Читать книгу: «Die Rebellenprinzessin», страница 4

Шрифт:

Mit einem einzigen Aufschrei schoss sie auf die Bestie zu und rammte die Klinge in die ungeschützte Flanke. Das Wesen brüllte markerschütternd, den gewaltigen Schädel nach oben gerissen. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen – die Welt verstummte.

Viel zu spät bemerkte ich die weißen Zähne, kleine Dolche, die knapp über Grannies Schlüsselbein in ihrem Fleisch steckten. Ich sah das Blut – Grannies Blut – das wie dunkler Rotwein über ihre Haut floss und sich auf dem Holzboden ausbreitete. Eisengeruch durchdrang die Luft. Grannies Kopf hing schlaff zur Seite. Unfähig, zu begreifen beobachtete ich die Szene.

„Nein!“ Rubinas Schrei dröhnte in meinem Kopf. Tränen flossen über ihr Gesicht und vermischten sich mit dem Blut. Wahnsinnig vor Zorn stach sie zu. Immer und immer wieder versenke sie ihr Schwert in der Seite dieses Monsters. Überall war Blut, so rot wie Kirschsaft.

Ein Teil von mir schrie vor Entsetzen, doch ich bewegte mich keinen Millimeter.

Die Bestie schnaubte, knurrte, brüllte. Mittlerweile stand sie in einer dunklen Lache. Ihr malträtierter Körper ließ von Grannie ab. Endlich.

Erneut stieß Rubina ihr das Schwert in die Seite.

Bitte!, flehte eine Stimme tief in mir, Lass es vorbei sein. Lass es endlich aufhören! Ich wollte die Augen verschließen vor all dem Blut. Ich wollte die Ohren verschließen vor den Schreien und dem Gebrüll. Aber ich konnte nichts tun, als weiterhin unbewegt zuzusehen.

Vor Schmerz tobend schlug die Bestie um sich. Ihre Pranken verfehlten Rubinas Kopf nur knapp.

Ich hielt den Atem an.

Die Bestie erstarrte.

Ihr Blick traf meinen.

Mordlust blitzte in ihren Augen auf.

Mordlust und … Gelb. Scharfes, schneidendes Gelb traf mich wie ein Hieb und ich schloss meine Augen. Alles in mir drehte sich. Ich kämpfte gegen die erstickende Schwärze an, die mich in Wogen überrollte. Ich durfte jetzt nicht bewusstlos werden! Nicht jetzt!

Mit einem Schlag öffnete ich die Augen wieder und rang nach Atem. Aber ich sah nicht das, was ich erwartet hatte.

Kapitel 4

„Nein!“ Rubinas Schrei zerfetzte die Stille. Sie kniete auf dem blutbeschmierten Boden, Grannies schlaffen Körper auf ihren Schoß gebettet. „Nein“, sagte sie immer wieder, „Nein, nein, nein.“

Mechanisch stieg ich die Treppe hinab.

Rubinas Kopf war nach unten gebeugt. Tränen tropften auf Grannies Gesicht. Ich kniete mich neben sie in die glitschig-rote Lache.

„Nein“, hauchte sie noch immer, „Grannie … Nein.“ Schluchzer schüttelten ihren Körper. Mit zitternden Fingern strich sie über Grannies Wangen. So zerbrechlich.

„Rubina?“ Sie schien meine Anwesenheit nicht zu bemerken. Verloren starrte sie in Grannies bleiches Gesicht.

„Rubina.“ Jetzt sah sie auf. Nach Halt suchend musterte sie mich. „Zu spät“, murmelte sie, „Viel zu spät.“ Dann sah sie wieder zu Grannie.

Vorsichtig berührte ich ihr schlaffes Handgelenk, wollte sie von Rubinas Schoß ziehen – als ich es spürte. Ein schwaches Schlagen, direkt unter der Haut. „Oh Gott“, hauchte ich und dann lauter, „Oh Gott. Oh Gott! Sie lebt! Rubina, sie lebt!“

Rubina hob den Kopf und sah mich verständnislos an.

