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II. Varianten des Systemdenkens

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Es ist heute üblich, verschiedene Arten von Systemen zu unterscheiden. Dazu gehört zunächst die Differenzierung zwischen äußerem und innerem System. Ein äußeres System dient vor allem Darstellungszwecken, während ein inneres System die sachliche Struktur eines Gegenstandsbereichs wiederzugeben versucht.[49] Nicht selten findet das innere System im äußeren einen Ausdruck, man denke nur an die heute allgemein übliche Darstellung des Besonderen Teils nach betroffenen Rechtsgütern.[50]

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Differenzieren lässt sich auch nach offenen und geschlossenen Systemen. Die Elemente eines offenen Systems sind modifizierbar und ergänzbar, die eines geschlossenen Systems nicht.[51] Leitbild geschlossener Systeme ist das Axiomensystem. Es liegt auf der Hand, dass für die Rechtswissenschaft, deren Erkenntnisbereich andauerndem Wandel unterworfen ist, grundsätzlich nur offene Systeme von Nutzen sind.[52]

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Damit verwandt, aber nicht ganz deckungsgleich ist die Unterscheidung von starren und beweglichen Systemen.[53] In einem beweglichen System kann das Fehlen bestimmter Systemelemente (z.B. im Rahmen einer Anspruchsgrundlage) durch eine besonders deutliche Ausprägung anderer Systemelemente kompensiert werden, in starren Systemen nicht. Wegen des hohen Bestimmtheits- und Formalisierungsgrades im Strafrecht kommen „bewegliche“ Systeme hier weniger in Betracht, sind aber keineswegs völlig ausgeschlossen.

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So wird man etwa nicht behaupten wollen, dass Zweifel an der Kausalität einer bestimmten Handlung durch einen besonders deutlich ausgeprägten Schaden kompensiert werden können. Andererseits wird vertreten, dass etwa beim entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) das Fehlen des dort erforderlichen Nähebezugs zwischen Akteur und Gefahr (Handeln, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer sonst nahestehenden Person abzuwenden) durch eine besondere Schwere der Gefahrensituation ausgeglichen werden könne, so dass sich von der Nähebeziehung absehen ließe (sog. übergesetzlicher entschuldigender Notstand).[54] Das Beispiel zeigt, dass der Grundgedanke eines „beweglichen“ Systems auch dem Strafrecht nicht vollständig fremd ist.

6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › D. Strafrecht zwischen Systembindung und Willkür

D. Strafrecht zwischen Systembindung und Willkür

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Im Strafrecht reicht die Geschichte juristischer Systembildung weniger weit zurück als im Zivilrecht, dessen Überlieferungen sich bis zur Jurisprudenz Roms zurückverfolgen lassen.[55] Auch wenn Ansätze strafrechtlicher Systembildung in der Antike und in der frühen Neuzeit erkennbar sind, scheint hier eine durchlaufende Traditionslinie zu fehlen. Dabei ist gerade im Strafrecht eine rechtsstaatlich gebändigte Anwendung des Rechts von größter Bedeutung. Dies zeigt der Blick zurück auf Zeiten, in denen die Anwendung des Kriminalrechts derartigen Begrenzungen nicht unterlag. Besonders dramatisch waren die Zustände im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. In einer älteren Studie dazu findet sich folgende Schilderung:

Die „Auffassung der Strafe als Widervergeltung an Gottes Statt und Abschreckung ließ die wollüstige Grausamkeit des verirrten Menschengeistes unerschöpfliche Qualen für den verurteilten Rechtsbrecher erfinden […]. Die Praxis zog aus der Abschreckungstendenz auch alle übrigen Konsequenzen: den Grundsatz der Öffentlichkeit aller Exekutionen, die womöglich am Orte des begangenen Verbrechens selbst vorgenommen wurden und die verbrecherische Tat äußerlich zu versinnbildlichen suchten; den der Schnelligkeit des Strafvollzuges, der zuweilen der Tat auf dem Fuße folgte, und eine aller Humanität Hohn sprechende Härte und Grausamkeit des Strafensystems, die Hand in Hand ging mit der Willkür der Richter, mit der Verwahrlosung der Strafzumessung und der Entbindung von jedem Prinzip in der Strafrechtspflege.“[56] Besonders barbarisch waren die Zustände infolge einer „grenzenlose[n] Verrohung der Richter“[57] in Frankreich; der Bericht über die Hinrichtung Ravaillacs, des Mörders Königs Heinrich IV, lässt bis heute schaudern.[58]

