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Tröhler, Daniel (2007): Schulgeschichte und Historische Bildungsforschung. Methodologische Überlegungen zu einem vernachlässigten Genre pädagogischer Historiographie. In: Tröhler, Daniel und Schwab, Andrea (Hrsg.): Volksschule im 18. Jahrhundert. Die Schulumfrage auf der Zürcher Landschaft in den Jahren 1771/1772. 2., durchgesehene Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 65–93.

Tröhler, Daniel und Schwab, Andrea (Hrsg.) (2007): Volksschule im 18. Jahrhundert. Die Schulumfrage auf der Zürcher Landschaft in den Jahren 1771/1772. 2., durchgesehene Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

UNESCO (2000): The Dakar Framework for Action, Education for All: Meeting our Collective Commitments, adopted by the World Education Forum (Dakar, Senegal, 26–28 April 2000). Paris: UNESCO.

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KAPITEL 2

Zur Soziologie des Lehrberufs Geschichte, gesellschaftliche Lage und berufliches Selbstverständnis: Das Beispiel von Lehrerinnen und Lehrern an Volksschule und Gymnasium

Ursula Streckeisen

Einleitung

Keine moderne Gesellschaft kann ohne die Institution Schule und ihre Kernakteure, die Lehrerinnen und Lehrer,28 bestehen. Neben der familialen Sozialisation setzt die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nämlich auch ausserfamiliale, im Rahmen des Bildungswesens organisierte Eingliederungsprozesse junger Menschen voraus. Ort dieser absichtsvollen, geplanten Sozialisation sind die Schulen, in denen Lehrerinnen und Lehrer der heranwachsenden Generation breit angelegtes Wissen sowie gesellschaftliche Normen und Werte vermitteln und die Kinder und Jugendlichen beim Erwachsenwerden begleiten.

Der heutige Lehrerberuf mit all seinen Facetten ist das Ergebnis einer historischen Entwicklung, die Hand in Hand mit der Entstehung des öffentlichen Bildungswesens geht. Aus dem Dorfschulmeisterlein des Spätmittelalters wurde der staatlich angestellte ‹Herr Lehrer›; aus der Vielfalt von Theologen, Handwerkern und Küstern, die im 16. Jahrhundert auf dem Land einigen wenigen Kindern nebenbei das Schreiben und Rechnen beibrachten, wurde im 19. Jahrhundert eine gesellschaftlich sichtbare, ‹stolze› Berufsgruppe. Allerdings hatten diese Lehrer auch zunehmend Aufgaben zu übernehmen, die mehr den erstarkten Nationalstaat als sie selber interessierten und berufliche Spannungen erzeugten. Zu diesen Aufgaben gehörte vor allem auch das Selegieren von Schülerinnen und Schülern im Zusammenhang mit Schullaufbahnentscheiden.

Der Begriff ‹Lehrer› verbindet sich im Alltagsdenken vielfach mit dem Bild des Volksschullehrers, jener Person also, die im Rahmen der heute obligatorischen Schule Unterricht erteilt. Der vorliegende Text geht weiter, da er auch die Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien29 einbezieht.30 Das ermöglicht Vergleiche, welche die Besonderheit der beiden Berufe (Volksschullehrer und Gymnasiallehrer) verdeutlichen. Auch der Gymnasiallehrberuf ist historisch entstanden: An die Stelle des ‹gelehrten Mönchs› der mittelalterlichen Klosterschulen trat ab dem 16. Jahrhundert der Theologe, der an einer sogenannten höheren Schule den Kindern privilegierter Milieus Unterricht erteilte, bevor er eine Pfarrstelle übernehmen konnte. Im 19. Jahrhundert trat der eigentliche Gymnasiallehrer auf den Plan. Man kann ihn als humanistischen Schulmann bezeichnen, der sich später zum Fachwissenschaftler wandelte. Das 20. und vor allem das 21. Jahrhundert sind dann von Entwicklungen im Bildungswesen geprägt, die zu einer Annäherung von Volksschul- und Gymnasiallehrberuf führen.

