Читать книгу: «Die Rebellenprinzessin», страница 2

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Kapitel 2

Da war er wieder.

Strahlend blondes Haar und funkelnd blaue Augen, deren Blick sich direkt in mich bohrte. Der Blick, der mir seit Tagen folgte.

Zuerst dachte ich, mein Verstand würde mir Streiche spielen, als ich ihn am Montag nach unserer ersten Begegnung wiedersah. Lässig lehnte er an der Glaswand der Bushaltestelle vor meiner neuen Schule, dieselbe Jeans und denselben durchdringenden Blick. Noch bevor ich realisieren konnte, dass er tatsächlich dort stand, nur einen Steinwurf entfernt, riss ein vorbeifahrender Lastwagen die Haltestelle aus meinem Blickfeld.

Sekunden später waren beide verschwunden. Den Lastwagen erkannte ich ein Stück die Straße hinunter, doch den Typ mit den blauen Augen hatte der Erdboden verschluckt, genau wie an dem Tag im Café.

Ich sah ihn danach noch einige Male – vor meiner Schule, vor dem Café, an einem Samstag in der Mall und ein einziges Mal sogar in der Nähe unseres Hauses. Keine einzige dieser Begegnungen konnte man wirklich als „Begegnung“ bezeichnen. Vielmehr war es ein kurzes Aufblitzen, ein sekundenlanges Erscheinen und das darauffolgende Verschwinden, kaum, dass ich ihn wahrgenommen hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt existierte, denn bevor ich jemanden auf ihn ansprechen konnte, hatte er sich wieder in Luft aufgelöst.

Als ich ihn an diesem Nachmittag im Café erneut dort stehen sah, fackelte ich nicht lang. Wenn ich wirklich verrückt wurde, wollte ich jetzt sofort die Bestätigung. Ich ließ alles stehen und liegen und stürmte aus dem Café. Dank der großen Glasfront musste ich ihn dabei nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen lassen.

Jemand schrie meinen Namen, als ich rücksichtslos quer über die Straße rannte. „Evangeline!“

Es war nur ein kurzer Laut, vier Silben, doch aus einem Impuls heraus drehte ich mich um. Carly stand vor dem Café, kreidebleich und fassungslos. „Was um Himmels willen machst du denn da?“

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn aus den Augen gelassen hatte, nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Ich wirbelte herum.

Niemand. Er war weg. Die Straße hinauf und abwärts keine Spur von ihm. Ich hatte ihn schon wieder verloren.

„Verdammt.“

Wie konnte ein einzelner Mensch sich so schnell bewegen?

Wurde ich denn tatsächlich verrückt? Halluzinationen gingen doch mehr als weit über meine bisherigen Tagträumereien hinaus.

Aber wie konnte dieser Typ sonst einfach so auftauchen und wieder verschwinden, innerhalb von einem Augenblick?

„Evangeline!“ Atemlos kam Carly neben mir zum Stehen. „Was in aller Welt ist denn passiert? Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet.“

Stumm schüttelte ich den Kopf. Dann fiel mir ein, dass sie Recht haben könnte. Ich wurde verrückt. Ich begann, Geister zu sehen.

„Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt, weißt du das?“, plapperte Carly inzwischen weiter, „In einem Augenblick sitzt du seelenruhig am Fenster und dann – bam – springst du auf und rennst mitten über die Straße. Dir hätte sonstwas passieren können!“

Ich sah sie an. Carly, die vollkommen echte, sich um mich sorgende Bedienung. Und ich beschloss, dass es reichte, wenn ich allein von diesen seltsamen Begegnungen wusste.

„Es geht mir gut“, sagte ich, „Ehrlich. Es ist … ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen. Eine Verwechslung.“ Mit gehobenen Augenbrauen sah sie mich an. Sie glaubte mir nicht. Zeit für den Rückzug.

„Ach, eigentlich ist es ja auch egal.“ Schulterzuckend drehte ich mich um und wollte gerade die Straße überqueren, als Carly meinen Arm packte.

