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Letzteres trifft namentlich auch für den Fall der damaligen Eidgenossenschaft zu. Hier wurde kurz nach dem Einmarsch der napoleonischen Truppen zunächst die Helvetische Republik ausgerufen und ein Versuch unternommen, die allgemeine Schulpflicht landesweit zu verankern. Reformen im Schulwesen sollten gemäss den Wortführern der Helvetik nicht nur der Aufklärung zum Durchbruch verhelfen und zur Perfektionierung des Menschen beitragen; vielmehr wurden sie auch als Mittel gesehen, dem neuen Staat ein Fundament zu geben und ein Zugehörigkeitsgefühl gegenüber der helvetischen Nation zu erzeugen (Bütikofer 2006, S. 131 ff.).

Bekanntlich scheiterte das Experiment der Helvetik bereits nach knapp fünf Jahren, und die weitere Entwicklung vollzog sich – ebenfalls in unterschiedlicher Geschwindigkeit – in den Kantonen. Entsprechend liess sich die Einführung der modernen Schule nicht in derselben, direkten Weise, sondern nur gleichsam auf einer unteren, kantonalen Ebene mit dem Aufbau der Nation verknüpfen. Dass der landesweite Nationalismus auf gesamtschweizerischer Ebene mehr im Rahmen eidgenössischer Schützen-, Turn- und Trachtenfeste zelebriert wurde (Jansen und Borggräfe 2007, S. 155 f.), bedeutet jedoch nicht, dass er nicht auch im Schulwesen der Kantone durchaus präsent war. Denn die kantonalen Lehrpläne und Lehrmittel, namentlich jene für die Fächer Geschichte, Geografie und Gesang, orientierten sich sehr wohl am nationalen Ganzen. Und wichtiger noch: Auch auf der kantonalen Ebene wurde die neue Schule als Volksschule, als eine Schule für Gleiche, eindeutig im Kontext der neuen Ordnung und der Herausbildung einer Nation verstanden. In einem gewissen Sinne geschah dies gar noch radikaler als anderswo. Denn die Volksschule wurde nicht nur als eine Errungenschaft des ganzen Volkes und der entstehenden Nation gefeiert, sondern namentlich auch als Beitrag zu deren demokratischen Verhältnissen. Die Schule sollte einen grundlegenden Beitrag dazu leisten, dass die Bürger des Landes16 an den Staatsgeschäften Anteil nehmen konnten.

Wie erwähnt, lässt sich die Etablierung der modernen Volksschule im Falle der Schweiz wegen der Verschiebung dieses Prozesses auf die kantonale Ebene nicht unmittelbar zu nationalistischen Bestrebungen in Beziehung setzen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht mit der Entwicklung der Schweiz als Nationalstaat aufs Engste verknüpft gewesen ist. Denn wenn sich die Schweiz im Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein föderalistisches und eben nicht zentralistisches Staatsgebilde definierte, so war es nicht zuletzt die Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse in Bezug auf Schule und Bildung nach unten, welche diesen Staatsaufbau stützte – und bis auf den heutigen Tag stützt.17

Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle nochmals Durkheims These: «Es [das Bildungssystem, M. R.] wird dann nicht als eine Gesamtheit von Praktiken und Einrichtungen erkennbar, die sich im Laufe der Zeit allmählich organisiert haben; die auf alle anderen sozialen Institutionen abgestimmt sind und diese ausdrücken; die sich demzufolge nicht nach Belieben verändern lassen, sondern nur bei gleichzeitiger Veränderung der Gesellschaftsstruktur selbst.» (Durkheim 1985, S. 44; Übers. und Hervorh. M. R.) Gerade die Entwicklungen an der Schwelle zur Moderne verdeutlichen sehr klar, dass die Praktiken und Institutionen der Erziehung vor allem dann geändert werden können, ja müssen, wenn sich die Struktur der Gesellschaft ändert, auf die sie bezogen sind. Dies scheint für den Zusammenhang zwischen Schulpflicht und Nationenbildung europaweit zu gelten, im Falle der Schweiz auch für den Zusammenhang zwischen der Etablierung der Volksschule auf der einen Seite und dem föderalistischen, demokratischen System auf der anderen.