Wie ist es so weit gekommen und in welchen Spannungsfeldern stehen die verschiedenen Lehrerinnen und Lehrer heute? Dies sind die Fragen, die uns im Folgenden beschäftigen. Abschnitt 1 legt mit einigen theoretischen Konzepten Grundlagen, die einen soziologischen Blick auf den Lehrberuf ermöglichen. Abschnitt 2 befasst sich mit der historischen Herausbildung der beiden Lehrberufe Volksschul- und Gymnasiallehrer. Wir zeigen in erster Linie, wie die Tätigkeit des Lehrens im Verlauf der Geschichte zunehmend ‹Berufsform› und dann ‹Professionsform› angenommen hat, und beleuchten die Frage, inwieweit die Entwicklungen heute wieder von diesen Formen wegführen, indem sie eine Deprofessionalisierung einleiten. Abschnitt 3 richtet den Blick auf berufliche Spannungen, mit denen Lehrkräfte heute konfrontiert sind. Zunächst thematisieren wir in diesem Abschnitt die Lehrer-Schüler-Beziehung in theoretischer Hinsicht und erörtern eine spezifische Spannung, die als wesentliches Charakteristikum des modernen Lehrberufs bezeichnet werden kann: die Spannung zwischen pädagogischen und nicht-pädagogischen, selegierenden Aufgaben. Vor diesem Hintergrund fragen wir danach, wie Lehrerinnen und Lehrer diese Spannung in ihren beruflichen Selbstdeutungen zu bewältigen suchen, und nutzen dabei Ergebnisse einer empirischen Studie, die sich für Volksschullehrerinnen und -lehrer interessiert.31

1Berufs- und professionstheoretische Erörterungen

Gesellschaften haben Bestand dank der Arbeit, die von Menschen geleistet wird. Man denke an die Produktion von Nahrungsmitteln und Maschinen, an den Transport von Personen und Gütern oder an ärztliche Hilfe. Ein Grossteil dieser unverzichtbaren, gesellschaftlich nützlichen Arbeit nimmt in modernen Lebenszusammenhängen die Form der Erwerbsarbeit an und findet typischerweise in besonderen Arrangements ausserhalb von Familie und Verwandtschaft statt. Erwerbsarbeit ist arbeitsteilig organisiert, dabei bringt die Arbeitsteilung unter anderem eine Aufteilung der Arbeit auf verschiedene Berufe und Professionen mit sich, die in qualifiziertem Modus jeweils spezifische Aufgaben übernehmen. Das Beruflichkeitsprinzip und das Professionsprinzip sind besonders tief im deutschsprachigen Raum verankert.

1.1 Zum Berufsbegriff

Unter ‹Beruf› verstehen wir in soziologischer Lesart zunächst ein Bündel von Arbeitsfähigkeiten, das sich gesellschaftshistorisch herausgebildet hat, sozial normiert und von anderen Berufen klar abgrenzbar ist (Beck, Brater und Daheim 1980 u. a.). Beruf ist keine Jedermannstätigkeit oder Jedefrautätigkeit, ein Mindestmass an fachlicher Ausbildung ist die Voraussetzung, um einen Beruf auszuüben (Weber 1922/1985). Beruf ist auch kein Job, der ohne inneres Engagement ausgeübt und beliebig gewechselt werden könnte. Vielmehr wird der Beruf mit einer gewissen Leidenschaft ausgeübt und bringt Anerkennung. Für das einzelne Individuum bildet er denn auch ein Stück weit die Basis der eigenen sozialen Identität, hat also stabilisierende Bedeutung (Schelsky 1965/1972). Auch für die Gesellschaft haben Berufe eine stabilisierende Bedeutung, denn sie stellen eine soziale Institution32 dar, die einen festen, dauerhaften Bestandteil des sozialen Ganzen bildet und die einzelnen Berufstätigen als solche gesellschaftlich integriert. Viele, aber nicht alle Berufe kennen einen Berufsverband, welcher Regeln für die Ausbildung und die Berufsausübung festlegt und Interessenpolitik betreibt. Eine solche Interessenpolitik strebt nicht zuletzt danach, dass dem Beruf die alleinige Berechtigung zur Ausübung bestimmter Tätigkeiten zugesprochen wird. In seiner reinsten Ausprägung hat ein Beruf Monopolcharakter.

