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6. Abschnitt: Die Straftat

Inhaltsverzeichnis

§ 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht

§ 28 Handlung

§ 29 Handlungs- und Erfolgsunrecht sowie Gesinnungsunwert der Tat

6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht

Eric Hilgendorf

§ 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht

A.Systematik und Rechtsstaatlichkeit1 – 20

I.Terminologie4 – 6

II.Der Verbrechensbegriff7 – 15

III.Internationale Perspektiven16 – 20

B.Methodologische Orientierung21 – 24

C.Geistesgeschichtlicher Hintergrund25 – 34

I.Zum Systemdenken im Recht27 – 30

II.Varianten des Systemdenkens31 – 34

D.Strafrecht zwischen Systembindung und Willkür35 – 39

E.Die Epochen strafrechtlicher Systembildung in Deutschland seit 187140 – 68

I.Albert Friedrich Berner40 – 42

II.Franz von Liszt und Ernst Beling43 – 51

III.Der Neukantianismus52 – 54

IV.Politisch motivierte „Ganzheitsbetrachtung“55

V.Der Finalismus56, 57

VI.Rückkehr zur teleologischen Begriffs- und Systembildung58 – 61

VII.Gegenwart62

VIII.Zusammenfassende Bewertung63 – 68

F.Zur systematischen Trennung von Unrecht und Schuld69 – 82

I.Die Kritik Michael Pawliks72 – 76

II.Die Kritik Wolfgang Frischs77 – 82

G.„Normativ“ und „Normativismus“ – Kritik zweier Modevokabeln83 – 101

I.Bedeutungsvarianten von „normativ“85 – 97

II.Normativismus98 – 101

Ausgewählte Literatur

6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › A. Systematik und Rechtsstaatlichkeit

A. Systematik und Rechtsstaatlichkeit

1

„Die Systembildungen der deutschen Strafrechtswissenschaft erscheinen dem gebildeten Laien oft absonderlich, dem Studenten unverständlich und dem Praktiker überflüssig; und dennoch bilden sie heute eines der wichtigsten ‚Exportgüter‘ der deutschen Rechtswissenschaft und geradezu deren internationales Renommierstück“ schrieb Bernd Schünemann schon vor über 30 Jahren in der Einleitung zu seiner „Einführung in das strafrechtliche Systemdenken“.[1] Bis heute ist die deutsche Strafrechtswissenschaft – sofern sie sich noch mit Systemfragen beschäftigt – zu Recht stolz auf ihre Straftatlehre und die darin gefasste Systematik.

2

Allerdings findet sich gerade in der Auseinandersetzung um das „richtige System“ gelegentlich die Neigung, die Entwicklungen der letzten 100 Jahre als mehr oder weniger zwingenden Aufstieg zu den Höhen der eigenen Systematisierungslehre zu interpretieren, wobei die vorgestellte Entwicklungsgeschichte nicht immer einer kritischen Prüfung standhält. Ein zweiter Problemfaktor ist die verbreitete Ausblendung des Beitrags, den die Zivilrechtswissenschaft, insbesondere Rudolf von Jhering, für die Herausbildung der strafrechtswissenschaftlichen Verbrechenslehre geleistet hat. Problematisch ist drittens ein jedenfalls bei einem Teil der Diskussionsteilnehmer festzustellender bedenklicher Hang zu begrifflichen Hypostasierungen und unausgewiesenen Ableitungen.