2.3 Die Ausbreitung der weiterführenden Bildung

Halten wir nochmals fest: Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert leitet die Transformation eines ständisch gebundenen in ein auf Leistung beruhendes, meritokratisches Bildungswesen ein, an welchem alle Menschen ohne Standesunterschiede teilhaben können beziehungsweise sollen. Er markiert auch den Beginn einer Entwicklung, an deren Ende die für alle verpflichtende Elementarbildung steht. Und er setzt schliesslich, davon soll der vorliegende Abschnitt handeln, eine Entwicklung in Gang, in der das Schulwesen über die Elementarbildung hinaus ausgebaut wird. Damit erhält eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, an weiterführender Bildung teilzuhaben.

Gewiss hatte es schon in der Zeit zuvor Einrichtungen der mittleren und höheren Bildung gegeben. Sie standen jedoch ausschliesslich den städtischen Eliten offen; dies zunächst als Lateinschulen, die namentlich auf die Übernahme kirchlicher Ämter vorbereiten sollten, im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend auch auf Tätigkeiten in Verwaltung und Handel.18 Weiterführende Schulen brauchten somit nicht völlig neu erfunden, wohl aber an eine neue Denkweise angepasst zu werden. Diese bestand darin, die Bildungseinrichtungen in ihrer Gesamtheit nicht mehr als ein horizontal gegliedertes Nebeneinander von Standesschulen zu konzipieren, sondern als ein vertikal gegliedertes Ganzes.

Einer der ersten Vorschläge in dieser Richtung stammte vom Geistlichen Gregor Girard, der ihn 1798 dem Helvetischen Directorium unterbreitete (vgl. dazu Jenzer 1998, S. 30 ff.). Er regte eine Konstruktion aus drei aufeinander aufbauenden Stufen an, nämlich

•einer première école für ouvriers, artisans und laboureurs. Gemeint waren damit nicht die Kinder aus Handwerker-, Bauern- und Arbeiterkreisen, sondern Menschen, die im späteren Erwachsenenleben in Landwirtschaft, Handwerk oder Industrie tätig sein würden. Was diese erste Stufe vermitteln sollte, waren les éléments des connaissances les plus nécessaires à la vie et à l’état de citoyen d’Helvétie. Nicht berufliche Qualifikationen, sondern staatsbürgerliche Kompetenzen standen somit im Vordergrund.

•einer seconde école für gens de plume und commerçants; dies als Vorbereitung auf Tätigkeiten in Verwaltung und Handel wie auch auf die nächste Stufe.

•die troisième école für instituteurs19, médecins und juges.

Man erkennt unschwer den dreistufigen Aufbau, der auch aus heutiger Sicht durchaus vertraut erscheint. Davon abgesehen verweist der Vorschlag jedoch, mehr implizit als explizit, auf eine Reihe weiterer Merkmale, die auch noch für das heutige Bildungswesen kennzeichnend sind:

•Da ist zunächst die Idee eines Zusammenhangs zwischen schulischen Niveaus und späteren beruflichen Tätigkeiten, also die Vorstellung von Schule als Ort einer Qualifikationsvermittlung, die differenziert nach unterschiedlichen beruflichen Anforderungen erfolgen soll.

•Deutlich wird zweitens, dass die Stände und die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede nicht einfach auf einen Schlag spurlos verschwunden sind. Den drei Stufen entsprechen in Girards Vorschlag gesellschaftliche Gruppen, die auch bezüglich ihrer gesellschaftlichen Stellung vertikal angeordnet sind. Neu ist, dass die Zuordnung der Schülerinnen und Schüler zu diesen Gruppen gemäss diesem Modell nicht mehr gestützt auf Herkunft, sondern aufgrund schulischer Leistungsfähigkeit erfolgen soll.

•Daraus ergibt sich ein weiteres Merkmal, das den Vorschlag von der alten Ordnung unterscheidet: Das dreistufige System beruht auf Selektion nach Massgabe dieser schulischen Leistungsfähigkeit.

•Verknüpft man die beiden letzten Überlegungen, so ergibt sich eine weitere, die für das gewandelte Bildungswesen von fundamentaler Bedeutung ist: die Möglichkeit nämlich, gestützt auf schulische Leistungen von einer Generation zur nächsten in der sozialen Hierarchie auf- oder abzusteigen.