Jeder Beruf hat zwei Seiten; er ist gewissermassen doppelsinnig: Wer einen Beruf ausübt, erbringt in der arbeitsteiligen Gesellschaft nicht nur gesellschaftlich nützliche, sachliche Leistungen, sondern kann mit seiner Arbeit auch Geld für seinen Lebensunterhalt erwerben (Weber 1922/1985). In (kapitalistischen) Marktgesellschaften tun Berufsinhaber also gesellschaftlich Nützliches und sichern dadurch zugleich ihre eigene materielle Lage. Beck, Brater und Daheim sprechen in diesem Zusammenhang von einer objektiv-gesellschaftlich gegebenen «doppelten Zweckstruktur» (Beck, Brater und Daheim 1980, S. 243 ff.), die auf der subjektiven Ebene des Erlebens und Empfindens zu einer Ambivalenz zwischen einem sachbezogenen, gesellschaftlich nützlichen Engagement einerseits und einer instrumentellen, rein zweckorientierten Haltung andererseits führt. Die Autoren beziehen sich dabei auf die Marx’sche Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert menschlicher Arbeit (Marx 1890/1961). Auf der instrumentellen, tauschwert-orientierten Seite kann neben dem Interesse an finanziellen Ressourcen auch das Interesse an einem Zugewinn von zunächst immateriellen Ressourcen wie Macht, Status oder Prestige eine Rolle spielen. Die Doppelsinnigkeit moderner beruflicher Arbeit enthält die Gefahr, dass sich Tauschwert- und Gebrauchswertinteressen voneinander loslösen. Der Krebsforscher etwa, der sich hauptsächlich über seinen Aufstieg im Wissenschaftsbetrieb Gedanken macht und pausenlos publiziert, ohne sich weiter in die (sachbezogene) Krebsforschung zu vertiefen, trägt nicht zur Wissenserweiterung bei und vernachlässigt somit seine eigentliche Aufgabe.

Die Idee der Doppeltheit des Berufs ist nicht neu. Schon Martin Luther unterschied einen geistlichen und einen weltlichen Beruf des Christenmenschen (vocatio spiritualis und vocatio externa). In der Aufklärung wurde zwischen einem ‹inneren› und einem ‹äusseren› Beruf unterschieden (Conzé 1972, S. 493 ff.). Diese Vorstellung prägt auch das Berufskonzept von Max Weber (1864–1920), vor allem in seinen Werken zur «Wissenschaft als Beruf» (1919/1988) und zur «Politik als Beruf» (1919/1988). In beiden Schriften betont Weber die Notwendigkeit der leidenschaftlichen Hingabe an eine Sache für den Fall, dass die berufliche Arbeit gelingen soll. Der Berufsinhaber33 lässt sich von seiner Aufgabe hinreissen und begeistert auch seine Kollegen oder Klienten. Ohne die Ausseralltäglichkeit der Leidenschaft, so Weber, kann die gewöhnliche, alltägliche Leistung des Fachmenschen nicht erbracht werden. In einem Vortrag vor Studierenden sagte Weber 1919 zur inneren Haltung des Wissenschaftlers das Folgende:

«Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzulegen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, dass das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur (Vermutung, Lesart, US) an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern. Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das ‹Erlebnis› der Wissenschaft nennt. Ohne diesen seltsamen, von Draussenstehenden belächelten Rausch, diese Leidenschaft […] hat einer den Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes.» (Weber 1919/1988, S. 599, Hervorh. im Original)

Der ‹gute› Wissenschaftler muss sich also vertiefen, von der Umwelt abschotten und in Musse den fachlichen Details überlassen können. Von Tauschwertaspekten seiner Arbeit, von Problemen der Zeitknappheit und des Einkommens, von Fragen des Prestiges und der Machtausübung sieht er in solchen Momenten ab. Sollte er diese aber gänzlich hinanstellen oder vergessen – so lässt sich weiter denken –, gefährdet er möglicherweise sein Projekt. Im Extremfall droht ihm ein Wissenschaftlerdasein in Armut, wie wir es von brotlosen Künstlerinnen und Künstlern kennen. Auch ‹begnadete› Pädagoginnen und Pädagogen, die sich aus lauter Engagement für die Sache gegen einen Hungerlohn immer wieder als geliebte Aushilfe einsetzen lassen, also nur die Gebrauchswertseite ihrer Arbeit im Auge haben, sind in ihrer materiellen Existenz gefährdet.