„Sie lebt!“, wiederholte ich, „Sie hat einen Puls! Sie lebt!“

Ich sprang auf. „Wir brauchen einen Arzt!“ Rubinas Blick wechselte zwischen mir und Grannie. „Verdammt, ruf einen Arzt, Rubina!“ Meine Schreie wurden schriller. „Sie braucht Hilfe! Wir brauchen Hilfe! Steh auf! Komm schon, steh auf!“

Unendlich langsam erhob sie sich. „Ein … Arzt“, wiederholte sie schleppend, „Hilfe.“

„Ja, wir brauchen Hilfe! Ruf einen Arzt!“

Endlich wurde ihr Blick klar, fokussiert. „Warte hier“, sagte sie gefasst. Im nächsten Moment sprintete sie die Treppe nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Ich kniete mich neben Grannie. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich jetzt tun sollte.

„Keine Sorge“, murmelte ich deshalb. Meine Hand schloss sich um Grannies. „Wir holen Hilfe. Rubina ruft einen Arzt. Alles wird gut.“

Sekunden später tauchte Rubina auf. „Wir müssen sie zu den anderen bringen!“, verlangte sie atemlos, während sie ein Laken neben Grannie auf dem Boden ausbreitete, „Nimm ihre Beine. Vorsichtig! Bei drei heben wir sie rüber.“

„Rubina was –“

„Drei!“

Innerhalb von Sekunden lag Grannie auf dem weißen Stoff. „Nimm die Enden!“, wies Rubina mich an, „Na los, mach schon!“

„Was soll das, Rubina? Was hast du vor?“

„Sie retten!“, schnauzte sie, „Bei drei.“

Mit einem Ruck hoben wir Grannie in die Luft.

„Und jetzt los!“ Rubina setzte sich in Bewegung. Zu spät wurde mir klar, was sie da tat.

„Aber wir können doch nicht –“

„Klappe!“

„Aber sie braucht einen –“

„Klappe, verdammt!“

Ich verstummte. Mondlicht verlieh der Welt einen Silberschimmer. Nichts erinnerte an den Angriff. Friedlich ruhte die Welt um uns herum. Vereinzelt hallten die Rufe einer Eule durch die Nacht. Schon bald war die Blockhütte außer Sichtweite und wir stolperten mitten durch den Wald. Die Luft hatte sich abgekühlt und eine frische Brise strich über meine bloße Haut. Ich war nicht mehr dazu gekommen, meine Schuhe anzuziehen, also lief ich barfuß, nur in dieser dünnen Bluse und einem Rock durch den nächtlichen Wald.

Meine Arme zitterten bald vor Kälte und Anstrengung. „Wie weit …“

„Reiß dich zusammen!“

Nur Minuten später hielten wir – mitten im Wald. Suchend sah ich mich um. „Was zur Hölle machen wir hier?“, brüllte ich über Grannies leblosen Körper hinweg, „Sie braucht einen Arzt!“

„Sei endlich still!“ Rubina machte Anstalten, sie abzulegen und ich konnte gerade noch rechtzeitig reagieren. Bevor ich auch nur ein Wort gesagt hatte, fiel Rubina einige Schritte entfernt auf die Knie und begann, im Laub zu scharren. Fassungslos starrte ich sie an.

„Zum Himmel nochmal!“ Ohne sich umzudrehen stieß sie die Worte hervor. „Was stehst du da noch? Hilf mir!“

Zögernd näherte ich mich ihrer gebeugten Gestalt. Ich hatte das dumpfe Gefühl, sie könnte den Verstand verloren haben. Moosklümpchen flogen in alle Richtungen, als sie wie eine Besessene mit der Erde kämpfte. Ich bekam Angst.

„Rubina.“

Ich wollte sie gerade wegzerren, da sah ich es. Zwischen den Grasbüscheln lag eine Holzplatte am Hang. Nein, sie war dort verankert. Rubina legte einen großen eisernen Ring frei, dann stand sie auf und machte sich daran zu schaffen.