•Ein letzter Punkt schliesslich betrifft die Legitimation gesellschaftlicher Positionen, insbesondere privilegierter sozialer Stellung. Im Masse, in dem solche Positionen aufgrund schulischer Leistungsfähigkeit erlangt werden können, beruht die Legitimation von gesellschaftlichem Einfluss und Ansehen auf individuellem Schulerfolg – dies im Einklang mit liberalem Gedankengut, das sich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zu formieren und zu artikulieren begann.

Was Gregor Girard formulierte, war das Modell des möglichen Aufbaus eines weiter entwickelten Schulwesens, nicht ein präziser Plan zu dessen künftiger Gestalt und schon gar nicht eine Beschreibung der damaligen Wirklichkeit. In der Schweiz sollte noch manches Jahrzehnt vergehen, bis die Kantone ein Gefüge aufgebaut hatten, das in etwa dem Girard’schen Modell entsprach. Und es sollte noch mehr als 200 Jahre dauern, bis das Prinzip eines Bildungsraums Schweiz in der Bundesverfassung verankert wurde.20 Es kann nicht Sache des vorliegenden Beitrags sein, die Entwicklung während dieser Jahrzehnte im Einzelnen darzustellen.21 Was hier interessiert, ist die Dynamik, die sich auf dem Hintergrund der eben diskutierten Implikationen des Modells in Bezug auf die Entwicklung der weiterführenden Bildung hat entfalten können.

Es ist allerdings schwierig, für länger zurückliegende Perioden verlässliche Daten über das Bildungswesen zu finden. Reinhart Schneider, ein deutscher Soziologe, hat es sich dennoch vor einiger Zeit zur Aufgabe gemacht, solche Daten für die Zeit zwischen 1870 und 1975 aus 13 europäischen Ländern, unter ihnen die Schweiz, zusammenzutragen (Schneider 1982). Zwei Schweizer Kollegen haben die Werte für alle 13 Länder mit jenen für die Schweiz verglichen und dabei zwar einige Abweichungen, aber insgesamt eine Bestätigung des allgemeinen Trends gefunden (Bornschier und Aebi 1992).

Abbildung 1: Durchschnittliche Einschulungsraten für 13 westeuropäische Länder 1870–1975 in Prozent


Quelle: Schneider (1982)

Infolge der Vielfalt der Schulstrukturen in den 13 Ländern sind die Kategorien in der linken Spalte vor allem zwischen Primar- und Sekundarschülern und -schülerinnen nicht trennscharf, überschneiden sie sich doch für die Altersgruppen der Zehn- bis Vierzehnjährigen. Und auch die in der Waagrechten unterschiedenen Perioden weisen unterschiedliche Ausdehnungen auf. Bezieht sich die erste Periode auf einen Zeitraum von 40 Jahren, sind es in den drei jüngsten noch je 5 Jahre. Dennoch lassen sich aus der Tabelle ein paar Tendenzen herauslesen:

•Für alle 13 Länder steigt der Anteil Primarschüler und Primarschülerinnen an der entsprechenden Altersgruppe nach der Periode 1870–1910 noch einmal kräftig an, bleibt dann bis 1960–65 auf dem Niveau von rund 70 Prozent, um dann zur letzten Periode leicht abzusinken. Der Anstieg in der ersten Periode hat damit zu tun, dass einige der Länder die allgemeine Schulpflicht erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts einführten, das Absinken im letzten Zeitintervall damit, dass ein steigender Anteil der Zehn- bis Vierzehnjährigen bereits die Sekundarschule besucht. Für die Schweiz liegen die Werte recht konstant bei knapp 80 Prozent; dies ist eine Folge der vergleichsweise frühen Institutionalisierung der Volksschule.

•Bei der Sekundarschule zeigt sich über alle Perioden hinweg für die Gesamtheit der berücksichtigten Länder ein dramatischer Anstieg von 2.2 Prozent (1870–1910) auf ein volles Drittel der Altersgruppe 10–19. Auch für die Schweiz steigen die Werte an, allerdings in einem viel schwächeren Ausmass, nämlich von etwa 3 auf 9 Prozent. Hier wirkt sich einerseits der Umstand aus, dass die sich in einer Berufslehre befindenden Jugendlichen nicht mitgezählt wurden, weil sie keine Vollzeitschule besuchten. Zum anderen spiegelt sich darin auch eine grössere Zurückhaltung der Schweizer Kantone in Bezug auf den Ausbau der Sekundarschulbildung.