Der Begriff ‹Beruf› bezeichnet also ein historisch entstandenes, gesellschaftlich normiertes Ensemble von Arbeitsfähigkeiten, das eine fachliche Ausbildung voraussetzt. Wer seinen Beruf ausübt, erbringt mit innerem Engagement gesellschaftlich nützliche Leistungen (Gebrauchswertaspekt) und sichert dadurch gleichzeitig seinen eigenen Lebensunterhalt, seinen Status und sein Prestige (Tauschwertaspekt). Im Idealfall halten sich Gebrauchswert- und Tauschwertinteressen die Waage. Abschnitt 2 zeigt unter anderem, wie im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte aus der Laientätigkeit des beiläufigen Etwas-Beibringens der moderne Volksschullehrberuf und aus dem ‹gelehrten› Mönch des Klosters der Gymnasiallehrberuf geworden ist und wie sich bei beiden die Doppelsinnigkeit von Tausch- und Gebrauchswert ausprägt.

1.2 Zum Professionsbegriff

‹Professionen› sind in soziologischer Lesart eine besondere Art von Berufen. Sie lassen sich als hoch qualifizierte, an moderner Wissenschaft orientierte Berufe charakterisieren, die mit Klientinnen und Klienten befasst sind, welche kritische Schwellen, Gefährdungen menschlicher Lebensführung, Existenzprobleme oder «Krisen»34 zu bewältigen haben (Stichweh 1987; Oevermann 1996). Meist sind dabei gesellschaftliche Werte wie Gesundheit oder Gerechtigkeit tangiert, die im Zusammenhang mit der Idee des gesellschaftlichen Allgemeinwohls eine zentrale Bedeutung haben.

Betroffene, die ihre Schwierigkeiten nicht allein bewältigen können, finden in den Professionsinhaberinnen und -inhabern Experten, die Unterstützung gewähren und ein Stück weit anstelle ihrer selbst handeln. Diese Experten verfügen über ein entsprechendes Monopol: Die Gesellschaft hat ihnen gleichsam das Mandat erteilt, Krisenhilfe zu leisten (Schütze 1996). Zumeist arbeiten sie freiberuflich; doch haben sich vor allem im deutschsprachigen Raum auch Professionen herausgebildet, deren Angehörige als Angestellte des Staates tätig sind. Pfarrer können als Beispiel genannt werden. Diese Professionellen haben teilweise einen Beamtenstatus, wie die Bezeichnung ‹Pfarramt› belegt (Lundgreen 1988, Janz 1988 u. a.).

Im Folgenden sei auf zwei Aspekte näher eingegangen, auf die Gelingensbedingungen professioneller Arbeit (inkl. professioneller Lehrerarbeit) und auf die Doppelsinnigkeit Gebrauchswert-Tauschwert bei Professionen.

Gelingensbedingungen professioneller Arbeit

Der handlungsstrukturelle professionssoziologische Ansatz (Oevermann 1996, 2002, 2008) fragt danach, was geschehen muss, wenn die Krise, in der die Klienten der Professionellen sich befinden, bewältigt werden soll. Das Interesse gilt also den Gelingensbedingungen.35 Professionelle, so Oevermann, müssen systematisches wissenschaftliches Wissen bei der Lösung von Problemen anwenden. Diese Anwendung darf nicht «ingenieurial», das heisst deduktiv ableitend, geschehen wie etwa beim Brückenbau, sondern muss «interventionspraktisch» erfolgen (2008, S. 58). Professionelle haben auf ihre Klienten in deren Einzigartigkeit einzugehen, sie müssen deren Probleme beziehungsweise Krisen im Kontext ihrer aktuellen Lage und ihrer individuellen Geschichte begreifen, das heisst ‹fallverstehend› vorgehen. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die Probleme mit dem bewährten standardisierten wissenschaftlichen Wissenskanon so in Verbindung bringen, dass die Besonderheit des einzelnen ‹Falls› nicht vergessen geht. Erst an diesem Punkt lassen sich auch Entscheide über weiterführende Schritte, Hilfestellungen und Therapien treffen. Dank ihrer beruflichen Sozialisation verfügen die Professionellen nicht nur über Wissen, sondern idealerweise auch über tief verankerte ethische Einstellungen und Lebenshaltungen, die das fallbezogene Handeln erleichtern (vgl. auch Goode 1957/1972, Collins 1987 u. a.). Hohe Bedeutung kommt nicht zuletzt ihrer Fähigkeit zu, mit fachlicher Unsicherheit umzugehen, das heisst handlungsrelevante Entscheide auch dann zu treffen beziehungsweise vorzuschlagen, wenn die entsprechenden Grundlagen dazu ungenügend sind (zur Medizin vgl. Fox 1957/1978, Streckeisen 2001, S. 76 ff. u. a.).

