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V. Der Finalismus

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Die Ursprünge der finalen Handlungslehre (auch „Finalismus“ genannt“) reichen ebenfalls in die 30er Jahre zurück.[106] Ihre Nähe zum anti-liberalen, anti-positivistischen und „anti-naturalistischen“ Zeitgeist ist offenkundig.[107] Zu ihren wesentlichen Inhalten gehörte ein neues Verständnis von „Handlung“, die nicht „kausal“, sondern als „zweckorientiert“ oder „teleologisch“ verstanden wurde. „Handlung“ lässt sich danach nicht ohne ein subjektives Element denken (näher → AT Bd. 2: Claus Roxin, Handlung, § 28 Rn. 14). Man beachte, dass es hierbei nicht um teleologische, also zweckorientierte Begriffsbildung geht, sondern gerade im Gegenteil um die Behauptung eines auf „sachlogischen Strukturen“ gründenden und damit feststehenden Begriffsinhalts von „Handlung“.

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Der Einfluss des Finalismus auf das Verständnis der Straftat wird in der neuen Verortung des Vorsatzes in einem „subjektiven Tatbestand“ am augenfälligsten.[108] Die neue Lehre gestattete es, eine Reihe von komplexen dogmatischen Fragen, die bislang die Strafrechtslehre beunruhigt hatten, zufriedenstellend zu lösen.[109] Dazu gehörte etwa die Unterscheidung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten, das Problem der erforderlichen Verbotskenntnis, und die Herausarbeitung eines konsistenten „normativen“ Schuldbegriffs durch Abgrenzung von die Vorwerfbarkeit begründenden Elementen gegenüber empirisch festzustellenden subjektiven Elementen.[110] Dagegen wurde die Leistungsfähigkeit des Finalismus zur Klärung und Strukturierung der Fahrlässigkeitsdelikte mit guten Gründen immer wieder bezweifelt.[111]

VI. Rückkehr zur teleologischen Begriffs- und Systembildung

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Der philosophische „Unterbau“ der finalen Handlungslehre, auch und gerade der Handlungsbegriff, wurde allerdings schon bald in Frage gestellt.[112] Mehr und mehr setzte sich wieder die Einsicht durch, dass die juristische Begriffsbildung nicht an vermeintliche „ontische“ oder „ontologische“ Vorgegebenheiten gebunden ist, sondern nach den Zwecksetzungen der Rechtswissenschaft erfolgen kann und sollte. Es wurde offensichtlich, dass sich die dogmatischen Vorteile, die mit der neuen Straftatsystematik verbunden waren, auch ohne die finalistischen Basisannahmen sicherstellen ließen.

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Der Aufbau der Straftat und die begriffliche Fassung seiner basalen Bausteine sollen sich nach den Zielen der Kriminalpolitik richten. Diese als „teleologisch“ oder auch als „zweckrational“ zu bezeichnende Position[113] wurde ab den 60er Jahren vor allem von Claus Roxin vertreten und überzeugend begründet.[114] Sie darf heute als die h.M. gelten. Roxin und andere griffen damit der Sache nach Positionen auf, die schon um die Jahrhundertwende von Franz von Liszt vorbereitet worden waren (siehe oben Rn. 51).[115]

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Ein Hauptanwendungsfeld der neuen Lehre war die Neuausrichtung der Zurechnungslehre, wobei es, anders als in den älteren Zurechnungslehren, nur um den Zusammenhang zwischen Handlung und zuzurechnendem Erfolg ging.[116] Man unterschied zwischen einer „naturalistischen“ Kausalität i.S.d. conditio-sine-qua-non-Formel und einer als „normativ“ gedeuteten „objektiven Zurechnung“ (dazu auch → AT Bd. 2: Frank Zieschang, Kausalität und objektive Zurechnung, § 33 Rn. 39). Diese in vielfacher Hinsicht wenig zufriedenstellende Differenzierung krankt schon daran, dass auch die Entscheidung, Kausalität im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel zu deuten, „normativ“ ist. Die relevanten Sachfragen und Wertungen, nach denen sich bestimmt, welche Erfolge zuzurechnen sind und welche nicht, werden in der „Lehre von der objektiven Zurechnung“ eher verdunkelt als geklärt.[117]