•Ein ähnliches Bild ergibt sich für die tertiäre Bildung. Auch hier ist europaweit ein stetiger, wenngleich viel moderaterer Anstieg zu verzeichnen, der sich auch in der Schweiz nachweisen lässt, wobei hier wiederum eine grössere Zurückhaltung zu verzeichnen ist.

Im nachfolgenden Abschnitt wird sich zeigen, dass sich der Trend in Bezug auf die tertiäre Bildung ab 1975 nicht nur fortsetzt, sondern gar ein exponentielles Wachstum zu verzeichnen ist. Bevor wir uns dieser jüngsten Periode zuwenden, soll jedoch erst die Frage diskutiert werden, wie man sich die Zunahme der Beteiligung an mittlerer und höherer Bildung überhaupt erklären kann: Was bewegt die Staaten dazu, das Angebot an weiterführender Bildung stetig zu erweitern? Und was bringt die Menschen in den verschiedenen Ländern dazu, davon Gebrauch zu machen?

In der bildungssoziologischen Diskussion sind verschiedene Vorschläge erwogen worden, wie das Phänomen der Bildungsexpansion – und genau darum handelt es sich beim Ausbau der nachobligatorischen Bildung – erklärt werden könnte. Der scheinbar nächstliegende Ansatz argumentiert mit einer Veränderung und Zunahme der gesellschaftlichen Anforderungen, die es mit einem Ausbau der sekundären und tertiären Bildung zu bewältigen gibt. Man kann ihn als funktionalistischen Erklärungsansatz oder die funktionalistische Hypothese bezeichnen. Sie besagt, dass in der Gesellschaft des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts der Bedarf an Qualifikationen und Kompetenzen stetig und mit zunehmender Geschwindigkeit gestiegen ist, weshalb das Bildungswesen für die Bereitstellung dieser Qualifikationen und Kompetenzen sorgen musste, was insgesamt zu einer zunehmenden Verweildauer junger Menschen in schulischen Einrichtungen geführt hat.

Die Erklärung ist auf den ersten Blick bestechend. Denn es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass das moderne Leben immer mehr neue Anforderungen an die Menschen stellt, mit denen sie in früherer Zeit noch nicht konfrontiert gewesen waren. Man denke hier etwa an die technologische Entwicklung, die sie in ihrer beruflichen Tätigkeit, aber auch im Alltagsleben mit zunehmend komplexen Anforderungen konfrontiert. Oder an die Einrichtungen der Sozialversicherungen, deren Regelwerke seit ihrer Einführung gewiss nicht an Durchsichtigkeit gewonnen haben. Oder schliesslich an Vorlagen eidgenössischer und kantonaler Abstimmungen, die zu verstehen Kopfzerbrechen bereiten kann.

Die funktionalistische Hypothese ist somit sicherlich recht einleuchtend, wenn man sich die zunehmende Differenzierung, Komplexität, Technisierung und Verwissenschaftlichung vieler Lebensbereiche vor Augen führt. Die These, dass es einen wachsenden Qualifikationsbedarf gibt, ist daher kaum von der Hand zu weisen. Es gibt jedoch auch gewichtige Einwände, besonders gegen die implizite Annahme, dass das Bildungswesen auch tatsächlich auf den sich ändernden Bedarf an Kompetenzen reagiert. Denn das würde ja bedeuten, dass es sich nicht nur quantitativ ausweitet, sondern auch laufend danach fragt, welche neuen Kompetenzen zu vermitteln sind, und entsprechend Lehrpläne, Lehrmittel und Lehrerbildung rasch an die neuen Qualifikationsprofile anpasst.