Spezielle Aufmerksamkeit gilt bei Oevermann der Frage, welcher Art die Beziehung zwischen Professionellen und ihren jeweiligen Klienten sein muss, wenn die Krisenbewältigung gelingen soll (Oevermann 1996, S. 141 ff.). Im Anschluss an Sigmund Freud und Talcott Parsons geht Oevermann davon aus, dass die Beziehung den Charakter eines Arbeitsbündnisses haben muss. Damit ist gemeint, dass die Klientin und der Professionelle auf freiwilliger Basis eine Zusammenarbeit vereinbaren, die nach gewissen Regeln verläuft (z. B. Termine einhalten, Schweigepflicht bei vertraulichen Mitteilungen) und die auch fortgeführt wird, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Im Rahmen dieses Bündnisses geht der Professionelle auf den Klienten in seiner Besonderheit ein, ohne sich allerdings distanzlos im Gegenüber zu verlieren. Der Klient seinerseits öffnet sich und ist zum Mitteilen vertraulicher Dinge bereit, welche für angemessenes Handeln des Professionellen notwendig sind. In der Medizin etwa teilt die Patientin ihrer Ärztin Intimes über ihren Körper mit, auch wenn ihr das widerstrebt; oder in einem Rechtsfall informiert der scheidungswillige Ehemann seinen Anwalt trotz Schamgefühlen über alle finanziellen Details.

Um sich erfolgreich auf ein Arbeitsbündnis und die Fallarbeit einlassen zu können, muss der Professionelle gemäss Oevermann über eine ausgeprägte berufliche Autonomie verfügen. Im Falle von freiberuflich ausgeübter Tätigkeit ist diese am ehesten gegeben. Die Orientierung an Vorgesetzten oder an betrieblichen Regeln würde der Autonomie zuwiderlaufen, denn Vorgesetzte kennen die Probleme der einzelnen Klienten nicht, und Betriebsregeln sind nicht auf die spezifische Bewältigung dieser Probleme zugeschnitten. Wenn professionelle Akteure und Akteurinnen ihre Unabhängigkeit einbüssen und etwa wegen der Einführung neuer Managementmodelle von nicht-professioneller Seite, etwa von Seiten der Direktion, zunehmend kontrolliert werden, den Fallbezug hintanstellen und vermehrt nach Standards arbeiten müssen, droht eine Deprofessionalisierung in dem Sinne, dass die Bedingungen für gutes Arbeiten immer mehr fehlen. Das Führen von Krankenhäusern in einem Unternehmensstil, der Marktmechanismen berücksichtigt und ärztliche Fallarbeit noch mehr erschwert als bisher, bahnt zum Beispiel solche Deprofessionalisierungsprozesse an.

Die einzige Kontrolle der Professionellen, die – unter Gelingensbedingungen – der Problembewältigung dient, ist die Kontrolle durch die Profession als verfasstes Kollektiv, etwa die Kontrolle von Anwältinnen und Anwälten durch den Anwaltsverband. Berufsverbände,36 die sachangemessene Politik betreiben, definieren die Anforderungen an gute Arbeit und die angemessene Haltung der Professionellen. Sie legen fest, was qualitativ hochstehendes berufliches Handeln ausmacht, wie die wissenschaftliche und die praktische Ausbildung verläuft, wer dazu Zugang erhält und wer den Beruf ausüben darf. Auch die Beschäftigung mit Wert- und Ethikfragen gehört zu ihren Aufgaben (vgl. dazu Goode 1957/1972, Siegrist 1988, Wilenski 1964/1972, Schwänke 1988 u. a).

Gelingensbedingungen professioneller Arbeit von Lehrkräften

Was bedeutet das Gesagte für Lehrerinnen und Lehrer? Ihre Klienten und Klientinnen, die Schülerinnen und Schüler, lassen sich als Menschen betrachten, die eine Krise durchlaufen. Als junge Menschen, so Oevermann (1996 und 2008), sind Lernende in beständiger Veränderung begriffen, verfügen kaum über Handlungsroutinen und befinden sich auf der Suche nach einem schulischen und ausserschulischen Lebensweg. Sie stehen vor der Bewältigung eines langandauernden Übergangs, der vom unwissenden Kind zum wissenden Erwachsenen führt, aber auch vom ‹wilden› Kind zum ‹gezähmten› Erwachsenen, der Verhaltensregeln und gesellschaftliche Normen kennt und sie kritisch zu reflektieren weiss. Lernprozesse können, auch wenn sie den Wissensdurst der Schülerinnen und Schüler stillen, mit Erschütterungen einhergehen, müssen doch die Lernenden immer wieder vertraute Gewissheiten aufgeben und Neues aufnehmen – man denke etwa an den ‹Ärger› der Lernenden, wenn eine Grammatikregel plötzlich Ausnahmen aufweist, oder an die ungläubigen Reaktionen der Lernenden bei Einführung der negativen Zahlen in einer Primarschulklasse.

Je jünger der oder die einzelne Lernende, umso fragiler und verletzlicher sein oder ihr Ich, und umso tiefer gehen die Erschütterungen. Die Veränderungsprozesse bereiten also seelischen Schmerz und können Lernunwilligkeit erzeugen, sie müssen aber durchlebt werden, wenn die Entwicklung fruchtbar verlaufen soll. Im negativen Fall entwickeln die Lernenden Lernhemmungen oder neigen etwa zu Absentismus.

Wie bewältigen Lehrkräfte unter Gelingensbedingungen ihre Aufgabe? Idealerweise sind sie in der Lage, fallverstehend auf ihre Schülerinnen und Schüler einzugehen und vor diesem Hintergrund wissenschaftliches Wissen heranzuziehen, um anstehende Probleme zu erkennen, angemessene Unterstützung zu geben und bei Entscheiden zu helfen – es entsteht ein eigentliches Arbeitsbündnis. Das fallverstehende Eingehen auf die Schülerinnen und Schüler verbindet sich mit einer Lehrer-Schüler-Beziehung, die ein hohes Vertrauen der Lernenden in die Lehrenden voraussetzt. Im Falle junger, innerlich vergleichsweise wenig gefestigter Volksschulschülerinnen und -schüler hat dieses Vertrauen besonders grosse Bedeutung. Als Arbeitsbündnispartner figurieren hier auch die Eltern, die unter anderem dafür sorgen, dass bei der Zusammenarbeit die vereinbarten Regeln eingehalten werden. Die Schülerinnen und Schüler selber verfügen noch nicht über ein entsprechendes Verantwortungsgefühl.

In Zusammenarbeit mit den Eltern, so Oevermann, deutet die erfolgreich fördernde Lehrperson das Handeln der Lernenden so, dass deren Entwicklungspotenziale sich zeigen und entfalten können. Das geschieht durch die Verbindung einer quasi-familialen Beziehungsebene (Nähe), in der die Lehrperson als ‹ganzer Mensch› handelt, mit einer rollenmässigen Beziehungsebene (Distanz), bei der sie sich als Trägerin einer bestimmten Rolle einbringt. Die Lehrkraft steht also den einzelnen Lernenden nahe und lässt sich umfassend auf sie ein, aber im Rahmen ihrer Rolle als Berufsperson. Sie ist zu einem Balanceakt zwischen Nähe und Distanz fähig, der im Verlaufe der beruflichen Erfahrung Bestandteil ihres Habitus geworden ist. In der Ungeschütztheit ihres Noch-nicht-Erwachsenseins und ihres Nichtwissens können sich die Lernenden ihrer Lehrerin (Lehrer) vollends anvertrauen, denn diese verliert die Distanz nicht, auch wenn sie auf ihr Gegenüber intensiv eingeht. Sie bietet Wege an, wie die Lernenden ihre Unmündigkeit und ihr Nicht-Wissen mit der Zeit überwinden können. Nicht zuletzt verlangt sie ihnen auch kontinuierlich ab, gerade auch anstrengende, zum Teil unangenehme Aufgaben anzugehen.