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Daneben wurde der „klassische“ Straftataufbau in bedeutenden Lehrwerken des Allgemeinen Teils wie dem von Jürgen Baumann[118] fortgeführt, ohne dass ein grundlegender methodologischer Unterschied zur offen teleologisch (zweckrational) argumentierenden Strafrechtslehre bestand. Schärfer war der Gegensatz dieses sog. „neo-klassischen“ Straftataufbaus zum späten Finalismus.[119]

VII. Gegenwart

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Mittlerweile sind die großen methodologischen Debatten um Naturalismus, Finalismus, Neo-Klassizismus und zweckrationalen Straftataufbau abgeklungen. Die Vorstellung, es gebe eine bestimmte vorrechtliche Struktur der „Handlung“, an die das strafrechtliche Handlungsverständnis gebunden sei, wird kaum mehr ausdrücklich vertreten. Allerdings hat sich die Verortung des Vorsatzes im (subjektiven) Tatbestand durchgesetzt.[120] Grund hierfür ist die praktische Überlegenheit dieses Aufbaus, etwa bei der Behandlung von Irrtümern (eingehend → AT Bd. 2: Ulfrid Neumann, §§ 47, 48). Das heute herrschende Standardsystem kann als eine Symbiose von klassischen, neoklassischen und finalen Elementen bezeichnet werden, was es freilich, und dies ist von Kritikern immer wieder bemängelt worden, schwierig macht, den herrschenden Aufbau auf eine einheitliche „Gesamttheorie“ der Straftat zurückzuführen.[121]

VIII. Zusammenfassende Bewertung

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Der historischen Abfolge dieser Systementwürfe wird gelegentlich eine innere Logik unterlegt, die nicht zuletzt dem Zweck dient, dass (jeweils) letzte System in besonderer Weise auszuzeichnen. Dabei wird die erhebliche historische Kontingenz der System- und Aufbauentwürfe seit Feuerbach unterschätzt. Außerdem wird übersehen, dass es nicht nur die oben genannten Strafrechtssysteme bzw. Systementwürfe gab. Vielmehr sind schon seit dem frühen 18. Jahrhundert eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Gliederungs- und Systemvorschlägen für die strafrechtliche Prüfung entwickelt worden, nicht selten schlicht in Form von Lehrbucheinteilungen. Manche Aufbauvorschläge wurden mehrfach vorgebracht, und ihre Akzeptanz scheint häufig mehr vom Zufall abhängig gewesen zu sein als von ihrer logischen oder systematischen Überlegenheit.[122]

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In der Auseinandersetzung mit der historischen Genese des heutigen Straftatbegriffs spielen argumentative Klischés eine bemerkenswerte Rolle. So wird der „Naturalismus“ von Liszts, Belings und Radbruchs als mehr oder weniger unreflektierte Orientierung an einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung verstanden, und sodann das vermeintlich „bloß naturwissenschaftliche“ Begriffsverständnis von einer vermeintlich höheren rechtswissenschaftlichen Warte aus abgelehnt.[123] Damit dürften allerdings, wie oben Rn. 46 ff. zu zeigen versucht wurde, die Einflüsse, die gerade von Liszt zu seinem Systematisierungsentwurf bewogen haben, kaum angemessen beschrieben sein. Von Liszt war wie nur wenige Juristen seiner Zeit vom neuen naturwissenschaftlichen Weltbild, welches man als „Naturalismus“ bezeichnen mag, geprägt; dies bedeutet jedoch nicht, dass er versucht hätte, bei den Naturwissenschaften unreflektiert terminologische Anleihen zu machen. Vielleicht wäre es klarer, bei von Liszt statt von einem „Naturalismus“ von einem Bekenntnis zur „wissenschaftlichen Weltanschauung“ zu sprechen.[124]

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In der Auseinandersetzung um „Naturalismus“ und „Normativismus“ verdient ein Vorschlag von Karl Engisch Interesse, der bereits in den späten 40er Jahren versucht hat, die Eigenart der juristischen Begriffsbildung zwischen der Skylla eines unreflektierten „Naturalismus“ und der Charybdis eines reinen „Normativismus“ präziser herauszuarbeiten.[125] Um Fälle und ihre Besonderheiten unter Rechtsnormen subsumieren zu können, müssen die in den Gesetzen verwendeten Begriffe ausgelegt, also analysiert und gelegentlich präzisiert werden. Engisch weist darauf hin, dass der Jurist „die Begriffe immer nur bis zu einem gewissen Grade [zerlegt], er bleibt bei seinen Subdefinitionen bei Begriffen stehen, die in der Praxis der Gedankenübermittlung als gültige Münze umlaufen, die für das alltägliche Verständnis genügend deutlich sind“.[126] Die Begriffsbildung der Juristen ist also an das lebensweltliche Verständnis der Begriffe, an den allgemeinen Sprachgebrauch, gebunden.