„Du hast was verloren“, sagte sie und streckte mir einen winzigen Brief entgegen.

Ich schüttelte den Kopf. „Der gehört mir nicht. Lass ihn liegen.“

Doch Carly dachte gar nicht daran. „Natürlich gehört er dir“, protestierte sie, „Es steht schließlich dein Name drauf. Schau.“ Mit einer Handbewegung hatte sie ihn umgedreht und hielt ihn mir so dicht unter die Nase, dass die geschwungenen Buchstaben mich vom Papier aus ansprangen wie wütende Tiger. Evangeline MacKay. Carly hatte recht.

„Ich weiß ja nicht, was du wirklich hier drüben wolltest …“, murmelte sie, „… aber du solltest ihn nehmen. Und wenn du reden möchtest, egal worüber …“ Ihre letzten Worte gingen im Straßenlärm unter.

„Schon okay“, sagte ich und nahm den Brief schließlich doch.

Er brannte auf meiner Haut, ungeöffnet, voller Antworten, die herauswollten, herausmussten. Dieses kleine Stück Papier hatte etwas mit ihm zu tun, da war ich mir sicher. Es bewies, dass ich nicht verrückt war.

Plötzlich war jede Sekunde, die ich hier draußen stand, eine Sekunde zu viel. „Lass uns zurück nach drinnen gehen“, drängte ich ungeduldig. Der Brief brannte und brannte lichterloh in meiner Hand.

Carly kam meinem Vorschlag nur zu gern nach. Die neugierigen Blicke der Gäste und Mitarbeiter des Cafés verfolgten mich, klebten auch Minuten nachdem ich wieder auf meinem Platz am Fenster saß, noch an meinem Rücken. „Eigenartiges Mädchen“, hörte ich sie reden, „Vielleicht geistig verwirrt. Ein Trauma. Hätte draufgehen können. Bei dem Verkehr. Was sie da drüben wollte? Ist einfach so aufgesprungen. Wirklich eigenartig.“

Der Brief lag direkt vor mir. Vorsichtig berührte ich die geschwungenen Buchstaben meines Namens. Alles in mir schrie danach, das Papier zu öffnen, auseinanderzufalten und die Antworten wie eine Landkarte vor mir auszubreiten. Wer war dieser blonde Kerl und woher wusste er, wer ich war? Was wollte er von mir? Wie schaffte er es, innerhalb von Sekunden zu verschwinden?

„Was steht drin?“ Ich hatte nicht bemerkt, dass Carly auf den Hocker neben mir gerutscht war. Erschrocken riss ich den Kopf hoch, fast, als hätte sie mich bei etwas Unerlaubtem ertappt.

Dabei war es nur der Brief, der geheimnisvolle Brief, der meinen Namen trug.

„Entschuldige“, schob Carly sofort hinterher, „Ich wollte dich nicht stören. Du hast nur ziemlich … naja, mitgenommen ausgesehen und da dachte ich –“

„Ich habe ihn noch nicht geöffnet“, platzte ich völlig unerwartet heraus. Auch Carly wirkte überrascht, denn einige Momente lang sagte sie gar nichts, sah mich bloß forschend an.

„Ich sollte wohl langsam gehen“, verkündete ich schließlich, „Mom wird sicherlich bald heimkommen und ich habe Ced versprochen, mit ihm LEGO zu spielen.“

„Klar, natürlich.“ Carly nickte, doch sie wirkte irgendwie eigenartig. „Wir sehen uns ja sicherlich morgen wieder.“

„Ja, bestimmt“, entgegnete ich knapp, während ich meinen Mantel überstreifte und den Brief in meine Tasche gleiten ließ, „Bis dahin.“

Ich hatte es plötzlich wahnsinnig eilig, das Café zu verlassen. Der seltsame Blick, mit dem Carly mich seit meiner – zugegeben nicht ganz ungefährlichen – Aktion bedachte, war mir unangenehm und der Brief lauerte noch immer ungeöffnet in meiner Tasche.