Über das Arbeitsbündnis, das die einzelnen Schülerinnen und Schüler beim krisenhaften Vorwärtsgehen stärkt, «wölbt» sich Oevermann zufolge ein zweites Arbeitsbündnis, das die Lehrkraft mit der Schulklasse als Kollektiv eingeht (Oevermann 1996, S. 176 ff.). Sie registriert die innere Struktur der Klasse, die Stellung der einzelnen Schülerinnen und Schüler in dieser Binnenstruktur und berücksichtigt diese Gegebenheiten bei der Ausgestaltung des Arbeitsbündnisses mit den einzelnen Schülerinnen und Schülern. Vor allem aber gesteht die Lehrkraft der Lerngruppe als Gemeinschaft eine relative Selbstbestimmung zu und stellt ein tutoriales Lernklima her, im Rahmen dessen die jeweils stärkeren Lernenden die schwächeren unterstützen. Eingebettet in dieses solidarische Netz unter Peers vermögen die einzelnen Schüler und Schülerinnen die aus dem Aufgeben von Vertrautem und dem Sich-Auseinandersetzen mit Neuem immer wieder erzeugten Krise noch einmal besser zu bewältigen.

Fallarbeit und Arbeitsbündnis setzen wie erwähnt (vgl. Seite 57) berufliche Autonomie voraus. Worin besteht diese unter Gelingensbedingungen bei Lehrkräften? Schwänke (1988, S. 136) schreibt, dass Autonomie zum einen den Freiraum der Lehrkraft bezeichnet, der ein angemessenes Handeln erlaubt: Lehrerinnen und Lehrer entscheiden aufgrund ihrer Kompetenz, welche Schritte eine Aufgabe jeweils erforderlich macht und wie diese angegangen wird. Dabei hat die Autonomie dort ihre Grenzen, wo die Entscheidungsbefugnis als Freibrief für ein beliebiges Vorgehen missverstanden werden könnte.37 Zum anderen umfasst die professionelle Autonomie den Schutz vor unsachlicher Kritik und vor der Einflussnahme von aussen, etwa der Kritik durch Laien: Die Kontrolle soll allein durch Angehörige der eigenen Berufsgruppe erfolgen. In der Geschichte des Lehrberufs spielte der Kampf um berufliche Autonomie immer wieder eine Rolle.

Die Doppelsinnigkeit von Professionen

Nachdem wir uns mit der Aufgabe und mit den Bedingungen des Gelingens der Arbeit von Professionen beschäftigt haben, sei auch hier auf eine Gefahr hingewiesen: Gleich wie Berufsinhaber (vgl. oben) erbringen Professionsinhaber in der (kapitalistischen) Marktgesellschaft zwar mit innerem Engagement gesellschaftlich nützliche Leistungen: Sie erteilen etwa guten Unterricht oder beraten kompetent (Gebrauchswertaspekt), sie sichern sich dabei aber auch ihren Lebensunterhalt, den Status, das Prestige und die eigene Macht (Tauschwertaspekt). Angesichts dieser Doppelsinnigkeit ist es auch bei Professionen möglich, wenn auch keineswegs vorgezeichnet, dass sich Tauschwertinteressen verselbstständigen und zunehmend handlungsleitend werden. Denken wir an eine Kardiologin, die vor der Entscheidung steht, ihrer Patientin ein Medikament zu verschreiben oder einen minimalinvasiven Eingriff mit Katheterplatzierung vorzunehmen. Beides verspricht in ihren Augen Hilfe, doch die Intervention würde ihr als Ärztin vergleichsweise hohe Einnahmen bringen, während das Medikament der Kranken vergleichsweise geringe Unannehmlichkeiten verursachen würde. Falls die Kardiologin die Intervention vornimmt, verfolgt sie Tauschwertinteressen zuungunsten von Gebrauchswertinteressen, sie gewichtet ihren eigenen Verdienst höher als das Wohl ihrer Patientin. Die Gefahr der Verselbstständigung von Tauschwertinteressen, welche in diesem Beispiel für die Kardiologin als Individualakteurin illustriert wird, gilt auch für berufliche Kollektivakteure, etwa den Kardiologenverband. Denkbar ist auch eine Gymnasiallehrervereinigung, die ausschliesslich Statuserhöhung anstrebt und Fragen des guten Unterrichtens in den Schatten stellt.