3

Dennoch ist der Ertrag der deutschsprachigen[2] strafrechtswissenschaftlichen Diskussion zum Aufbau der Straftatlehre sehr beachtlich: Der internationale Einfluss der deutschen Strafrechtsdogmatik beruht zu einem guten Teil auf der Klarheit und Konsistenz des „Standardmodells“ aus Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, wie er heute von der ganz h.M. der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft vertreten wird.[3] Der strukturierte und hochgradig differenzierte Aufbau der Verbrechensanalyse zwingt den Rechtsanwender zu Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit; die Strafrechtsanwendung wird transparent und in der Folge kontrollierbar. Damit wird die deutsche Strafrechtsdogmatik in besonderer Weise den Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips, insbesondere dem Postulat der Bindung des Rechtsanwenders an das Gesetz, gerecht.[4]

I. Terminologie

4

Zu unterscheiden sind Straftheorie, Verbrechensbegriff, und Straftatsystem. Die Straftheorie beschäftigt sich mit der Frage nach der Legitimation von Strafe. Traditionell werden hier auf Vergeltung abstellende „absolute“ Theorien von „relativen“ Ansätzen unterschieden, die den Sinn der Strafe in der Prävention künftiger Straftaten sehen (→ AT Bd. 1: Tatjana Hörnle, Straftheorien, § 12 Rn. 3 ff.). Die Frage nach dem richtigen „Verbrechensbegriff“ zielt darauf ab, was als „Verbrechen“ im Sinne des Strafrechts gelten soll. Der heute am meisten verwendete Verbrechensbegriff ist das Verständnis des Verbrechens als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhaft begangene Handlung.[5] Es geht hierbei nicht um eine inhaltliche Bestimmung,[6] sondern um die Struktur des Verbrechens.

5

Das Straftatsystem schließlich lässt sich, jedenfalls nach dem in Deutschland vorherrschenden Verständnis, als Explikation des Verbrechensbegriffs in seine begrifflichen Details hinein deuten.[7] Es legt also nicht bloß eine didaktisch zweckmäßige Prüfungsabfolge fest, sondern soll dem Anspruch genügen, dass seine Teile in einem begrifflich-logischen Zusammenhang miteinander stehen. Metaphorisch gesprochen, „entfaltet“ das Straftatsystem den zugrunde gelegten Verbrechensbegriff.

6

Davon zu unterscheiden ist die strafrechtliche Legalordnung. Darunter ist mit Oehler[8] die „äußerliche Reihenfolge der verschiedenen Verbrechensgruppen in einem Gesetz“ zu verstehen. Man könnte auch von der „Systematik des Besonderen Teils“ sprechen. Es ist offenkundig, dass die Legalordnung in besonderem Maße dem historischen Wandel unterworfen ist und wesentlich von den Werten und dem Denkstil der jeweiligen Gesellschaft bestimmt wird, in der die Strafrechtsordnung entstanden ist. In der Entwicklung der Legalordnungen spiegelt sich häufig die allmähliche Ablösung des Kriminalsystems von seinen meist religiösen Wurzeln.[9]

II. Der Verbrechensbegriff

7

In der nachfolgenden Darstellung wird mit der ganz h.M. ein dreistufiger Verbrechensbegriff zugrunde gelegt. Ein Verbrechen ist danach eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhaft begangene Handlung.[10] Dieser Verbrechensbegriff orientiert sich an vollendeten Erfolgsdelikten wie der vorsätzlich begangenen vollendeten Körperverletzung oder der vorsätzlich begangenen vollendeten Tötung, aber auch die Unterlassungs-, Versuchs- und Fahrlässigkeitsdelikte werden auf seiner Grundlage diskutiert.[11]

8

Diesem „gegenständlichen“ Verbrechensbegriff wird von einigen Autoren ein „ideeller“ Verbrechensbegriff entgegengesetzt, wonach „das Wesen der Straftat in etwas Ideellem, Expressivem, in einem kommunikativen Akt“, zu sehen sei.[12] Für die Anhänger dieser – in unterschiedlichen Varianten vertretenen – Position ist das wesentliche Element an dem Straftatgeschehen „die Infragestellung der Geltung des Rechts, dessen Nichtanerkennung oder Missachtung. Diese, nicht das gegenständlich vorwerfbare Unrecht, sei das, worauf der Staat mit der Strafe antworte, um die Geltung des Rechs zu bekräftigen“.[13]

9

Der „ideelle“ Verbrechensbegriff ist eng verknüpft mit einer Familie von Straftheorien, die die Legitimation von Strafe in dem Ausgleich eines durch die Straftat erzeugten „Geltungsschadens“ und der „Bekräftigung der Normgeltung“ sehen (siehe dazu kritisch → AT Bd. 1: Hörnle, § 12 Rn. 34). Er teilt daher viele ihrer Probleme. Letztlich handelt es sich bei der Theorie des durch Strafe auszugleichenden oder zu verhindernden Normgeltungsschadens um eine Variante der Lehre von der (positiven) Generalprävention.