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Das Zitat macht den Zusammenhang von Systemlosigkeit der Strafrechtspflege, Willkür und Grausamkeit sehr deutlich. Gegen diese Missstände wandte sich die Kritik der Aufklärer, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts an Radikalität gewann, vor allem in Frankreich, wo die gesellschaftlichen und politischen Zustände als besonders drückend empfunden wurden. Zu ihren zentralen Forderungen gehörte eine systematische, also an Prinzipien und Regeln orientierte und damit – so hoffte man – weitgehend willkürfreie, transparente und kontrollierbare Strafrechtsanwendung.[59] Die Forderung nach einem systematisch strukturierten Verbrechenskonzept und damit einer systematischen Prüfbarkeit der Verbrechensvoraussetzungen entstammt also der Erfahrung von praktischem Unrecht (dazu allgemein → AT Bd. 1: Hilgendorf, § 1 Rn. 4).

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Dieses Reformprogramm wurde in Deutschland ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert Schritt für Schritt umgesetzt. Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, der Begründer der deutschen Strafrechtswissenschaft, hinterließ zwar kein „Strafrechtssystem“ im heutigen Sinne. Die Bedeutung wissenschaftlicher Systematik war ihm jedoch durchaus bewusst:

„Der durch Empirie gesammelte und bearbeitete Stoff ist noch nicht die Wissenschaft selbst; er muss auch in wissenschaftlicher Gestalt und Form dargestellt werden.“[60] Eine solche wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung muss nach Feuerbach drei Bedingungen erfüllen: „Die erste ist die Richtigkeit, genaue Bestimmtheit, scharfe Präzision, lichtvolle Klarheit der rechtlichen Begriffe, die zweite der innere Zusammenhang der Rechtssätze; die dritte der systematische Zusammenhang der Rechtslehren.“[61] Weiter heißt es: „Die Begriffe in einer Wissenschaft sind die Träger des wissenschaftlichen Gebäudes und verhalten sich zu ihr selbst wie das Gerippe zu dem menschlichen Körper, sie geben ihm Festigkeit und Haltung. Durch sie werden die Objekte der Erkenntnis, die Gegenstände, worüber die Wissenschaft ein Wissen lehrt, fixiert und gebunden, damit sie von dem Verstande festgehalten werden können.“[62]

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Bemerkenswert ist Feuerbachs Absage an das Spielen mit bloßen Begriffen und seine Fokussierung auf (positive) Rechtssätze. Auch die Rechtssätze müssen nach Feuerbach in einem systematischen Zusammenhang zueinander stehen:

„Aus Begriffen allein besteht keine Wissenschaft, so wenig als das Fachwerk zu einem Gebäude das Gebäude selbst ist. Das eigentliche Wissen in der Rechtswissenschaft ist in den Rechtssätzen enthalten. Aber kein Wissen ohne Gründe, keine Wissenschaft ohne Grundsätze! In ihr müssen die einzelnen Sätze durch inneren Kausalzusammenhang untereinander verkettet, das Besondere muss durch das Allgemeine, das Allgemeine durch das Allgemeinste begründet, in ihm enthalten, als notwendige Wahrheit von ihm abgeleitet sein. Nur so erhebt sich auch die Jurisprudenz zur Wissenschaft; ohne dieses ist sie nichts als eine Last für das Gedächtnis, ein trauriger abschreckender Schutthaufen roher und zertrümmerter Materialien, die für den Staat nutzlos und der Vernunft ein Greuel sind.“[63]

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Am deutlichsten wird Feuerbachs Bekenntnis zu strafrechtswissenschaftlicher Systematik in seinen Ausführungen zum notwendigen systematischen Zusammenhang der Rechtslehren:

„Ein Inbegriff von gegebenen und in sich verbundenen Erkenntnissen tritt erst dann in den vollen Rang einer Wissenschaft ein, wenn er sich auch noch die Form des äußeren oder systematischen Zusammenhangs angeeignet hat. Jede Verworrenheit und Disharmonie ist Beleidigung der Vernunft, deren höchste Aufgabe für alles, für das Erkennen wie für das Handeln, Übereinstimmung und Einheit ist. Ordnung ist das Auge des Verstandes, oder vielmehr das Licht, das seine Gegenstände beleuchtet. Wenn die Dichter der Alten uns das Chaos der Welt als eine gärende Masse vorstellen, welche von Nacht und Finsternis bedeckt wird, so dürfen wir immerhin dieses Bild auch auf den chaotischen Zustand der Wissenschaften übertragen. In ihnen ist Nacht, solange nicht durch Scheidung der Stoffe, durch Trennung des Ungleichartigen, durch Verknüpfung des Übereinstimmenden, durch logische Anordnung der Teile, durch sukzessive Darstellung derselben nach dem Verhältnisse, in welchem der eine den anderen voraussetzt, begründet, erläutert, – solange nicht durch alles dieses die rohe Masse zu einem organisierten, mit sich selbst in allen seinen Teilen zusammenstimmenden Ganzen gebildet worden ist.“[64]