Dass dies tatsächlich geschieht, darf zumindest angezweifelt werden. Zwar wird man der berufsfachlichen Bildung eine schnelle Anpassung an den sich ändernden Qualifikationsbedarf attestieren können. In allgemeinbildenden Schulen jedoch ist dies weit weniger der Fall. Denkt man etwa an die Gymnasien, so wird man für das 20. Jahrhundert kaum von einer raschen, laufenden Anpassung der Lehrpläne und Lehrmittel an die neuen Erfordernisse sprechen können. Es ist ja nicht so, dass die Verantwortlichen das Fach Latein über Bord geworfen hätten, um Raum für die Vermittlung von Qualifikation für die Staatsbürgerrolle oder im Bereich der Sozialversicherungen zu gewinnen. Und auch die Sekundarstufe I hat sich nicht so entwickelt, dass sie sich laufend an solche neuen Herausforderungen anpasste. Was in den Reformen dieser Stufe (zumindest in der Schweiz) vor allem thematisiert wurde, war zumeist etwas anderes: nämlich ihre innere Differenzierung in obere und untere Niveaus, in Schulen mit ‹Grundansprüchen›, die im Allgemeinen in eine Berufslehre münden, und Schulen mit ‹erweiterten Ansprüchen›, die zum akademischen Bildungsweg führen.

Mit dem Verweis auf die innere Differenzierung der sekundären Bildung gelangt ein zweiter Ansatz zur Erklärung der Bildungsexpansion ins Blickfeld. Man kann die ihm entsprechende Hypothese als Statuswettbewerb-Hypothese bezeichnen. Sie besagt, dass es die Konkurrenz zwischen den Individuen und Familien um die Erlangung privilegierter sozialer Positionen (beziehungsweise um die Vermeidung eines Verlusts solcher Positionen in der Generationenfolge) ist, welche die Bildungsexpansion antreibt.22 Zum Verständnis dieser Hypothese muss noch einmal auf die Ausführungen zu den Implikationen zurückgegriffen werden, die der Übergang zu einem dreistufigen Schulwesen nach den Vorstellungen von Gregor Girard hat. Wie dort gezeigt, ermöglicht es sozialen Aufstieg und Abstieg nach Massgabe schulischer Leistungen und erleichtert die Legitimation von Einfluss und Ansehen. Die meisten Menschen haben ein Interesse daran, einen sozialen Aufstieg zu erreichen oder doch einen Abstieg zu vermeiden. Wenn beides an das Erreichen bestimmter schulischer Zertifikate gebunden ist, haben sie auch ein Interesse daran, dass ihre Kinder über den elementaren Schulabschluss hinausgelangen, das heisst an mittlerer und höherer Bildung teilhaben können.23 Dieses gemeinsame Interesse erzeugt Druck auf den Staat, die weiterführende Bildung zumindest moderat auszubauen. Die verantwortlichen Behörden können diesen Druck nicht einfach ignorieren, wenn sie sich weiterhin der Unterstützung derjenigen gewiss sein wollen, die sie gewählt haben.

Ein dritter Ansatz zur Erklärung der Bildungsexpansion, die Institutionalisierungshypothese, soll im nachfolgenden Abschnitt im Zusammenhang mit der Institutionalisierung der Bildung im globalen Massstab diskutiert werden, das heisst im Zusammenhang mit einer Bildungsinstitution, die weltweit einen Grad an Selbstverständlichkeit erlangt hat, der einen Widerstand der verantwortlichen Behörden gegen einen weiteren Ausbau wenn nicht verunmöglicht, so doch erheblich erschwert.

2.4 Das Bildungswesen als globale Institution

Bis zur Zäsur des Zweiten Weltkriegs konnte man die Entwicklung der Bildung als ein Geschehen verstehen, das sich im Rahmen einzelner Nationalstaaten ereignete und auch durch die in den einzelnen Staaten gegebenen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu erklären war. In der Nachkriegszeit jedoch erhielt sie zunehmend eine globale Dimension. Dies lässt sich gut veranschaulichen, wenn man den Blickwinkel erweitert und sich die Entwicklung im Weltmassstab näher ansieht.

Da wäre zunächst einmal die Expansion der tertiären Bildung ins Auge zu fassen. Wie die Abbildung 2 auf Seite 34 zeigt, erfuhr diese weltweit ein exponentielles Wachstum. In wenig mehr als einem guten halben Jahrhundert nahm die Zahl der Studierenden auf dieser Stufe von etwa 4 auf rund 100 Millionen zu.

Abbildung 2: Entwicklung der Studierendenzahlen weltweit zwischen 1815 und 2000


Quelle: Schofer und Meyer 2005

Dass dies nicht einfach eine Folge der Bevölkerungsexplosion gewesen ist, belegt Abbildung 3. Sie zeigt, dass sich der Anteil der in tertiären Bildungseinrichtungen Eingeschriebenen an der Gesamtheit der jeweiligen Bevölkerung im selben Zeitraum von weniger als 0.5 Prozent auf 2–3.5 Prozent erhöht hat. Und das nicht einfach nur im hoch entwickelten Westen sondern, mit Ausnahme von Schwarzafrika, in allen Weltregionen.