„Fass mal mit an!“, befahl sie harsch, während sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Platte stemmte. Zögernd griff ich zu und tat es ihr gleich. Mit einem Ruck klappte die Platte nach oben und gab steinerne Stufen frei.

„Worauf wartest du, verdammt?“ Rubina war bereits wieder zu ihrer Großmutter gelaufen und hatte das Laken ergriffen. „Beeil dich!“ Gemeinsam hievten wir das Laken erneut in die Luft und schleppten Grannie zum Eingang.

„Was genau ist das hier?“, fragte ich, als wir die Treppe betraten. Ich erhielt keine Antwort. Vorsichtig stiegen wir Stufe um Stufe nach unten in den Hügel. Je weiter wir kamen, desto dunkler wurde es. Das Mondlicht leuchtete den Gang nur noch spärlich aus und schließlich gar nicht mehr. Es war stockdunkel. Ich begann, die Stufen zu zählen. Eins, zwei, drei … ich war bei fünfzig, als es plötzlich wieder hell wurde. Gelblicher Lichtschein drang in die Dunkelheit. Kurz drauf öffneten sich die Treppen in einen schmalen Gang. Rubina begann zu sprinten. Wenig später erreichten wir endlich einen Raum.

„Wir brauchen Hilfe!“ Wie ein Komet krachten wir in das Zimmer und begegneten den versteinerten Mienen mehrerer Männer und Frauen. Völlig sprachlos starrten sie uns entgegen, musterten zuerst Grannies leblosen Körper auf dem Laken, bis schließlich ihre Blicke auf mir verharrten.

„Schaut nicht so, tut etwas!“ Rubinas Stimme hallte von den steinernen Wänden wider. „Die Bestie ist zurück. Ihr müsst Grannie retten!“

Endlich kam Bewegung in diese Leute. Ein Mann fasste einen anderen, jüngeren bei den Schultern. „Hol die Heilerin“, befahl er ruhig. Der junge Mann nickte und verschwand durch einen der Gänge, während der ältere vortrat.

„Wer ist das?“, fragte er und musterte mich skeptisch.

Rubina ignorierte seine Frage. „Bitte!“, verlangte sie erneut, diesmal wesentlich schriller, „Helft ihr! Rettet Grannie!“

Der Mann wirkte nicht ansatzweise schockiert – weder von dem leblosen Körper Grannies in diesem Laken, noch von Rubinas Worten.

„Wer ist das, Rubina?“, wiederholte er langsam.

Rasend vor Wut warf Rubina ihren Kopf herum.

„Grannie wird sterben!“, schrie sie mitten in sein Gesicht, „Also hör verdammt nochmal auf, Fragen zu stellen und hilf uns!“

Endlich gab der Mann nach. Beherrscht deutete er auf den kreisrunden Tisch, der die Mitte des Raumes einnahm. „Legt sie dorthin.“

Noch bevor Grannies Körper mit dem Laken die Tischplatte berührte, stürmte eine Frau in den Raum.

„Was ist passiert?“, fragte sie atemlos. Ihr Gewand klimperte bei jeder Bewegung und ein seltsamer Duft nach Gewürzen und Kräutern umwehte sie wie eine Wolke. „Wo ist sie?“

Ich trat ein paar Schritte zur Seite, um ihr den Weg freizumachen. Bunte Tücher und schwarze Locken rauschten an mir vorbei. Dann beugte sich die fremde Frau über Grannies Körper.

„Sie hat viel Blut verloren“, hörte ich sie murmeln, „Ich weiß nicht, ob …“

„Bitte!“ Rubina strich Grannie erneut mit zitternden Händen über die Stirn. Ihre Augen waren geschwollen und rot. „Bitte, tut alles, was Ihr könnt.“

„Ich werde mein Bestes versuchen.“ Die Heilerin fasste Rubinas Hand und hielt sie für einige Sekunden, bevor sie sie in Grannies legte. Dann breitete sie in einer fließenden Bewegung ihre Hände über Grannies leblosen Körper. Ein goldenes Leuchten ging von ihren Handflächen aus.