„Bis morgen“, verabschiedete Carly sich mit einem Lächeln, „Und pass auf dich auf, ja?“

Ich nickte bloß und nahm meine Tasche. „Bis morgen.“

Ich spürte ihren Blick noch Sekunden, nachdem ich das Café verlassen hatte. Besorgt und irgendwie auch mitleidsvoll hatte sie ausgesehen – als wäre ich ein kleines Kind, das sie davor bewahren musste, irgendeine Dummheit zu machen. Pass auf dich auf. Wirkte ich denn tatsächlich so mitgenommen? So zerbrechlich?

*****

Ich sah aus dem Fenster.

Vor meinen Augen verschwamm die Welt da draußen zu einem unscharfen Aquarell aus wirbelnden Farben. Wenn ich die Lider ein wenig verengte, konnte ich die Gischt spritzen sehen, das tiefblaue Meer, das krachend gegen die kreidebleichen Felsen schlug. Manchmal träumte ich, ich wäre wieder dort, würde an den Klippen sitzen, die Füße in der Luft baumelnd und dem tosenden, schäumenden Lied des Meeres lauschen. Für einen kurzen Moment war alles wieder wie früher. Wenn ich tief atmete, konnte ich sogar das Salz riechen, den Wind auf meiner Haut spüren, der mein Haar zerzauste.

Dann schlich sich plötzlich ein anderes Bild in meinen Tagtraum. Der Brief brannte wie Feuer in meiner Hosentasche und vor meinen Augen verwandelten sich die Klippen in den modernen Gebäudekomplex meiner neuen Schule. Die spritzende Gischt erstarrte innerhalb von Sekunden zu einem betonierten Schulhof und als ich hinuntersah, traf mich ein Blick aus blauen Augen. Er stand mitten auf dem Hof, die Arme verschränkt und die Miene selbst aus dieser Entfernung noch fordernd, als wüsste er, dass ich den Brief noch immer nicht geöffnet hatte.

Ich schüttelte den Kopf und zwang mich, den Blick abzuwenden. Dennoch tasteten meine Finger in der Hosentasche nach dem kleinen Umschlag. Ich hatte nicht vorgehabt, ihn zu öffnen. Ehrlich gesagt, hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verbrennen. Immerhin konnte es mir egal sein, was darinstand. Ich hatte keine Zeit für irgendwelche Spielchen und außerdem …

„Evangeline?“

Als ich aufsah, traf mich Mr. Delanys vorwurfsvoller Blick.

„Was ist das?“, fragte er und deutete auf meinen Tisch. Meine Augen folgten seiner Hand, bis die Spitze seines Fingers auf meinen Block traf. Mein Stift lag nach wie vor quer über der unbeschriebenen Seite.

Verwirrt hob ich den Kopf. „Was …?“

Mr. Delany stemmte die Hände in die Hüften. „Du willst mir nicht erzählen, du könntest die Stoffwechselprozesse einer Zelle aus dem Gedächtnis herbeten, oder?“

„Ich …“ Hilflos zuckte ich die Schultern. „Nein.“

„Also, warum sehe ich keine Mitschriften?“

Verlegen schwieg ich. Hinter meinem Rücken hörte ich den Kurs murmeln und wispern. Mr. Delany beugte sich näher zu mir.

„Du bist keine schlechte Schülerin, Evangeline“, sagte er dann, „Ganz im Gegenteil. Ich denke, du könntest sogar einen Abschluss mit Bestnoten schaffen.“

„Aber …“

„Kein Aber.“ Mr. Delany deutete auf meinen leeren Block. „Ich erwarte, dass du zumindest in meinem Unterricht auch die Voraussetzungen dafür legst. Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du aus dem Fenster starrst …“

„Tut mir leid“, murmelte ich schnell, „Kommt nicht wieder vor.“

Er schüttelte bloß den Kopf. „Das will ich auch nicht hoffen. Und jetzt fang endlich damit an, das Schema abzuzeichnen. Ich brauche den Platz an der Tafel.“

Erst, als er mir wieder den Rücken zuwandte und sich zurück zur Tafel begab, wagte ich es, auszuatmen. Dann griff ich nach dem Stift und machte mich daran, das Schema in meinen Block zu skizzieren, während ich mir schwor, noch heute Abend diesen Brief zu verbrennen.