6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › E. Die Epochen strafrechtlicher Systembildung in Deutschland seit 1871

E. Die Epochen strafrechtlicher Systembildung in Deutschland seit 1871

I. Albert Friedrich Berner

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Im führenden deutschsprachigen Kriminalrechtslehrbuch der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, dem „Lehrbuch des Deutschen Strafrechts“ von Albert Friedrich Berner, wird das Verbrechen inhaltlich mit engem Bezug auf die Moral bestimmt: „Verbrechen nennen wir diejenige Species unsittlicher Handlungen, durch welche der einzelne sich gegen den allgemeinen Willen auflehnt, indem er entweder ein öffentliches oder privates Recht, oder auch Religion oder Sitte, sofern der Staat der beiden letzteren zu seiner eigenen Erhaltung bedarf, angreift.“[65]

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Grundbegriff ist also bereits bei Berner, der oft als der wichtigste „Hegelianer“ im Strafrecht des 19. Jahrhunderts angesehen wird,[66] die menschliche Handlung, verstanden als „Hinaustreten des Willens in die Außenwelt“.[67] Das so verstandene Verbrechen setzt nach Berner folgende Struktur voraus: „1) ein Subjekt, von dem die Handlung ausgeht, 2) ein Objekt, auf welches die Handlung gerichtet ist, 3) ein Mittel, durch welches das Subjekt auf das Objekt wirken könne“. Handlungssubjekt, Handlungsobjekt und Handlungsmittel sind nach Berner aber „noch nicht die wirkliche Handlung, sondern nur die Bedingungen dazu. Sind aber diese Bedingungen vorhanden, so kann der verbrecherische Wille des Subjekts das Mittel ergreifen und sich durch dasselbe an dem Objekt verwirklichen“.[68]

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Hintergrund und tragendes Element von Berners Strafrechtssystem ist die mit seinem Namen verbundene Imputationslehre.[69] Auf den heutigen Leser wirkt sein Aufbau merkwürdig unsystematisch und deshalb fremdartig, während die Straftatgliederung des wenige Jahre später erschienenen Lehrbuchs Franz von Liszts (dazu sogleich Rn. 43) vertraut erscheint. Auch Berners Sprache gehört einer vergangenen Epoche an.[70] Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit des Bernerschen Strukturierungsvorschlags zum vierstufigen Straftatmodell der Sowjetunion (siehe oben Rn. 17).[71]

II. Franz von Liszt und Ernst Beling

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Die moderne Diskussion um die strafrechtliche Systembildung in Deutschland[72] wird üblicherweise auf Ernst Beling zurückgeführt, der 1906 das Verbrechen in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld gliederte.[73] Dieser klassische Straftataufbau findet sich der Sache nach aber schon bei Franz von Liszt, der ihn bereits vor der Jahrhundertwende in seinem epochemachenden Lehrbuch zum deutschen Strafrecht verwendete.[74]

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Busch hat die strukturbildenden Grundannahmen Belings und von Liszts wie folgt umschrieben: „Die klassische Strafrechtsdogmatik hat in ihrem System die Unterscheidung der äußeren (objektiven) und der inneren (subjektiven) Seite des Verbrechens zugrunde gelegt. Die äußere Seite umfasst die Handlung, die naturalistisch als Verursachung einer Veränderung in der Außenwelt durch gewillkürtes körperliches Verhalten verstanden wird, also sowohl dieses Verhalten selbst wie den dadurch verursachten Außenerfolg, weiter auch etwaige Modalitäten der Handlung. Diese äußere Seite repräsentiert den Tatbestand und konstituiert, soweit nicht andere Rechtssätze entgegenstehen, die Rechtswidrigkeit. Die innere Seite des Verbrechens kommt ganz auf das Konto der Schuld. Die Schuld ist die psychische Beziehung des Täters zu der äußeren Seite der Tat. Diese psychische Beziehung wird als Vorsatz oder als Fahrlässigkeit existent. Vorsatz und Fahrlässigkeit sind die Formen oder Arten der Schuld, die Zurechnungsfähigkeit ist ihre Voraussetzung. Der Gegensatz objektiv – subjektiv ist identisch mit dem Gegensatz Rechtswidrigkeit – Schuld.“[75]

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Durch die Entdeckung der subjektiven Unrechtselemente[76] und die Hinwendung zu einem als „normativ“ verstandenen Schuldbegriff[77] stieß die klassische Verbrechenssystematik von Liszts und Belings schon bald an Grenzen. Es war vor allem ihrer Klarheit und intuitiven Verständlichkeit zu verdanken, dass sie sich über mehrere Jahrzehnte hinweg bis zu den „neoklassischen“ Systemen von Mezger[78] und Baumann[79] halten konnte.

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Von Liszt, Beling und auch der von Liszt-Schüler Gustav Radbruch[80] werden oft als „Naturalisten“ bezeichnet.[81] Mit diesem im juristischen Schrifttum kaum näher präzisierten Konzept wird die Vorstellung verbunden, dass bestimmte rechtliche Kategorien, etwa die der „Kausalität“, quasi von Natur aus vorgegeben und deshalb von der Rechtswissenschaft nicht modifizierbar seien.[82] Es ist allerdings sehr fraglich, ob der Hinweis auf einen so verstandenen Naturalismus – oft verknüpft mit dem ebenfalls pejorativ gemeinten Beiwort „Positivismus“ – den geistigen Hintergrund von Liszts und Belings angemessen zu umschreiben vermögen.

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Zwar trifft es zu, dass von Liszt von der wissenschaftlichen Weltanschauung seiner Zeit, oft verkürzend „Positivismus“[83] genannt, erheblich beeinflusst wurde. Dies zeigt sich vor allem an seinen Arbeiten zur Kriminalpolitik.[84] Es erscheint aber sehr zweifelhaft, ob sich von Liszts strafrechtsdogmatische Vorschläge geradlinig auf „naturwissenschaftliche“ Konzepte zurückführen lassen. In den Naturwissenschaften des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts spielt das Konzept der Handlung, soweit ersichtlich, überhaupt keine Rolle. Auch die „conditio-sine-qua-non-Formel“ und die mit ihr meist verbundene Vorstellung, alle Ursachen seien gleichwertig, lässt sich mitnichten als genuin „naturwissenschaftlich“ einstufen.[85] Es spricht für sich, dass sich von Liszt in den verschiedenen Auflagen seines Lehrbuchs nicht auf Autoren aus den Naturwissenschaften, noch nicht einmal auf Autoren aus den damals entstehenden empirischen Sozialwissenschaften stützt.

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Stattdessen verweist er auf das Zivilrecht.[86] Man wird vermuten dürfen, dass von Liszt die bekannte Arbeit von Jherings über „Das Schuldmoment im römischen Privatrecht“, wo der Unterschied zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld explizit hervorgehoben wurde, gut kannte.[87] Immerhin hatte er als Student in Wien bei Jhering Vorlesungen gehört, und dürfte dort auch mit den Grundgedanken von Jherings berühmter Schrift über den „Zweck im Recht“ in Berührung gekommen sein.[88] Hier, und nicht in den Naturwissenschaften, liegen die Wurzeln von Liszts Rechtsverständnis.[89]

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Auch bei Beling führt die Annahme, er verdanke seinen Denkstil einem auf die Naturwissenschaften fixierten „Naturalismus“, in die Irre.[90] In seiner Autobiographie beschreibt Beling anschaulich, dass es vor allem praktische Erwägungen didaktischer Art waren, die ihn dazu bewogen, ein einheitliches Konzept von „Tatbestand“ einzuführen und von „Rechtswidrigkeit“ und „Schuld“ zu unterscheiden.[91] Es handelt sich im Kern um den Versuch einer begrifflichen Klärung, um eine „methodische Wegeleitung,“[92] welche in der „Lehre vom Verbrechen“ in großem Detail entwickelt wird.

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Wenn nun von Liszt und Beling nicht durch einfache Übernahmen aus der „Naturwissenschaft“ zu ihren Begriffsbildungen und Strukturierungsvorschlägen kamen, wie dann? Die Antwort lautet, dass sich beide bemühten, die in ihrer Gesellschaft vorzufindenden Vorstellungen von „Straftat“ und „Verbrechen“ in einer einigermaßen präzisen Begrifflichkeit und logisch strukturiert wiederzugeben. Es ging ihnen also um den Nachvollzug und die Explikation lebensweltlicher Annahmen und Konzepte für die Strafrechtsdogmatik.