Ich brachte kein Wort zustande. Stumm beobachtete ich, wie das Leuchten zu einem Glimmen wurde und schließlich ganz verschwand, wie die Heilerin anschließend nach Wasser und Tüchern verlangte, wie sie verschiedene Fläschchen, Gläser, Phiolen und Tiegel aus einem Lederbeutel holte und seltsam riechende Zutaten in einem kleinen Schälchen vermengte, wie eine Frau ihr Tücher und Wasser reichte und die Heilerin eines der Tücher mit einer klaren Flüssigkeit beträufelte und vorsichtig auf die klaffende Wunde zwischen Grannies Schulter und ihrem Hals drückte. Grannie stöhnte und die Heilerin murmelte einige beruhigende Worte, bevor sie erneut in ihren Lederbeutel griff und etwas zutage förderte, das an eine Nadel mit etwas Faden erinnerte. Mit geschickten Stichen nähte sie das offene Fleisch über der Wunde wieder zusammen. Anschließend rührte sie das Gemisch in der Schale ein weiteres Mal um, ehe sie es gleichmäßig über der Naht auftrug und mehrere Tücher faltete, die sie wie einen Verband um Grannies Schulter schlang.

„Das ist alles“, sagte sie schließlich, ohne den Blick von Grannies Körper zu wenden, „Mehr kann ich momentan nicht tun.“

Sie packte die Fläschchen und Phiolen und Schälchen und Tiegel zurück in ihren Beutel und dann trat sie zurück.

„Sie sollten für sie beten“, hauchte sie in Rubinas Richtung, bevor sie sich umdrehte und ging.

Stumm starrte Rubina auf den schlaffen Körper ihrer Großmutter. Ihre Finger blieben fest mit denen von Grannie verschränkt, während sie lautlos niedersank.

Im Augenwinkel bemerkte ich, dass jemand neben mich getreten war. Zögernd drehte ich den Kopf ein Stück und erkannte den älteren Mann von vorhin.

„Wir sollten sie allein lassen“, flüsterte er so leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Mit einer Handbewegung wies er auf einen der Tunnel, die den Raum verließen.

*****

„Ich denke, wir sollten uns unterhalten.“

Die Stimme des Mannes durchbrach das Schweigen, das uns bisher umgeben hatte. Kaum, dass wir den kleinen Raum betreten hatten, wies er auf einen Stuhl.

„Bitte, setz dich.“

Stumm kam ich seiner Aufforderung nach. Noch immer versuchte ich zu begreifen, was ich gesehen hatte. Mit den Fingern fuhr ich die Rillen auf dem Holztisch nach, der zwischen mir und dem Mann stand. Dieses Wesen – Unmöglich, dass ein Wolf so riesenhaft und … blutrünstig war. Und das hier – dieser Raum, diese Tunnel mit den kahlen Steinwänden und Holzbalken, mit Fackeln – Wo um alles in der Welt war ich nur gelandet? Meine Fingerspitze verharrte in einer besonders tiefen Kerbe, die das helle Holz des ansonsten dunkel gewordenen Tisches offenlegte.

„Ich bin Raymond.“

Als ich den Blick hob, sah ich direkt in seine dunklen Augen, die mich so durchdringend musterten, dass ich schauderte.

„Wie heißt du?“

Ich zögerte mit meiner Antwort.

„Evangeline“, sagte ich schließlich knapp, „Evangeline MacKay.“

Er nickte. „Also gut, Evangeline. Du hast Ruby also geholfen, Grannie herzubringen?“

„Ja.“

„Die beiden haben dich nie zuvor erwähnt. Woher kennt ihr euch?“

Ich sah auf. Während die warmen Flammen dunkle Schatten an die Wände warfen, schien sich die Zeit in Sirup zu verwandeln.