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Dagegen ist es eine Eigenart des „Normativismus“ (Engisch verweist in diesem Zusammenhang auf Hans Kelsen und dessen Konzeption von „juristischer Person“), „ein von allen natürlichen Vorstellungen abgesondertes spezifisch juristisches Weltbild zu entwickeln“[127] und, so wird man ergänzen dürfen, damit auch eine vom natürlichen Sprachgebrauch vollkommen losgelöste Terminologie. Den „Naturalismus“ kennzeichnet Engisch dadurch, dass dieser versucht habe, „die rechtswissenschaftlichen Begriffe durch spezifisch naturwissenschaftliche zu erläutern und damit das Weltbild des Juristen in das des Naturforschers ausmünden zu lassen.“[128] Engisch spricht hier zu Recht von einer Orientierung an den Naturwissenschaften, nicht aber von unkritscher Übernahme ihrer Begrifflichkeit. Das Recht, so wird man Engischs Position zusammenfassen dürfen, ist bei seiner Begriffsbildung eigenständig, orientiert sich aber eng am lebensweltlichen Sprachgebrauch.

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Es liegt auf der Hand, dass der Übergang von einer (für die juristische Praxis typischen) Orientierung am lebensweltlichen Begriffsverständnis zum Normativismus einerseits und zum Naturalismus andererseits gleitend ist. In jeder begrifflichen Präzisierung steckt ein Element des Normativismus, und die naturwissenschaftliche Begriffsbildung[129] (die übrigens in ihren Einzeldisziplinen durchaus unterschiedlich verlaufen kann) setzt offenkundig beim „natürlichen“ Sprachgebrauch an. Aber auch die Natur- und empirischen Sozialwissenschaften präzisieren ihre Begriffe nach ihren fachspezifischen Bedürfnissen und schaffen durch Definitionen neue Begrifflichkeiten, die ihren jeweiligen Erkenntniszielen dienen.

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Will man die Entwicklung der Straftatlehre seit von Liszt und Beling zusammenfassend deuten, so lassen sich zwei Faktoren angeben: zum einen eine immer weiter zunehmende Differenzierung des strafrechtsdogmatischen Analysesystems,[130] die die Strafrechtsgelehrten vor die (alles in allem bemerkenswert gut bewältigte) Aufgabe stellte, die Systematik praxistauglich, aber auch widerspruchsfrei zu gestalten, und zum anderen die zunehmende Einsicht, dass uns unsere Begriffe und ihre systematische Anordnung nicht ein für allemal vorgegeben sind, sondern auf menschlichen Setzungen beruhen. Dies bedeutet, dass die Begriffe der Strafrechtsdogmatik nach (kriminal-)politischen Zwecken gestaltet werden können[131] und im grundrechtsgebundenen Staat der Gegenwart[132] auch gestaltet werden müssen.

6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › F. Zur systematischen Trennung von Unrecht und Schuld

F. Zur systematischen Trennung von Unrecht und Schuld

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Oben (Rn. 3) wurde das „Standardmodell“ des Verbrechensaufbaus als Abfolge der Konzepte Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld angegeben. Bereits vor über 50 Jahren bezeichnete Welzel diese Gliederung des Verbrechens als „den wichtigsten dogmatischen Fortschritt der letzten zwei bis drei Menschenalter“.[133] Die beiden ersten Stufen lassen sich unter der Bezeichnung „Unrecht“ zusammenfassen.[134] Die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld wird in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft heute fast allgemein anerkannt,[135] auch wenn die Abgrenzung im Detail lange Zeit höchst umstritten war.[136] Sie ist darüber hinaus eines der kennzeichnenden Merkmale der neuen internationalen Strafrechtswissenschaft (→ AT Bd. 1: Eric Hilgendorf, Die deutsche Strafrechtswissenschaft der Gegenwart, § 18 Rn. 112 f.; 119 f.). Jescheck und Weigend nennen sie geradezu den „Angelpunkt der Verbrechenslehre“.[137]