10

Wer, wie es einige Vertreter dieser Position vorschlagen, von einer Rechtsgutsverletzung gänzlich absehen will, gerät in bedenkliche Nähe zu einem radikalen Subjektivismus.[14] Angenommen, ein Anarchist setzt sich medial erfolgreich für eine radikale Veränderung der Akzeptanz der geltenden Rechtslage ein – liegt darin schon das (versuchte oder vollendete) Bewirken eines strafrechtlich relevanten „Normgeltungsschadens“? Dem dürfte schon die in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verbürgte Meinungsfreiheit entgegenstehen. Gelegentlich scheint „Normgeltung“ aber gar nicht im Sinne faktischer und empirisch überprüfbarer Geltung verstanden zu werden, sondern in einem anderen, bedauerlicher Weise nicht näher explizierten Sinn, so dass auch das Konzept des „Normgeltungsschadens“ schillernd und unbestimmt bleibt.[15]

11

Ob und gegebenenfalls wie Strafen die Normgeltung – oder Normakzeptanz – in der Bevölkerung tatsächlich sichern können, ist eine empirische Frage, die bislang nicht zufriedenstellend beantwortet ist. Deshalb ist es misslich, dass die Vertreter der Theorie des „Geltungsschadens“ ganz überwiegend auf der Grundlage der veralteten Konzeption von „Verhaltensnormen“ im Sinne Bindings argumentieren, und nicht die Nähe zu den modernen Sozialwissenschaften suchen, wo Konzepte wie „soziale Norm“ und „Normakzeptanz“ intensiv diskutiert werden.[16]

12

Der „ideelle Verbrechensbegriff“, der in der Straftat lediglich eine negativ bewertete Form von Kommunikation mit den normerzeugenden Instanzen sieht, wird der Realität der durch Straftaten bewirken Verletzungen, ihren physischen und psychischen Folgen, nicht gerecht. Eine Vergewaltigung lässt sich nicht als eine negativ zu bewertende Kommunikation des Täters mit dem Staat (!) deuten, wenn nicht die Strafrechtstheorie jeden Anspruch auf Nachvollziehbarkeit und Akzeptanz ihrer Begriffsschöpfungen in der Bevölkerung aufzugeben bereit ist.[17] Im Ergebnis spricht deshalb wenig dafür, den auf „reale“ Güterverletzungen bezogenen gegenständlichen Verbrechensbegriffs der h.M. preiszugeben.

13

In jüngerer Zeit ist vorgeschlagen worden, die Diskussion um das auf einem konkreten Verbrechensbegriff beruhende Straftatsystem zu einer Behandlung des „gesamten Strafrechtssystems“ zu erweitern.[18] Dahinter steht die Idee, die Debatte um Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld durch Gesichtspunkte u.a. aus der Kriminologie, dem Strafprozessrecht und dem Gerichtsverfassungsrecht zu ergänzen und gemeinsame Leitprinzipien herauszuarbeiten.[19]

14

Die damit angedeutete Ausweitung des Blicks in andere Bereiche des Strafrechts ist sinnvoll, man sollte aber nicht übersehen, dass die Fokussierung der Straftatlehre auf die Strafrechtsdogmatik auch ihre Vorteile hat. Ein zu weit gefasstes System wird notwendigerweise unübersichtlich und vermag dann die oben Rn 3 skizzierten rechtstaatlichen Gewinne möglicherweise nicht mehr zu erbringen.