„Ich kenne sie nicht wirklich“, hörte ich mich sagen, „Sie … sie haben mir angeboten, bei ihnen zu übernachten. Nur für diese Nacht.“

„Warum?“ Raymonds Stimme war so langsam wie warme Schokolade. „Wie kommt es, dass du ein Dach über dem Kopf suchst? Und warum bist du ausgerechnet bei Ruby und Grannie untergekommen? Soweit ich weiß, hatten die beiden seit Jahren keinen Besuch mehr.“

Mein Blick konzentrierte sich wieder auf die Kerben in der Tischplatte.

„Es war eine … Notlage“, erklärte ich schließlich, „Ich habe mich verlaufen und bin in dieses Gewitter geraten. Ihr Haus war das erste, das ich fand. Ich war einfach nur froh …“

Ich verstummte, ohne den Satz zu beenden. Bei dem Gedanken an Grannies Lächeln stieg warme Übelkeit in mir auf. Der Eisengeruch schien mit einem Mal überall zu sein und ich musste schlucken.

„Und Grannie und Rubina haben dir ein Zimmer angeboten?“, hakte Raymond nach.

„Ich wollte nicht … Ich meine, ich wollte mich nicht aufdrängen. Ich habe sie nach einem Telefon gefragt, doch sie haben keins.“ Als ich wieder daran dachte, kam mir ein Gedanke. „Vielleicht wissen Sie ja zufällig, wie weit es von hier aus nach Calgary ist?“

Der Mann rang für einen kurzen Moment um seine Fassung, fing sich jedoch schnell wieder.

„Es … ist ein ganzes Stück“, antwortete er knapp, „Wohnst du dort?“

„Ja.“ Meine Finger kratzen über kleine Holzsplitter am Rand der Kerbe.

„Deine Eltern werden dich sicherlich schon vermissen.“

Der Gedanke an Mom und Dad ließ mich für einen Augenblick innehalten. Ich sah die beiden in unserem Wohnzimmer, zwischen all den offenen Kisten und Kartons und Legosteinen und Kuscheltieren, Mom auf der Couch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt und Dad am Fenster, wie er zum fünfzigsten Mal in dieser Stunde versuchte, mich zu erreichen.

„Du kannst über Nacht hierbleiben, wenn du möchtest.“ Ich hörte, wie Raymond atmete. Tief und ruhig, obwohl er vor Anspannung die Hände so ineinander verschränkt hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Und morgen …“ Er zögerte. „… Morgen bringe ich dich in die Stadt. Was sagst du?“

Erneut schweifte mein Blick durch den Raum. Die kahlen Wände und die Fackeln, das fensterlose Mauerwerk fünfzig Stufen unterhalb der Erde – hier lud absolut nichts zum Bleiben ein. Andererseits war der Gedanke, mich ein zweites Mal zu verirren oder womöglich sogar dieser Bestie über den Weg zu laufen, noch viel weniger verlockend. Was half es mir schließlich, Hals über Kopf aufzubrechen, wenn in einigen Stunden alles schon klarer und einfacher sein könnte?

„Okay.“ Ich nickte. Für einige Sekunden glaubte ich, Verunsicherung in Raymonds Zügen zu lesen, doch gleich darauf wischte ein zuversichtliches Lächeln alle Zweifel weg und Raymond stand auf.

„Gut“, schloss er, „Dann zeige ich dir jetzt, wo du schlafen kannst.“

Mit einer zuvorkommenden Geste öffnete er die Tür und führte mich hinaus auf den Gang.

*****

Aufgewühlt streifte ich durch den kleinen Raum. Seit Stunden hatte sich nichts getan, obwohl ich es kaum erwarten konnte, diesen Ort endlich zu verlassen. Raymond hatte von Morgen gesprochen, doch ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Noch immer hielt ich mein Smartphone fest umklammert. Es war das erste, was ich getan hatte, nachdem Raymond mich allein gelassen hatte. Ohne auf das Zeichen zu achten, das mir erneut sagte, ich hätte keinen Empfang, hatte ich versucht, meine Eltern zu erreichen, hatte SMS geschrieben, die nie versendet wurden. Ich wusste nicht, wie lange ich so dagestanden – wie oft ich es probiert hatte, bis der Akku schließlich die letzten zehn Prozent erreicht hatte. Ich hoffte, dass ich diese zehn Prozent vielleicht noch brauchen konnte, wenn ich endlich einen Ort mit Empfang finden würde, weshalb ich es schließlich widerwillig ausgeschaltet hatte. Seitdem konnten Stunden vergangen sein – oder auch nur Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten.