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Auch in der Rechtsprechung ist die Unterscheidung von Unrecht und Schuld eine Selbstverständlichkeit geworden, zumal das Gesetz den Unterschied an mehreren Stellen explizit anspricht, etwa in den Vorschriften über die Teilnahme, §§ 26 und 27. Auch die Definition der „rechtswidrigen Tat“ in § 11 Abs. 1 Nr. 5 lässt sich dahingehend interpretieren, dass der deutsche Gesetzgeber vom Leitmodell eines Straftatsystems mit der Grundunterscheidung von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld ausgeht. Auf der Ebene des Tatbestands wird der Unrechtstyp umschrieben, dessen Verwirklichung mit Strafe bedroht ist, auf der zweiten Ebene, der Rechtswidrigkeit, wird geprüft, ob die Verwirklichung des Unrechtstyps ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Ist dies nicht der Fall, so liegt „Unrecht“ vor. Auf der dritten Analyseebene werden die Besonderheiten des jeweiligen Täters in den Blick genommen und überprüft, ob man die – aus allgemeiner Perspektive unrechtmäßige – Tat dem Individuum vorwerfen kann. Dies meint das Schlagwort von der „Schuld als Vorwerfbarkeit“.

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Wie bei einer so grundlegenden Frage nicht anders zu erwarten, sind jedoch die kritischen Stimmen nie ganz verstummt, die der Unterscheidung von Unrecht und Schuld die Gefolgschaft versagen oder sie zumindest theoretisch anders fassen wollen als die h.M.[138] Die Kritiker argumentieren fast durchweg auf einem sehr hohen rechtstheoretischen Niveau, was der Rezeption ihrer Vorschläge in der juristischen Ausbildung, aber auch in der juristischen Praxis nicht zuträglich ist. In einer offenen, lebendigen Wissenschaft bedürfen jedoch auch die Grundlagen permanenter Kritik und argumentativer Auseinandersetzung. Dies gilt gerade dann, wenn man, wie hier, begriffliche Inhalte nicht als ein für allemal vorgegeben ansieht, sondern als Festlegungen, die sich praktisch bewähren, aber auch scheitern können und dann durch bessere Konzepte ersetzt werden sollten.

I. Die Kritik Michael Pawliks

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Einer der entschiedensten Kritiker der Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld ist Michael Pawlik. Er bestreitet, dass zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen ein „kategorialer verbrechenstheoretischer Unterschied“ bestehe: „Weder der gerechtfertigte noch der entschuldigte Zerstörer fremder Güter stellt mit seinem Tun die Normgeltung in Frage – der gerechtfertigte Täter nicht, weil das Ausmaß der Konfliktzuständigkeit des Eingriffsadressaten so beträchtlich ist, dass allein der Verweis darauf den Eingriff legitimiert; der entschuldigte Täter nicht, weil ihm angesichts der Außergewöhnlichkeit seiner Situation die Beachtung seiner sich aus der gegebenen Zuständigkeitsverteilung ergebenden Handlungsbefugnisse nicht zugemutet werden“ könne. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe seien daher „systematisch gleichrangige Gestalten des Zurechnungsausschlusses“, und „lediglich aus Zweckmäßigkeitsrücksichten hintereinander abzuarbeiten“.[139]

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Auf den ersten Blick ergibt sich daraus kein wesentlicher Unterscheid zur h.M., zumal der theoretisch nicht sonderlich interessierte praktizierende Jurist die Differenzierung zwischen Unrecht und Schuld wohl ebenfalls lediglich aus Zweckmäßigkeitserwägungen und aus Gewohnheit, jedenfalls in Unkenntnis der Dogmengeschichte und der in ihr widerstreitenden Theoriekonzeptionen befolgt. Aus einer rein rechtspraktischen Sicht ist die Frage, ob es sich bei Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen um „systematisch gleichrangige Gestalten des Zurechnungsausschlusses“ handelt oder nicht, ohne größere Bedeutung, wenn sie nur wie bisher hintereinander abzuarbeiten und bei der Strafrechtsanwendung differenziert zu betrachten sind.[140]