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Dabei ist es offensichtlich, dass beide als geistig bewegliche und interdisziplinär interessierte Söhne ihrer Zeit in nicht unerheblichem Maße von der „naturwissenschaftlichen Weltanschauung“ ihrer Epoche beeinflusst wurden. Bei von Liszt war dies vor allem der Darwinsche Evolutionsgedanke. Es spricht jedoch wenig dafür, dass von Liszt oder Beling „naturwissenschaftliche“ Begriffe einfach unreflektiert aus der Biologie oder Physik übernommen hätten. Gerade bei von Liszt, dem Schüler Jherings und einflussreichen Befürworter des „Zweckgedankens im Strafrecht“, lassen sich unschwer teleologische Perspektiven erkennen, die sich auch auf die wissenschaftliche Begriffsbildung und den Straftataufbau auswirkten.[93]

III. Der Neukantianismus

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Als nächste Entwicklungsstufe der Straftatlehre wird die Strafrechtssystematik unter dem Einfluss des Neukantianismus genannt.[94] Unter „Neukantianismus“ versteht man eine Gruppe in sich recht heterogener Strömungen der deutschen akademischen Philosophie ab Mitte des 19. Jahrhunderts, welche die durch die metaphysischen Höhenflüge Hegels weitgehend diskreditierte Fachphilosophie durch einen Rückgang auf Kant erneuern wollten.[95]

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Als kennzeichnend für das nun herrschende Verständnis des Verbrechensaufbaus wird die Einsicht in die „Normativität“ oder „Wertbezogenheit“ der juristischen Begriffsbildung bezeichnet.[96] Durch die Philosophie des Neukantianismus, vor allem in ihrer südwestdeutschen Variante,[97] sei „die alte Erkenntnis wiederbelebt“ worden, „dass aus einem Sein kein Sollen folgt (oder mit anderen Worten: dass durch eine empirische Analyse der Wirklichkeit niemals normative Maßstäbe für deren Bewertung gefunden werden können). Dem aus neukantianischer Sicht eindeutigen ‚naturalistischen Fehlschluss‘ bei der Lösung inhaltlicher Probleme … entsprach dabei in systematischer Hinsicht der Fehlgriff, das Strafrechtssystem vorwiegend aus empirischen Begriffen aufzubauen anstatt aus den für das Strafrecht grundlegenden Werten“.[98]

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Auch diese Sicht ist jedoch nicht unproblematisch. Zum einen ist fraglich, ob es sich bei dem Neukantianismus über das Schlagwort „Zurück zu Kant!“ und die (auf David Hume zurückgehende) Trennung von „Sein“ und „Sollen“ hinaus überhaupt um eine einheitliche philosophische Schule gehandelt hat.[99] Bemerkenswert ist außerdem, dass Gustav Radbruch, der gemeinhin als ein Vertreter des „Naturalismus“ angesehen wird, jedenfalls in seinen späteren Jahren ein wichtiger Repräsentant des südwestdeutschen Neukantianismus war und u.a. wesentlich dazu beigetragen hat, Max Webers Trennung von Tatsachenaussagen und Werten in der Jurisprudenz bekannt zu machen.[100] Teleologisches Denken lässt sich auch von Liszt attestieren (siehe oben Rn. 51). Schon damit wird deutlich, dass eine klare Grenzziehung zwischen dem „Naturalismus“ und dem Neukantianismus bei genauerem Hinsehen schwierig sein dürfte.

IV. Politisch motivierte „Ganzheitsbetrachtung“

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Der Einfluss des Neukantianismus trat schon in den 30er Jahren wieder zurück. Der neue Zeitgeist wandte sich scharf gegen den liberalen Positivismus und „Naturalismus“ der vorgegangenen Epoche. Selbst wissenschaftlich formulierte Kritik an den überkommenen Ansätzen, wie sie etwa durch Hans Welzel[101] oder Friedrich Schaffstein[102] geübt wurde, war oft politisch motiviert oder auch von Karrieregesichtspunkten bestimmt: Im Wettlauf um die Gunst der neuen Machthaber[103] galt es, Argumente zu entwickeln, um die rechtsstaatlichen Bindungen im Strafrecht so rasch wie möglich abzuschütteln. Diese Abgrenzungsbemühungen galten übrigens auch und gerade dem Strafrechtsdenken von Liszts, Belings und Radbruchs. Eine diffuse, nach Belieben ausdeutbare „Ganzheitsbetrachtung“[104] trat an die Stelle differenzierten, systematisch ausgerichteten Denkens.[105]

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9783811449442
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