15

Zu beachten sind auch die grundlegenden methodologischen Unterschiede zwischen der Strafrechtsdogmatik und z.B. der Kriminologie (→ AT Bd. 1: Eric Hilgendorf, Strafrecht im Kontext der Normenordnungen, § 1 Rn. 71). Außerdem haben heute die Grundrechte und ihre Interpretation sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Methode der (an Grundrechten orientierten) Abwägung im Strafrecht eine erhebliche Bedeutung erlangt.[20] Auch sie müssten in einem „gesamten Strafrechtssystem“ berücksichtigt werden. Die Ausarbeitung eines solchen Systems stellt eine enorme wissenschaftliche Herausforderung dar; ob sich ein solches System praktisch bewähren würde, ist aus heutiger Sicht nicht absehbar.

III. Internationale Perspektiven

16

Andere Rechtssysteme haben andere Gliederungen der Straftat entwickelt. So findet man im angelsächsischen Rechtskreis die Unterscheidung von „crimes“ und „defenses“, wobei die „defenses“ sowohl Rechtfertigungs- als auch Entschuldigungsgründe umfassen.[21] Auf der Prüfungsstufe „crime“ wird unterschieden zwischen „actus reus“ und „mens rea“,[22] was in etwa unserer Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand entspricht. Eine ausgefeilte Straftatlehre, die mit der deutschen vergleichbar wäre, fehlt jedoch. Nicht zu Unrecht wird dem US-Amerikanischen Strafrecht ein Mangel an Systematik bescheinigt.[23]

17

Einflussreich war auch das viergliedrige sowjetische System, wonach zwischen dem „Objekt der Straftat“ und den „objektiven Tatumständen“ sowie dem „Subjekt der Straftat“ und den „subjektiven Tatumständen“ zu unterscheiden war.[24] Hinzu trat die „Sozialschädlichkeit“ der Tat als Instrument der Feinabstimmung und Ergebniskorrektur – aber auch als Einfallstor für richterliche Willkür und politische Einflussnahmen.[25] China übernahm in den 50er Jahren das sowjetische Modell. Sein Einfluss tritt dort jedoch seit einigen Jahren allmählich zugunsten des deutschen dreigliedrigen Aufbaus zurück.[26]

18

Auch Japan[27], Taiwan und Südkorea orientieren sich am deutschen dreistufigen Aufbau, ebenso Spanien und das gesamte Lateinamerika, wobei in Brasilien nicht nur aus sprachlichen Gründen einige Besonderheiten gelten. Länder wie Estland, Georgien, Griechenland und die Türkei nutzen ebenfalls das dreistufige Modell. In der Gerichtspraxis dieser Staaten dient es aber eher als Referenzrahmen denn als zwingendes Aufbaumodell; dabei bestehen zwischen den einzelnen Rechtsordnungen und ihren jeweils tradierten Argumentationsstilen erhebliche Unterschiede.

19

Auf der Grundlage des dreistufigen Straftataufbaus ist im Laufe der Jahre eine „internationale Strafrechtsdogmatik“ entstanden, die zwar auf dem deutschen dogmatischen System aufbaut, dieses jedoch mehr und mehr hinter sich lässt und inzwischen eine bemerkenswerte Eigenständigkeit entwickelt hat.[28] Viele hervorragende Beiträge dazu werden heute in spanischer Sprache verfasst. Aber auch mit der japanischen, südkoreanischen und Teilen der chinesischen Strafrechtswissenschaft sind der deutschen Strafrechtsdogmatik heute Partner auf Augenhöhe erwachsen (→ AT Bd. 1: Hilgendorf, § 18 Rn. 119 f.).

20

Ein gestufter, klar strukturierter Straftataufbau besitzt enorme theoretische wie praktische Vorteile (siehe oben Rn. 3). Man sollte aber, einem Vorschlag Ingeborg Puppes folgend, das Vorgehen des Strafjuristen nicht mit einem „Baumeister“[29] vergleichen, „der ein Gebäude beginnend mit dem Fundament und den tragenden Bauelementen bis hin zum Dachfirst Stein für Stein errichtet“. Eher passt der Vergleich mit einem am Mikroskop arbeitenden Biologen: „Der betrachtet sein Objekt zunächst unter einer geringen Vergrößerung, um zu erkennen, wonach er im Einzelnen zu suchen hat. Dann wählt er die Vergrößerung immer größer, das Raster immer feiner, bis er das Objekt in allen seinen Einzelheiten vor sich hat“.[30] Damit wird die Hauptaufgabe des Verbrechensaufbaus, nämlich seine Verwendung als Analyse- und Strukturierungsinstrument, anschaulich auf den Punkt gebracht.

6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › B. Methodologische Orientierung

B. Methodologische Orientierung

21

Grundbegriff der deutschen Straftatlehre ist der Begriff der „strafbaren Handlung“.[31] Der Begriff wird aufgespalten in die bekannte Stufenfolge Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Diese Stufen bilden die Kernelemente des deutschen Straftatsystems, sie liegen außerdem der Fallprüfung zugrunde. Schon der Ansatz beim Handlungsbegriff macht deutlich, warum bei der Auseinandersetzung mit dem dreistufigen Straftatmodell Fragen der Begriffsbildung so wichtig sind.

22

Das Problem wissenschaftlicher Begriffsbildung wird in der juristischen Methodenlehre und der Rechtstheorie selten behandelt, obwohl es für Rechtsdogmatik wie Rechtspraxis von größter Bedeutung ist.[32] Sind uns die Begriffe, die wir bei der juristischen Arbeit verwenden, bindend vorgegeben, so dass wir sie nicht zu ändern vermögen? Oder verhält es sich so, dass Rechtswissenschaft und Rechtspraxis grundsätzlich frei sind, die Bedeutung der von ihnen verwendeten Begriffe festzulegen? Sind Begriffe lediglich menschliche Schöpfungen, sprachliche Zeichen, deren Inhalt von Menschen bestimmt wird? Oder sind Begriffe imstande, ein „Eigenleben“ zu führen, wie es etwa in der Hegel’schen Dialektik[33] angenommen wird?

23

Die damit angedeuteten Fragestellungen werden in der Sprachphilosophie und allgemeinen Wissenschaftstheorie häufig mit der Unterscheidung von begrifflichem „Naturalismus“ vs. „Konventionalismus“ zu erfassen gesucht. Für den Naturalismus gibt es eine „von Natur“ vorgegebene Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Auch wenn diese Position unbewusst nach wie vor eine große Rolle spielt,[34] kann sie doch als sprachphilosophisch überholt gelten. Die auch hier zugrunde gelegte Gegenposition zum sprachphilosophischen Naturalismus nimmt der „Konventionalismus“ ein. Die Bedeutung sprachlicher Zeichen beruht danach auf Konvention, also einer Übereinkunft der den Begriff verwendenden Personen. Eine „naturgegebene“ Bedeutung eines Begriffs oder eines Ausdrucks gibt es nicht.

24

Mittels Definition lässt sich die Bedeutung eines Ausdrucks festsetzen. Definitionen sind nicht wahr oder falsch, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig oder „adäquat“.[35] Natürlich lassen sich Definitionen an Adäquatheitsbedingungen messen, die die Brauchbarkeit der Sprachfestsetzung für die angestrebten Zwecke umschreiben, etwa die Eindeutigkeit der Bedeutungsfestsetzung, ihre Verständlichkeit, ihre Widerspruchsfreiheit, ihre Vereinbarkeit mit akzeptierten Randbedingungen oder auch ihre praktische Anwendbarkeit, ein Faktor, der für die Rechtswissenschaft eine besondere Rolle spielt oder zumindest spielen sollte.[36]

6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › C. Geistesgeschichtlicher Hintergrund

C. Geistesgeschichtlicher Hintergrund

25

Ein wesentlicher Vorteil eines strukturierten Verbrechensaufbaus liegt in seinen Leistungen zur Sicherstellung der Bindung des Rechtsanwenders an das Gesetz. Geistesgeschichtlicher Hintergrund ist die Rechtsphilosophie der Aufklärung (→ AT Bd. 1: Eric Hilgendorf, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung, § 6). Allerdings hat das aufklärerische Denken nicht in allen Ländern zu einer vergleichbar ausdifferenzierten Strafrechtsdogmatik geführt. Ein wichtiger zusätzlicher Faktor in Deutschland war der systematische Ansatz von Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, der den Grundstein zur Entwicklung der in besonderem Maße „systemaffinen“ Strafrechtsdogmatik in Deutschland – aber nicht nur dort – gelegt hat.

26

Feuerbach verdankte seine Neigung zu systematischem Denken und Darstellen wohl vor allem den Einflüssen der zeitgenössischen Philosophie, denen er als junger Philosophiestudent in Jena ausgesetzt war. Während Feuerbach in seinen kriminalpolitischen und rechtsphilosophischen Ansichten zeit seines Lebens von der französischen Aufklärungsphilosophie beeinflusst blieb,[37] wurde er in seiner Jugend formal entscheidend von Kant geprägt. Darüber, ob er zumindest eine Zeit lang auch inhaltlich Positionen des Königsberger Philosophen vertreten hat, besteht keine Einigkeit.[38]

I. Zum Systemdenken im Recht

27

Der Ausdruck „System“ lässt sich vom griechischen Wort „systema“ herleiten, was so viel wie „Zusammenstellung“ bedeutet.[39] Ein wissenschaftliches System ist aber mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Gesichtspunkten: es soll das vorhandene Wissen zu einer – im besten Fall logisch strukturierten – Einheit zusammenfügen. Kant nennt das System ein „nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“.[40] Verstanden in diesem Sinne, ist das System bzw. ein systematisches Vorgehen heute kennzeichnendes Merkmal jeder Wissenschaft.[41]

28

Ansätze zu juristischer Systembildung finden sich bereits in der Antike, allerdings nicht im griechischen Recht, sondern erst in Rom. Die ersten Formen juristischer Systembildung sind wohl das Ergebnis einer Rezeption der griechischen Philosophie und Wissenschaftslehre durch die römische Jurisprudenz.[42] Ciceros verlorengegangene Schrift „de jure civili in artem redigendo“ soll, so wird heute angenommen, eine Strukturierung des römischen Rechts im Geist der griechischen Wissenschaftslehre eingefordert haben. In der Praxis blieb dieser Ansatz aber weitgehend folgenlos: Die klassischen römischen Juristen orientierten sich ganz überwiegend an Einzelfällen und beschränkten sich auf eine eher „assoziative(…) Stoffanordnung“.[43]

29

Die bekannteste Ausnahme ist das für Unterrichtszwecke konzipierte Institutionensystem des Gaius. Es diente der europäischen Zivilrechtswissenschaft bis in das 19. Jahrhundert hinein als Referenzwerk, und immer wieder wurde versucht, auf seiner Grundlage leistungsfähigere Systeme zu entwerfen.[44] Wichtige Etappen der „Arbeit am System“ in der europäischen Rechtsgeschichte bilden die Vernunftrechtswissenschaft der Aufklärung und der wissenschaftliche Positivismus der Begriffsjurisprudenz.[45]

30

Als ein Hauptvertreter der Begriffsjurisprudenz gilt der junge Rudolf von Jhering. In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts postulierte er eine „naturhistorische Methode“, wonach rechtsdogmatisches Arbeiten als bloßes Konstruieren mit Begriffen gedeutet werden könne.[46] Jhering hat sich allerdings in späteren Arbeiten entschieden von dieser Ansicht distanziert und das jeweils geltende Recht als Ergebnis von Interessenkonflikten gedeutet.[47] Legt man ein solches Verständnis von Recht zugrunde, so ist auch die Systematik des Rechts grundsätzlich abhängig von den sie bestimmenden Interessen, sie ist also nicht etwa a priori vorgegeben, sondern dem historischen Wandel unterworfen.[48]

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9783811449442
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