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Deutlich größer werden die Differenzen, wenn man eine stärker theoretische Perspektive zugrunde legt.[141] Ein wesentlicher Unterschied zwischen Pawlik und der h.M. besteht in der zugrunde gelegten Theorie des Verbrechens. Pawlik lehnt sowohl die Ausrichtung des Strafrechts auf Prävention als auch die Rechtsgüterlehre ab und präferiert stattdessen die an Hegel orientierte Vorstellung, eine Straftat müsse „vorrangig als Angriff auf die rechtlich verfasste Daseinsordnung von Freiheit – in der Terminologie Hegels gesprochen: als Verletzung des Rechts auf Recht[142] – begriffen werden.“[143] Eine auf Prävention abzielende Perspektive könne allenfalls die Rechtswidrigkeit erfassen, dagegen sei „ein Schuldverständnis, das Schuld als Vorwerfbarkeit … versteht, mit einer präventionstheoretischen Strafbegründung nicht vereinbar.“[144]

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Pawlik kritisiert offenbar weniger die Unterscheidung von Unrecht und Schuld als vielmehr die (auch hier vertretene, → AT Bd. 1: Hilgendorf, § 1 Rn. 124) Zweckbestimmung von Strafe als Instrument der Kriminalitätsprävention. Ihm ist darin Recht zu geben, dass viele Vertreter der h.M. nicht konsistent argumentieren, wenn sie einerseits das Institut „Strafe“ mit Präventionsgesichtspunkten legitimieren, andererseits aber am überkommenen Schuldgedanken festhalten wollen, der wesentlich vom Vergeltungsgedanken und seinen rechtsphilosophischen Ausarbeitungen geprägt ist.[145] Der damit angedeutete Spannungsbogen lässt sich jedoch auch so auflösen, dass man ein konsequent präventionsorientiertes Schuldverständnis entwickelt,[146] die Schuld also zuzusagen auf die Seite des Präventionsdenkens zieht, und nicht das Unrecht auf die Seite der Vergeltungstheorie. Auch aus der Perspektive der Prävention ließen sich Unrecht und Schuld also unter das Dach einer Theorie bringen.

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Unklar ist, ob die von Pawlik vertretene Ablehnung der Rechtsgüterlehre zugunsten eines kollektivistischen, neo-etatistischen Strafbegründungsmodells zwingend mit seiner Position zur anzustrebenden Einheit von Unrecht und Schuld sub specie Vergeltungstheorie der Strafe verbunden ist. Er räumt selbst ein, dass seine „Auffassung, die in der Begehung einer Straftat die Verletzung einer Pflicht zur Mitwirkung an der Aufrechterhaltung der bestehenden Daseinsordnung von Freiheit“ sieht, darauf hinausläuft, Delikte gegen die Person zu Straftaten gegen die Allgemeinheit umzudeuten“.[147] Eine derartige Umdeutung wurde bekanntlich auch zu Zeiten des Nationalsozialismus betrieben.[148] Die Auflösung des Individualschutzes zugunsten eines begrifflich abstrakt gefassten allgemeinen Freiheitsschutzes droht den Schutz der realen und konkreten Freiheit des Einzelnen zu unterminieren.[149] Im freiheitlichen Rechtsstaat ist das Individuum, und nicht das Kollektiv, Träger von Grund- und Menschenrechten und bedarf deshalb des strafrechtlichen Schutzes. Da hilft es wenig, darauf hinzuweisen, dass aus der neo-etatistischen Perspektive jedenfalls theoretisch gesehen sämtliche Straftaten auch Delikte gegen die Person sind.[150]

II. Die Kritik Wolfgang Frischs

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Auch Wolfgang Frisch hat sich für einen Umbau des Straftatsystems ausgesprochen.[151] Er möchte zwar an der Abfolge von Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld nichts Grundsätzliches ändern,[152] plädiert jedoch dafür, zusätzlich die Abweichung von der jeweiligen Verhaltensnorm als freilich noch näher auszuarbeitende Systemkategorie einzuführen. Er fordert deshalb die Formulierung von „klar umrissene[n], auf den Zeitpunkt des Handelns bezogene[n] Verhaltensnormen“.[153] Ein differenziertes, „auf die Perspektive des handelnden Bürgers“ zugeschnittenes „System von Verhaltensnormen“, welches dem Bürger „unter Berücksichtigung des vor der Handlung verfügbaren Wissens sagt, ob und unter welchen (ex ante gegebenen bzw. feststellbaren) Voraussetzungen ein Handeln im Blick auf den etwaigen Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs prinzipiell verboten oder generell erlaubt ist“[154] wäre in der Tat schon im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz wünschenswert.[155]