*****

Ich lauschte meinen eigenen Atemzügen. Im Haus war schon vor Stunden Ruhe eingekehrt. Das Display meines Smartphones tauchte den Raum in unheimliches Licht. Ein Uhr.

Entschlossen warf ich die Decke zurück und setzte mich auf. Dann öffnete ich die Nachttischschublade und holte den kleinen Umschlag und ein Feuerzeug hervor, das ich aus einer der Küchenschubladen entwendet hatte. Ein letztes Mal drehte ich das Papier zwischen den Fingern.

Genug. Seit anderthalb Tagen trug ich diesen bescheuerten Umschlag nun schon mit mir herum wie eine tickende Bombe. Es war geradezu lächerlich, vor allem, weil ich mich nach wie vor weigerte, ihn zu öffnen. Meine Finger kribbelten und ein Teil von mir hätte das Papier am liebsten in Fetzen zerrissen, um herauszufinden, was das alles sollte, doch meine Vernunft erinnerte mich auch dieses Mal daran, dass ich keine Hand an die verklebte Lasche legen sollte.

Stattdessen hob ich das Feuerzeug. Je weniger ich wusste, desto einfacher wäre es, diese Sache zu vergessen. Mit einem leisen Klicken erwachte die Flamme zum Leben. Langsam hielt ich den Umschlag über das züngelnde Feuer.

„Nicht.” Ich fuhr auf und unterdrückte einen Schrei. Das Feuerzeug rutschte mir aus der Hand, während ich instinktiv ans andere Ende des Betts hechtete. Meinen Rücken gegen die Wand gepresst starrte ich den Jungen an. Kein Zweifel. Sein Haar strahlte selbst im Schein meiner Handytaschenlampe noch wie Flachs und die blauen Augen verfolgten mich bis in meine Tagträume.

„Was willst du?” Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, waren meine Eltern, die um ein Uhr nachts einen fremden Kerl in meinem Zimmer fanden. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht erklären konnte, wer er war oder wie er hier hereingekommen war.

„Lies den Brief.” Seine Stimme war entschieden und sein Blick ließ nicht für eine Sekunde von mir ab.

„Ich werde ganz sicher nicht tun, was – ”

„Lies. Den Brief.” Er trat einen Schritt näher und ich presste mich fester gegen die Wand.

„Wer bist du?” Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und ich verfluchte mich selbst dafür, dass ich so wenig Selbstbeherrschung aufbrachte. Den Jungen schien es wenig zu interessieren. Anstelle einer Antwort deutete er auf das kleine Stück Papier in meiner Hand. „Lies es.”

Dann wandte er mir den Rücken zu und verschwand. Wortwörtlich.

Ungläubig starrte ich auf die Stelle, an der er noch Augenblicke zuvor gestanden hatte. Nichts. Als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich mich langsam an die Bettkante schob. Lange Schatten durchzogen mein Zimmer und die Bäume vor meinem Fenster ächzten im Wind. Vorsichtig schlüpfte ich in meine Schlappen und stand auf. Noch bevor ich den Lichtschalter erreicht hatte, wusste ich, dass er nicht mehr da war. Die Präsenz anderer, die man unterbewusst immer spürte, war verschwunden. Der Blick durch mein hell erleuchtetes Zimmer bestätigte das Gefühl – ich war allein.

