionen der Gesellschaft». Erst wenn das dichte Geflecht von Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten ins Wanken kommt, so kann man interpretieren, kommt es zu einem Wandel auch des Bildungswesens.

Eine dritte Erklärung hat der amerikanische Soziologe Richard Scott vorgeschlagen. Auf der Grundlage einer breit angelegten Sichtung der Forschungsliteratur hat er drei Komponenten herausgearbeitet, die in theoretischen und empirischen Studien in unterschiedlicher Gewichtung immer wieder thematisiert werden, wenn es um Institution, Institutionalisierung und institutionellen Wandel geht. Er bezeichnet sie als «Pfeiler» (pillars), welche Institutionen tragen beziehungsweise stützen (Abbildung 7, Seite 46).

Abbildung 7: Stützen sozialer Institutionen


Quelle: nach Scott 2001

•Der regulative pillar verweist auf formelle, politisch abgesicherte und juristisch kodifizierte Regelungen wie Gesetze und Verordnungen, im Falle von Organisationen auch etwa Statuten oder Betriebsordnungen. Sie formulieren explizite Verhaltensvorschriften, deren Verletzung mit entsprechenden, beispielsweise strafrechtlich festgelegten, Sanktionen geahndet werden kann.

•Der normative pillar hat ebenfalls mit den Erwartungen zu tun, die sich auf das Verhalten der Menschen im gesellschaftlichen Feld beziehen. Allerdings ist es hier nun nicht ein formalisierter Codex expliziter Regeln, sondern eine Art Übereinkunft der Gesellschaftsmitglieder bezüglich eines «angemessenen» Handelns, die den Individuen im Sinne von Verhaltensregeln gegenübertritt. Bei Nichtbeachtung drohen keine formellen Verfahren, die zu Strafen führen können, wohl aber Reaktionen, die von milden Formen wie Zeichen der Missbilligung über Zurechtweisungen bis hin zu gesellschaftlicher Ächtung und Ausschluss führen können.

•Der cultural-cognitive pillar schliesslich wirkt nicht nur nicht durch formalisierte Prozesse, sondern oft nicht einmal auf einer bewussten Ebene. Hier geht es um kulturell angelegte und von den Einzelnen internalisierte Überzeugungen und Orientierungen, die manches, was sich im sozialen Raum abspielt, schlicht als selbstverständlich, nicht anders denkbar oder, wie es im angelsächsischen Raum formuliert wird, als taken for granted erscheinen lässt.

Selbstverständlich stehen diese drei Pfeiler nicht völlig selbstständig und unverbunden nebeneinander. In der sozialen Wirklichkeit gehen die drei Aspekte ineinander über, verbinden sie sich gar. Es ist erst die analytische Perspektive von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die eine der Komponenten besonders ins Zentrum rückt. Das Modell ist indessen durchaus hilfreich, wenn man die Institutionalisierung gesellschaftlicher Verhaltensweisen im historischen Verlauf beschreiben will. Der Verhaltenstyp ‹Schulbesuch› zum Beispiel wird, wie wir gesehen haben, im 17. Jahrhundert zunächst über Gesetze und Erlasse durchzusetzen gesucht, die in weiten Kreisen der Bevölkerung bis ins 19. Jahrhundert hinein normativ oder gar kulturell-kognitiv nur begrenzt abgestützt waren. Erst im 20. Jahrhundert wird der Schulbesuch zur nicht mehr weiter zu hinterfragenden Selbstverständlichkeit.

Man kann sich auch im zeitlichen Querschnitt überlegen, inwieweit die drei Pfeiler eine Institution stützen. In Bezug auf die globale Bildungsinstitution beispielsweise lässt sich im Sinne der Institutionalisierungshypothese argumentieren, dass sie insbesondere auf einem weltweiten kulturell-kognitiven Konsens bezüglich der positiven Wirkungen von Bildung beruhen. Wie sich gezeigt hat, wird dieser normativ etwa dadurch abgestützt, dass sich internationale Organisationen darum bemühen, entsprechende Verhaltenserwartungen an die Nationalstaaten salonfähig zu machen. Und mit dem Dakar-Abkommen ist neu auch etwas hinzugekommen, das bereits ein Stück weit regulativen Charakter hat. Es gibt zwar keine Weltregierung, die das Wohlverhalten der Länder erzwingen könnte, wohl aber ein Vertragswerk, das auch juristisch interpretiert werden kann. Es gibt zwar keinen kodifizierten Katalog von Sanktionen, aber doch immerhin Mechanismen wie zum Beispiel den EFA-Monitoringprozess, der die Möglichkeit von Sanktionen zumindest symbolisch anzudeuten vermag.

Vergleichbare Überlegungen könnte man beispielsweise auch in Bezug auf Entwicklungen im schweizerischen Schulwesen anstellen. Aus historischen Gründen erfolgte hier die Institutionalisierung bekanntlich im kantonalen Rahmen, während sie im nationalen Rahmen über viele Jahrzehnte hinweg schwach geblieben ist. Das HarmoS-Konkordat scheint hier eine gewisse Wende eingeleitet zu haben. Zwar handelt es sich dabei, ähnlich wie beim Dakar-Abkommen, um eine Art Staatsvertrag zwischen den Kantonen, die ja in Bezug auf Schule und Bildung souverän sind, mit dem Beitritt sind jedoch Verpflichtungen verbunden, die eine verstärkte Institutionalisierung auf nationaler Ebene stützen können. Und wenngleich die Schweiz derzeit noch nicht über ein eigentliches Bildungsministerium in der Bundeshauptstadt verfügt,26 bietet der 2006 gutgeheissene Bildungsrahmenartikel27 eine erste Plattform zur weiteren Stabilisierung einer nationalen Bildungsinstitution.

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