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Gegen Frischs Vorschlag lassen sich freilich auch Bedenken vorbringen: Eine auch nur einigermaßen präzise Ausarbeitung von relevanten „Verhaltensnormen“ dürfte gar nicht möglich sein, weil sich die in der Realität auftretenden Fallgestaltungen nicht voraussagen lassen. Das bisherige, am Rechtsgüterschutz orientierte Modell einer Verhaltensnorm – „Verletze nicht das Leben!“, „Verletze nicht die körperliche Unversehrtheit!“, usw.[156] – ist zwar ungenau, erlaubt dem handelnden Bürger aber doch in fast allen Einzelfällen eine Orientierung.[157] Die Ausarbeitung des genauen Inhalts der den Sanktionsnormen des StGB zugrundeliegenden Handlungsnormen ist Aufgabe der Rechtswissenschaft und letztlich der entscheidenden Gerichte, die in Zweifelsfällen festzustellen haben, was dem Akteur im Einzelfall geboten war und was nicht. Diese Regeln sozusagen a priori zu explizieren und festzuschreiben dürfte gar nicht möglich sein. Ein solches System von Verhaltensnormen wäre außerdem so kompliziert, dass es für den Bürger nicht mehr nachvollziehbar wäre und deshalb auch nicht handlungsleitend wirken könnte.[158] Dies dürfte durchaus in einem Spannungsverhältnis zu Art. 103 Abs. 2 GG stehen; anschaulich spricht Jäger in einem anderen Zusammenhang von „Unterbestimmtheit durch Überbestimmtheit“.[159]

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Des Weiteren regt Frisch an, eine neue eigenständige Systemkategorie zu schaffen, in der thematisiert wird, ob durch das Täterverhalten das Recht überhaupt in Frage gestellt wurde.[160] Damit soll geklärt werden, ob bzw. inwieweit es erforderlich ist, auf die entsprechende Tat mit Strafe zu reagieren.[161] Als Beispiel für eine im Rahmen dieser Kategorie zu behandelnde Fragestellung nennt Frisch den freiwilligen Rücktritt vom Versuch.[162]

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Auch dieser Vorschlag erscheint jedoch nicht unproblematisch. Zwar ist es reizvoll, verschiedene bislang verstreut und nicht immer systematisch überzeugend eingeordnete Fallgestaltungen wie den freiwilligen Rücktritt vom Versuch in einer neuen, auf einen einheitlichen Grundgedanken zurückzuführenden Systemkategorie zu behandeln. Allerdings könnte mit der Schaffung einer solchen Großkategorie leicht ein Verlust an Detailschärfe und damit eine Zunahme von Unbestimmtheit einhergehen.

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Frischs Vorschlag ähnelt in Manchem der Prüfkategorie der Strafwürdigkeit oder auch der „Sozialschädlichkeit“, der im überkommenen sowjetischen Aufbau (s.o. Rn. 17) eine beträchtliche Bedeutung zukam. Man wird allerdings fragen dürfen, ob eine so interpretationsoffene und damit missbrauchsanfällige Kategorie im Straftatsystem eines rechtsstaatlichen Strafrechts einen Platz finden sollte.[163] Auf jeden Fall wäre es erforderlich, innerhalb der neuen Systemkategorie Untergruppen zu bilden, welche die jeweiligen Fragestellungen differenziert behandeln. Damit wird fraglich, was gegenüber dem herkömmlichen Aufbau über eine Umgruppierung der einschlägigen Fallgruppen und ihre Einordnung unter eine einheitliche Leitidee hinaus gewonnen wäre.

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Alles in allem sprechen die besseren Argumente dafür, das Standardmodell der h.M. – Verbrechen als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhaft begangene Handlung – beizubehalten und das Straftatsystem an den auch bisher akzeptierten Kategorien auszurichten. Natürlich kann es über die genaue Verortung des einen oder anderen Problems mit guten Gründen unterschiedliche Meinungen geben.[164] Es handelt sich dabei aber um Verschiebungen, die nach einem Bild Ulrich Webers mit dem Umherrücken von Möbeln in einem Wohnzimmer vergleichbar sind und nicht zu tiefschürfenden Grundlagenauseinandersetzungen Anlass geben sollten.

6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › G. „Normativ“ und „Normativismus“ – Kritik zweier Modevokabeln

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