Dennoch streifte ich durch den Raum, überprüfte meinen Schrank und sah unter dem Schreibtisch nach, bis ich schließlich das Licht wieder ausschaltete und ans Fenster trat. Auch draußen war keine Spur von dem seltsamen Jungen zu sehen. Der Garten lag still in der Kälte der kanadischen Nächte, nur die Zedern wiegten sich in der Brise. Ich verharrte eine Weile, die Nase gegen das kühle Glas gepresst, bis meine Gedanken sich beruhigten.

Es war völlig unmöglich, dass dieser Junge tatsächlich hier gewesen war. Niemand konnte einfach so auftauchen und wieder verschwinden, ohne auch nur den Hauch einer Spur zu hinterlassen. Ich musste halluziniert haben. Gut möglich, dass ich mir in all der Müdigkeit nur etwas eingebildet hatte. Ich seufzte und war bereits dabei, zurück in mein Bett zu kriechen, als mein Blick auf den Brief in meiner Hand fiel. Ich zögerte noch einen Moment, doch die Neugier war überwältigend. Mit einem flauen Gefühl im Magen zerriss ich den Umschlag und faltete den Zettel auseinander. Die wenigen Worte, die in säuberlicher Handschrift das weiße Papier bedeckten, warfen jedoch mehr Fragen auf, als sie beantworteten.

Range Road 35.

Überquere das Feld auf der linken Seite.

Folge dem Weg bis zum Ende.

Dort wirst du Antworten erhalten.

Komm in zwei Tagen. 4 Uhr. Allein.

Frustriert knüllte ich den Zettel zusammen. Ich würde ganz sicher nicht den Anweisungen einer Halluzination folgen. Ich hätte den blöden Brief verbrennen sollen, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte. Aber jetzt war es zu spät. Selbst Feuer würde die Worte nicht aus meinen Gedanken treiben können. Wütend stopfte ich den Papierball in die unterste Ecke meines Mülleimers, bevor ich zurück unter die Decke kroch und mir schwor, nie wieder über die Halluzination oder den Brief nachzudenken.

Doch die Stimme des Zweifels sang unbeeindruckt weiter.

Eine Halluzination konnte keine Briefe schreiben. Ein fremder Junge konnte meinen Namen nicht kennen. Kein normaler Mensch konnte sich in Luft auflösen, wann immer es ihm gefiel.

Stöhnend wälzte ich mich auf die andere Seite. Ich wollte nichts weiter, als dass es ein Ende hatte. Wer immer dieser Kerl auch war, ich wollte ihn nie wiedersehen. Ich wollte, dass er mich in Ruhe ließ – egal, ob er nun eine Ausgeburt meiner Fantasie war oder nicht.

Doch meine verfluchte Neugier, die mich schon dazu getrieben hatte, den Brief zu lesen, blieb auch jetzt nicht still. Ich wollte wissen, wer dieser Junge war. Warum er Dinge konnte, die jeder Vernunft widersprachen. Ich wollte Antworten – und dann wollte ich ihm sagen, dass er mich allein lassen sollte. Dass ich ihn kein weiteres Mal irgendwo am Straßenrand sehen wollte – ganz zu schweigen davon, dass er einfach nachts in meinem Zimmer erschien. Nein, damit war er zu weit gegangen.

Was immer diese Sache war, ich würde sie beenden.

*****

Hier war ich also. Die Wipfel der Bäume bewegten sich im Wind, während sie ein schauriges Rauschen von sich gaben. Holz knackte und ab und zu durchdrang der schrille Ruf eines Vogels die Stille. Jedes dieser Geräusche ließ mich zusammenzucken, einen Herzschlag lang den Atem anhalten und mich umsehen. Doch egal, wie oft mein Blick durch die Umgebung schweifte, ich blieb allein zwischen den dunklen Stämmen und Kronen, die über meinem Kopf zusammenwuchsen und den Himmel verdunkelten. Dieser Ort war so verlassen, dass es einem Angst bereiten konnte.

Langsam begann ich mich zu fragen, warum ich überhaupt gekommen war.

Vielleicht war es mir gestern Nacht noch wie eine gute Idee erschienen, die Sache zu beenden, doch mittlerweile war ich nicht mehr so sicher.

Als ich daheim mein Fahrrad aus unserer vollgestellten Garage befreit hatte, hatte ich ihn ein weiteres Mal gesehen. Er hatte auf der anderen Straßenseite am Zaun gelehnt und mich beobachtet, fast so, als wolle er sicherstellen, dass ich den Anweisungen auf dem Zettel folgte. Seitdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich mich in seine Kontrolle begab. Dass ich mich selbst zum Teil eines Plans gemacht hatte, den ich nicht durchblickte

Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste ja nicht einmal, wer er war – ganz zu schweigen davon, was er mit mir vorhatte. Und je länger ich hier stand und wartete, desto mehr machte ich mich zur Zielscheibe – oder etwa nicht?

Erneut warf ich einen Blick auf mein Smartphone. Halb fünf. Ich wartete bereits seit fast einer Stunde und noch immer keine Spur von ihm. Das flaue Gefühl in meinem Magen drängte mich, zu gehen. Was immer all das zu bedeuten hatte, der Junge würde nicht mehr auftauchen. Das hier würde zu nichts mehr führen.

Ein letztes Mal sah ich mich um, ließ meinen Blick über die gesamte Lichtung schweifen. Ich war noch immer allein zwischen den hohen Stämmen. In einem plötzlichen Moment der Wut zerknüllte ich den Brief in meiner Faust.

„Verdammter Dreck“, fluchte ich und warf ihn in den Wald. Dann stapfte ich zurück zu meinem Fahrrad, das an einem der Stämme am Wegesrand lehnte, während mein Fluch noch immer zwischen den Wipfeln der Bäume hallte.

Einige Meter, bevor ich mein Rad erreichte, traf mich der erste Tropfen. Skeptisch wandte ich den Blick zum Himmel. Weitere nasse Perlen benetzen mein Gesicht.

„Na klasse“, schimpfte ich und holte das Rad, „Das hat mir ja gerade noch gefehlt.“

Während ich das Rad den schlammigen Waldweg entlang schob, frischte der Wind merklich auf und aus dem anfänglichen Nieseln wurde ein ausgewachsener Regenguss. Meine dünne Jacke hielt nur einen Bruchteil der Nässe ab, sodass ich mich einmal mehr beeilte, den Wald zu verlassen und nach Hause zu kommen, bevor das Gewitter richtig begann. Der Himmel hatte mittlerweile ein dreckiges Graublau angenommen und Wolken türmten sich über dem Feld am Horizont, als der Weg endlich wieder befahrbar wurde. In der Ferne grollte leise der Donner, während der Schotter unter meinen Rädern spritzte.

Gerade so kriegte ich die Kurve und näherte mich auf der Range Road den ersten Häusern. Es mussten noch anderthalb Kilometer sein, vielleicht auch zwei. Von Weitem erkannte ich das Licht in den Fenstern, irgendwo bellte ein Hund und Schafe blökten. Der Wind frischte auf und riss an meinem offenen Haar, an meiner Jacke. Die dicken Tropfen klatschten mir mitten ins Gesicht, durchweichten meine Jeans innerhalb von Sekunden. Vielleicht würde ich doch irgendwo anhalten müssen, bis das Gewitter vorbei war. Suchend sah ich mich um und entdeckte tatsächlich in einigen hundert Metern Entfernung einen alten Schuppen, etwas abseits auf dem Feld. Wenn ich noch bis dorthin … Eine starke Böe preschte seitlich gegen mein Rad und ich musste alle Kraft aufwenden, damit ich nicht von der Straße abkam. Mein Haar hing in nassen Strähnen in meinen Augen und meine Oberschenkel brannten vor Anstrengung. Ein markerschütterndes Krachen ließ mich zusammenzucken. Das Gewitter kam viel zu schnell näher. Wie konnte … Als ich mich umdrehte, schnappte ich nach Luft. „Heilige …!“

Unter den schwarzen Wolkenbergen bewegte sich etwas auf mich zu. Ich fuhr herum und krallte die Hände noch fester um den Lenker. Mein Atem ging stoßweise, mein Herz schlug mit einem Mal doppelt so schnell. Im Blinzeln zwischen den Tropfen sah ich nur die menschenleere Straße, zu beiden Seiten Felder, kein Baum und kein Strauch, nichts.

„Oh Scheiße! Scheiße, scheiße, scheiße.“ Nach Luft schnappend stieß ich mehr Flüche aus, als in allen siebzehn Jahren meines Lebens zusammen. Als ob das etwas ändern würde. Der Wind riss an mir, heulte und fauchte in meinen Ohren, prallte gegen das Rad und brachte mich zum Schlingern. Ich trat noch heftiger in die Pedale, schaltete in den höchsten Gang, begann, vor Anstrengung zu keuchen. Ich wusste, er war irgendwo hinter mir. Ein wirbelnder, dunkler Trichter aus Wind und Staub und Kraft. Ich trieb mich weiter an. Schneller. Bloß nicht umsehen. Da vorn war die Scheune. Ein kleiner schwarzer Punkt auf dem Feld. Nur noch ein paar hundert Meter. Ein paar Minuten. Meine Muskeln schmerzten, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Aber ich durfte nicht anhalten. Nicht jetzt. Regentropfen hagelten wie Geschosse auf mich nieder, Grashalme schnitten über meine Haut. Ein Blick nach vorn. Noch zweihundert Meter. Der Zweig kam wie aus dem Nichts. Ich hörte nur noch ein Klappern, ein Knacken, als das Holz brach und das Rad mit einem Schlag zum Stehen kam. Ich spürte, wie das Hinterrad in die Luft stieg und hörte mich schreien, streckte die Arme instinktiv nach vorn, verlor den Halt. Mein Körper prallte auf den Asphalt. Blieb liegen. Scharfer Schmerz durchzuckte mich und ich riss die Augen auf, drehte den Kopf, sah mich um, sah ihn, sah die Scheune, das Tor … Mit aller Kraft stand ich auf. Adrenalin jagte durch meine Adern wie knisternder, blitzender Strom und ich begann zu laufen. Meine Füße sanken in den Schlamm, klebten daran fest, rissen sich schmatzend wieder los und ich wandte den Blick nicht von der Scheune. Noch einhundert Meter, fünfzig. Dann verlor ich den Halt, stolperte, strauchelte, bis meine Beine wegknickten. Ich hörte ihn aufheulen, so dicht hinter mir, dass ich seinen kalten Atem spürte. Panik erfasste jede Faser meines Körpers. Um Hilfe schreiend sprintete ich weiter durch den Schlamm. Schneller, schneller. Noch zwanzig Meter. Noch zehn. Ich würde es schaffen, ich konnte … Ein Schrei, ein Donnerschlag.

Er packte meinen Fuß, mein Bein, meine Hüfte.

Und riss mich an sich. Mit sich. Nach oben.

Ich schluckte Staub und Gras und Dreck und hustete und bekam keine Luft und konnte nicht schreien. Überall war Wind, war Sturm, war Luft und oben und unten verschwand.

Ein Blinzeln und ich sah die Scheune, das Tor, den Spalt, der sich entfernte. Eine Sekunde und etwas Hartes knallte gegen meinen Kopf.

Ein Schrei entrang sich meiner trockenen Kehle, ein Krächzen. Vor meinen Augen drehte sich alles. Für einen winzigen Moment erkannte ich etwas.

Ein Tier, einen Wolf, einen heulenden Wolf, den Kopf zum Himmel erhoben. Schneidend gelb traf mich der Blick aus seinen Augen. Eine Sekunde, ein Blinzeln.

Dann wurde alles schwarz.

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