Fazit

Wir haben festgehalten, dass Professionen eine besondere Art von Beruf sind. Professionen lassen sich als hoch qualifizierte, an moderner Wissenschaft orientierte Berufe charakterisieren, die mit Klientinnen und Klienten befasst sind, welche kritische Schwellen, Gefährdungen menschlicher Lebensführung, Existenzprobleme oder «Krisen» zu bewältigen haben.38 Die Bewältigung der Krise kann gelingen, wenn der oder die Professionelle im Rahmen eines Arbeitsbündnisses mit den Klienten fallverstehend handelt und vor diesem Hintergrund die Systematik der standardisierten Wissenschaft heranzieht. Voraussetzung dafür sind professionelle Autonomie bei der Arbeit und die Existenz eines Berufsverbands, der diese Autonomie und die fachliche Qualität verteidigt. Gleich wie Berufsinhaber erbringen Professionsinhaber und Professionsinhaberinnen nicht nur gesellschaftlich nützliche Leistungen, indem sie gute Arbeit verrichten (Gebrauchswertaspekt), sondern sie sichern dank ihrer Leistung auch ihren eigenen Lebensunterhalt, ihren Status und ihr Prestige (Tauschwertaspekt). Grundsätzlich besteht daher die Gefahr, dass Tauschwertinteressen zuungunsten von Gebrauchswertinteressen die Oberhand gewinnen.

1.3 Alte und neue Professionen

Die klassischen Professionen des Arztes, des Anwalts und des Pfarrers – auch ‹alte Professionen› genannt – entstanden im 19. Jahrhundert als ‹Antwort› auf neue gesellschaftliche Probleme. Auch der Gymnasiallehrberuf gehört in diese Reihe. Die Herausbildung dieser Professionen verband sich mit machtpolitischen Strategien: Die (neu entstehende) Ärzteschaft zum Beispiel übernahm im 19. Jahrhundert bewusst Aufgabenbereiche, die in der vorbürgerlichen Gesellschaft Domäne der Frauen gewesen waren, vor allem die Geburtshilfe. Klassische Professionen müssen als kulturell männliche Institution begriffen werden (Frevert 1982, Wetterer 1992 u. a.).

Wie im Zusammenhang mit dem Beamtenstatus von Professionen bereits erwähnt (vgl. Seite 56), waren in Kontinentaleuropa die Berufsgruppen und ihre Organisationen weniger aktivsteuernd in die Professionswerdung involviert als im englischsprachigen Raum (Siegrist 1988, Stichweh 1994, Abott 1988). Sogar bei den Ärzten, Advokaten und anderen Juristen war es in Kontinentaleuropa teilweise der Staat, der die neu zu lösenden Probleme definierte und die wissensmässigen Grundlagen sowie Ausbildungsgänge reformierte. In vielen Fällen legte er die Regeln des Zugangs zum Beruf beziehungsweise zur Profession fest, sodass deren Ausübung an ein staatlich verliehenes Amt gebunden war. Ähnlich wie die freiberufliche Tätigkeit kennzeichnet sich das Amt durch eine Unabhängigkeit von Marktbeziehungen, wie sie für gewerbliche Anstellungsverhältnisse charakteristisch ist, und damit auch durch eine Distanz zum gewerblichen Bereich. Der Staat, der Beamte einstellt, gilt in diesem Zusammenhang insbesondere in Deutschland als universalistisch und desinteressiert, und er wird als eine Instanz wahrgenommen, die Schutz für professionell verankerte Expertise bietet. Als Beispiele für solche Professionen lassen sich der Pfarrer und der Gymnasiallehrer nennen. Siegrist spricht in diesem Zusammenhang von einer «Professionalisierung-von-oben», die «halbfreie Amtsprofessionen» entstehen liess (Siegrist 1988, S. 22).

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