Je länger ich über all das nachdachte, desto schlimmer wurde es. Diese altmodische Kleidung und Menschen, die offenbar ohne Strom lebten, Tunnel unter der Erde und eine seltsame Heilerin anstelle eines Notarztes – konnte ich in eine Sekte geraten sein? Und wenn ja, würden sie mich dann wirklich zurück nach Hause bringen? Mein Herz raste bei dem Gedanken an die Alternativen.

Verzweifelt suchte ich nach einer anderen Erklärung, nach einer beruhigenderen Möglichkeit, doch die Bilder dieser Nacht überlagerten alles. Immer wieder tauchten Szenen vor meinem inneren Auge auf. Ich hörte Rubina schreien. Ich sah Blut spritzen, so viel Blut. Und immer wieder hörte ich das Donnern, das Bersten von Holz, das Brüllen der Bestie. Es war grauenhaft. Und unerklärlich.

Was ich gesehen hatte, konnte nicht existieren! Und doch hatte es Grannie fast umgebracht, hatte die Hütte in ein einziges Blutbad verwandelt.

Ich hatte noch nie zuvor so panische Angst verspürt. Panische Angst, es könnte zurückkehren. Panische Angst vor diesen Menschen. Panische Angst an diesem fensterlosen Ort.

Ich raufte mir das Haar, lief immer weiter, Runde um Runde durch den Raum, weil ich wusste, dass Stillstand die Bilder zurückbringen würde, die Gedanken, die dunklen Finger der Angst um mein Herz.

Wieder und wieder setzte mein Verstand aus, während ich nach Erklärungen suchte, nach einer Lösung, nach irgendetwas, das all das ungeschehen machen konnte.

Noch nie zuvor hatte ich all die Kisten und das Chaos daheim so vermisst. Noch nie zuvor hatte ich mir so sehnlich die Arme meiner Eltern gewünscht, die sich beschützend um mich legten. Noch nie zuvor hatte ich so dringend nicht allein sein wollen.

Doch in all dem Chaos stach dieser eine Gedanke immer deutlicher hervor. Ein Gedanke, für den ich Jahre zu alt war. Ein Gedanke, der mich mit solcher Furcht erfüllte, dass ich den Atem anhielt. Ein Gedanke, der alles erklären könnte. Wenn ich ihn nur ließe …

„Endlich begreift Ihr.“ Die knarzige Stimme ließ mich vor Schreck zusammenzucken.

„Wer – “ Suchend sah ich mich um, doch da war niemand.

„Wenn Ihr erlaubt, mich vorzustellen?“

Die Stimme kam vom … „Heilige – “ Die nächsten Worte blieben mir im Hals stecken. Auf dem Tisch gegenüber saß ein Frosch. Ein kleiner, grüner Frosch.

„Sir Henry Irvin Edgar Wallace“, stellte er sich galant vor, „Aber für Euch, Mylady, nur Wallace.“

Er deutete eine Verbeugung an. „Ich bin höchst erfreut, endlich Eure Bekanntschaft machen zu dürfen.“

Ich war kurz davor, einen Herzinfarkt zu erleiden. „Wie zur Hölle –“

Ruhig bleiben … Ich schloss die Augen und zählte.

Eins. Ich musste verrückt geworden sein.

Zwei. Sprechende Frösche existierten nicht.

Drei. Ich öffnete die Augen und der Frosch grinste zu mir herauf.

„Ihr könnt die Augen so oft schließen wie Ihr wollt, Mylady, aber davon werde ich nicht verschwinden.“

Ich schnappte nach Luft. Das war vollkommen unmöglich. Das widersprach allem, einfach allem!