Abbildung 3: Anteil Studierender an Gesamtbevölkerung (1900–2000), aufgeschlüsselt nach Weltregionen


Quelle: Schofer und Meyer 2005

Auch was den Stellenwert der Bildung in den Strukturen des Nationalstaats anbelangt, zeigt sich ein vergleichbares Bild (vgl. Abbildung 4 auf Seite 36). Verfügte 1945 etwa die Hälfte der damals als Nationalstaaten anerkannten Länder über ein eigenes Bildungsministerium und etwa ein Viertel über ein Bildungsgesetz, so gibt es im Jahr 2000 in über 90 Prozent der Staaten ein eigens für Bildung zuständiges Ministerium und in mehr als 80 Prozent eine Bildungsgesetzgebung. Die Förderung der Bildung als eine wichtige Staatsaufgabe hat sich somit weltweit praktisch flächendeckend durchgesetzt. Solche Quantensprünge lassen sich schwerlich aus den Bedingungen in den einzelnen Ländern heraus erklären. Vieles deutet darauf hin, dass da etwas geschehen ist, das nur verstanden werden kann, wenn man den Blick auf die Weltgesellschaft als Ganzes richtet.

Abbildung 4: Anteil Länder mit Bildungsministerium beziehungsweise Bildungsgesetzgebung (1800–2000)


Quelle: Kim 2006

Die Staatengemeinschaft hat am Ende des Zweiten Weltkrieges damit begonnen, diesen Blickwinkel systematisch einzunehmen. Dies erstmals mit grosser Deutlichkeit am 10. Dezember 1948 im Rahmen der Resolution 217 A (III), besser bekannt als Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Artikel 26 dieses Dokuments hält fest:

«1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zumindest der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermassen und entsprechend ihren Fähigkeiten offen stehen.

2. Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein. […]» (Vereinte Nationen 1948, S. 5 f.)

Man findet hier in hoher Verdichtung formuliert, was die europäische Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert in Bezug auf Bildung hinterlassen hat – im zweiten Absatz die grossen Hoffnungen, ja Erwartungen der Aufklärung bezüglich der positiven Auswirkungen von Bildungsprozessen; im ersten eine Umschreibung dessen, was sich in Europa während der vorangegangenen eineinhalb Jahrhunderte bezüglich des Zugangs zu Bildung schon mehr oder weniger eingebürgert hatte.

Selbstredend war der Artikel 26 der AEMR, wie andere Artikel auch, eine noch recht unverbindliche Absichtserklärung, an der sich die Staaten und namentlich die Vereinten Nationen orientieren konnten, deren Nichtbefolgung jedoch keine grösseren Folgen hatte. Es gab und gibt bis heute keine Weltregierung, welche diese Leitlinie mit Staatsgewalt durchsetzen könnte. Immerhin aber, und darin bestand das Neue, formulierte die AEMR so etwas wie eine Erwartung, welche die Weltgemeinschaft und nicht mehr bloss einzelne Länder oder Ländergruppen an die Staaten richteten, also gleichsam ein Signal, das von höherer Warte ausgesendet wurde. Das Signal beinhaltete in seiner Gesamtheit eine Vorstellung davon, was eine Nation zu tun hat, um von der Weltgemeinschaft als ‹anständiger›, legitimer Nationalstaat anerkannt zu werden. Darüber hinaus bot Artikel 26 der AEMR der Weltorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) Rahmenbedingungen, auf der sie ihre Tätigkeit entfalten konnte. Sie tat dies zunächst dadurch, dass sie die Bildungsentwicklung in den Mitgliedstaaten unterstützte sowie zwischenstaatliche Kontakte und Austausch förderte.

Es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, bis die Umsetzung des noch unverbindlichen Artikels 26 auf globaler Ebene ernsthaft in Angriff genommen wurde. 1990 verständigten sich die Regierungen eines Grossteils der UNESCO-Mitgliedländer anlässlich der World Conference on «Education for All» in Jomtien (Thailand) im Grundsatz darauf, ein Projekt «Bildung für Alle» in Angriff zu nehmen. Im Jahr 2000, also zehn Jahre später, machte man sich an die konkrete Umsetzung. Vertreter der nationalen Ministerien auf der einen Seite und Repräsentanten der grossen Kreditinstitute (Weltbank, Internationaler Währungsfonds) sowie mehrere Organisationen der UNO und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen auf der anderen trafen sich in Dakar (Senegal) zum World Forum on Education for All und arbeiteten eine Declaration on Education for All (EFA) aus. Dabei verständigte man sich auf eine Reihe recht präzis gefasster Ziele:

«Wir verpflichten uns hiermit gemeinsam, die folgenden Ziele zu erreichen:

•Vorschulbetreuung und -erziehung auszubauen und zu verbessern, besonders für die schwächsten und am meisten benachteiligten Kinder;

•dafür zu sorgen, dass bis 2015 alle Kinder – besonders Mädchen, Kinder in schwierigen Lebensumständen und ethnische Minoritäten – Zugang zu kostenloser, obligatorischer Primarschulbildung von guter Qualität haben und diese abschliessen können;

•sicherzustellen, dass den Lernbedürfnissen aller jungen und erwachsenen Personen durch den Zugang zu geeigneten Lernmöglichkeiten und ‹life skill›Programmen Rechnung getragen wird;

•bis 2015 die Alphabetisierungsrate der erwachsenen Bevölkerung, besonders der Frauen, um 50 Prozent zu verbessern und allen Erwachsenen Zugang zu Grund- und Weiterbildung zu bieten;

•Ungleichheiten zwischen Mädchen und Jungen bezüglich Primar- und Sekundarschulbildung bis 2005 auszumerzen und bis 2015 völlige Gleichstellung zu erreichen; dies mit speziellem Augenmerk auf den vollen und gleichberechtigten Zugang von Mädchen zu einer Grundbildung von guter Qualität;

•Bildungsqualität in allen Aspekten zu verbessern und dabei einen hohen Standard (excellence) zu erreichen, sodass anerkannte und messbare Resultate, besonders bezüglich literacy, numeracy und life skills, von allen erreicht werden.» (UNESCO, 2000; Übers. M.R)

Die Erklärung enthält also nicht nur Aussagen darüber, welche inhaltlichen Ziele erreicht werden sollen; sie macht auch recht präzise Angaben darüber, in welchem Zeitraum dies ganz oder bis zu einem bestimmten Grad der Fall sein soll.

Es sind sehr ambitiöse Ziele, die da anvisiert werden, und ihre fristgerechte Umsetzung erscheint zumindest als fraglich. Dennoch ist das Abkommen auch in Bezug auf die Umsetzung solcher Projekte wegweisend:

Bemerkenswert ist zunächst, dass es sich nicht einfach um eine Vereinbarung zwischen nationalen Regierungen und Ministerien handelt, sondern auch die möglichen Geldgeber eingebunden werden. Man verpflichtet sich auf beiden Seiten: die Regierungen zur Durchführung einer Bildungspolitik, die in Richtung der gesteckten Ziele weist, die Kreditinstitute zur finanziellen Unterstützung einer solchen Politik.

Interessant ist weiterhin der Versuch, die Nachhaltigkeit des Abkommens mithilfe moderner Managementinstrumente zu unterstützen. Mit der Benennung von Fristen («bis 2015») werden gleichsam Benchmarks gesetzt. Und der Grad der Zielerreichung wird nicht erst am Ende der vereinbarten Periode evaluiert, sondern im Sinne eines permanenten Monitorings zu erfassen versucht. Eine eigene Abteilung bei der UNESCO in Paris trägt quantitative und qualitative Informationen aus den einzelnen Ländern zusammen und verarbeitet sie zu umfangreichen Berichten, die sich nicht nur an eine kleine Zahl von Spezialisten richten, sondern relativ breit gestreut werden. Ein erster dieser Berichte wurde bereits 2002, also gerade einmal zwei Jahre nach dem Abschluss des Abkommens, unter dem Titel Education for All. Is the World on Track? (Unesco 2002) veröffentlicht. Die breite Streuung dieser Berichte hat auch zur Folge, dass eine breitere Öffentlichkeit davon Kenntnis erhält, welche Länder sich in Richtung der im Abkommen definierten Ziele bewegen und welche nicht; oder direkter formuliert, welche Regierungen tatsächlich eine damit zu vereinbarende Politik verfolgen oder die Verpflichtung, die sie eingegangen sind, vernachlässigen. Die Vertragspartner des EFA-Abkommens stehen somit unter Beobachtung und sehen sich einem Erwartungsdruck ausgesetzt, ihren Verpflichtungen auch tatsächlich nachzukommen. Dass dies in Wirklichkeit nicht überall geschehen ist und die gesteckten Ziele nur zum Teil erreicht sein werden, geht aus einer Skizze für den Monitoring-Bericht für 2015 hervor, der zahlreiche Fortschritte, aber auch erhebliche Defizite in Bezug auf alle sechs Ziele ausweisen wird (UNESCO 2014). In Reaktion darauf hat UNESCO denn auch der 37. Generalversammlung eine Agenda für die Zeit ab 2015 präsentiert (UNESCO 2015).

Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die eben geschilderten Vorgänge zwar zu einer globalen Institutionalisierung schulischer Bildung als solcher führen, dass aber die konkrete Ausgestaltung des Schulwesens der Länder völlig unterschiedlich aussieht, auch weil die Schule je nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Situation der Länder ganz anderen Zwecken und Bedürfnissen dienen muss. In der Tat lassen sich zwischen den Ländern zahlreiche Unterschiede beobachten. Diese beruhen jedoch oft weniger auf der gegenwärtigen Situation, sondern wurzeln eher in einer je besonderen Entwicklungsgeschichte, die den weiteren Entwicklungsverlauf geprägt und kanalisiert hat. Zu beobachten ist aber auch eine erstaunliche Ähnlichkeit der Art und Weise, wie das Bildungswesen organisiert ist, also etwa in der Art der Unterteilung in Schulstufen und der Anzahl Jahre, die für das Absolvieren einer dieser Stufen vorgesehen sind.

Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist gerade auch ein Vergleich der Bildungsziele und -inhalte. Denn gerade in ihnen, so sollte man erwarten, müssten sich die je spezifischen nationalen Bedürfnisse in besonders ausgeprägtem Masse äussern. Entgegen dieser Erwartung weisen jedoch die formalen Curricula, also die Aufteilung dieser Inhalte in Schulfächer, eine erstaunliche und über das 20. Jahrhundert hinweg zunehmende Ähnlichkeit auf, wie eine 1992 erschienene Studie (Meyer et al. 1992) und eine Reihe von Nachfolgeuntersuchungen haben zeigen können.24

In der Studie wurden zwei Gruppen von Ländern untersucht und je über zwei Perioden in Bezug auf den Fächerkanon der Primarschule verglichen (Abbildung 5). Die erste, «Panel A», umfasste insgesamt 48 Länder, für die Angaben zur Periode 1920–1944 und 1945–1969 einigermassen vollständig ermittelt werden konnten. Für eine zweite, grössere Gruppe, «Panel B», konnten Daten von mindestens 75, im besten Fall gar 82 Ländern ebenfalls zur Periode 1945– 1969 und ausserdem auch für 1970–1986 ermittelt werden. Die Tabelle auf Seite 40 zeigt jeweils für beide Zeitabschnitte, in welchem Masse (ausgedrückt in Prozent der in den Vergleich einbezogenen Länder) die links erwähnten Fächer beziehungsweise Fächergruppen im Lehrplan aufgeführt waren. Die Ergebnisse für Panel A zeigen einerseits eine Zunahme des Anteils bei Naturwissenschaften, ästhetischer Bildung und Sport, anderseits eine Abnahme für Religion/Moralerziehung, Gesundheitserziehung und praktisch/berufsbildende Fächer. Anders bei Panel B: Mit Ausnahme der praktisch/berufsbildenden Inhalte nimmt die Übereinstimmung zu oder bleibt der Anteil einigermassen konstant. Insgesamt ist die Situation ab den 1970er-Jahren dadurch gekennzeichnet, dass alle Länder Sprache und Mathematik (dies schon im früheren 20. Jahrhundert) sowie Naturwissenschaften und Social Studies (Gesellschaftskunde und Geschichte) als eigene Fächer in ihren Lehrplänen aufführen. Auf einen fast ebenso hohen Wert bringen es ästhetische Bildung und Sport.

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