Und doch passte es so perfekt in das absurde Puzzle der letzten Nacht …

„Ihr habt die richtigen Schlüsse gezogen, Mylady“, kommentierte der Frosch inzwischen, „Scheut Euch jetzt nur nicht, die Tatsachen zu akzeptieren, die diese Schlüsse mit sich bringen.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht wahr“, sagte ich laut. Weder der Frosch noch diese absurden Gedanken verschwanden.

„Das ist nicht wahr“, wiederholte ich, „Das kann nicht wahr sein, nichts davon!“

„Wollt Ihr wirklich leugnen, dass ich hier sitze? Direkt vor Euch?“ Die riesigen Froschaugen funkelten provokant. „Ihr wisst doch genauso gut wie ich, was mit Euch passiert ist …“ Er machte eine kurze Pause, grinste. „… oder besser gesagt: Wo Ihr Euch gerade befindet?“

Fassungslos sah ich ihn an.

„Nein“, hauchte ich, „Nein, das ist nicht – Ich bin nicht …“

„Und ob Ihr hier seid, Mylady.“ Altklug spazierte der Frosch über den Tisch. „Ihr seid hier, mitten in Ciaora. Genauer gesagt neuneinhalb Meter unter dem moosigen Boden des Foraoise gan Deireadh, des unendlichen Waldes. Wobei Euch ja offensichtlich eher die Tatsache interessiert, wo Ihr nicht mehr seid – in Eurer Welt.“

„Ihr lügt!“ Der Schrei entrang sich meiner Kehle so selbstverständlich wie das Amen. „Ihr seid nicht mehr als eine Halluzination, eine Einbildung – noch dazu eine schlechte!“

„Also das ist nun wirklich unerhört!“ Der Frosch hatte die dürren Arme verschränkt und war wie erstarrt vor mir stehengeblieben. „Wie könnt Ihr es wagen, mich einen Lügner zu nennen? Oder eine Halluzination?“ Aufgeregt erhob er die Arme zum Himmel. „Ich weiß noch nicht einmal, was von beidem die größere Beleidigung ist.“

Er schnaubte. „Aber gut! Von mir aus! Wenn Ihr meine Hilfe nicht wollt, werde ich Euch nicht länger belästigen.“

Noch bevor seine letzten Worte bei mir angekommen waren, erschien wie aus dem Nichts ein eigenartiger lilafarbener Nebel, der immer dichter wurde, bis er den Frosch schließlich ganz umhüllte.

„Undankbares Pack!“, glaubte ich ihn noch murmeln zu hören, dann lichtete sich der Nebel und der Frosch war wie vom Erdboden verschluckt.

Völlig durcheinander sank ich auf die Pritsche.

Das konnte nicht sein! Das alles konnte nicht die Wahrheit sein! Und doch war es die einzig logische Erklärung für alles, was in der letzten Nacht passiert war – für die Hütte ohne Strom, für die Kleider, die Heilerin und diese Tunnel, für den sprechenden Frosch – und für dieses Wesen, diese Bestie.

Ich wischte mir die wirren Strähnen aus den Augen und erhob den Blick zur Decke des Raumes. So viel Stein. Und darüber eine andere Welt? War das die Antwort, nach der ich gesucht hatte?

Ich war erstaunt, dass ich den Gedanken tatsächlich zuließ. Die Vorstellung allein war absurd, doch irgendwie passte alles zusammen. Es war so einfach, wie nur die Realität sein konnte.

Eine andere Welt …

Doch Raymond hatte versprochen, mich zurück nach Calgary zu bringen. Die Erinnerung entzündete einen Funken in meinem Inneren, der nur Sekunden darauf in Zweifel entflammte. Denn ein klitzekleiner Teil tief in mir wusste, dass nichts, was der Frosch gesagt hatte, wahr sein konnte. Dass es weder Magie noch andere Welten gab.

Und dieser Teil von mir war wahnsinnig vor Angst, denn er konnte nicht erklären, warum dieses gelbäugige Monster existierte, warum Frösche sprachen und Großmütter mit Schwertern um sich schlugen.

287,15 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
440 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783742717344
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают