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Mittwoch, 4. Dezember

Geschenkpapier

Buchhändler Johannes Fabricius knallte den Hörer auf. Er war verärgert. Am dritten Adventswochenende sollte eine adventliche Landpartie auf der Dornumer Westerburg stattfinden. Nach dem großen Erfolg der Landpartien auf Schloss Gödens wollte Mareke Meents-Grootekamp, die neue Besitzerin der Westerburg, diese Idee auch in Dornum umsetzen.

Leider, so hatte sie Fabricius mitgeteilt, war die Buchhandlung, die sie ursprünglich für das Event ausgesucht hatte, kurzfristig abgesprungen. Aber auf ein Buchangebot wollte Mareke Meents-Grootekamp bei ihrer Landpartie auf keinen Fall verzichten. »Bücher gehören doch irgendwie mit dazu. Ein bisschen was lesen, das ist doch auch was Schönes. Ein schönes Buch mit einem Glas Wein und ein bisschen Musik … Das ist doch Kultur, Herr Fabricius.«

Natürlich hatte Fabricius zugesagt. Er sah es zwar als Affront an, dass er als Fürstlicher Hofbuchhändler nicht als Erster gefragt worden war. Aber er wusste auch, dass er auf immer draußen wäre bei den Landpartien, wenn er jetzt nicht zugriff. Und er hatte ihr zusagen müssen, dass er am Sonnabend Lesungen organisieren würde.

Fabricius ärgerte sich über sich selbst und darüber, dass er in diesem Telefonat außer ›Ja‹, ›Das kriegen wir schon irgendwie hin‹ und ›Aber klar doch‹ kaum etwas gesagt hatte. Auch mit Ende vierzig war er in manchen Situationen nicht in der Lage, seine Meinung klar zu äußern und seine Interessen zu vertreten Stattdessen ließ er sich von Leuten wie Mareke Meents-Grootekamp unterbuttern. Es war nicht zu fassen!

»Herr Erdwiens ist gerade gekommen, er wartet oben auf Sie«, sagte Tanja, die Auszubildende, und störte seinen Gedankenkreisel.

Fabricius brummte und ging nach oben, in den Bereich der Buchhandlung, der wie eine große Bibliothek aussah. Mit vollgepackten Regalen und Bücherstapeln, die zum Stöbern, Suchen und Finden verführten, und mit Sesseln, die zum Sitzen und Lesen einluden – eben so, wie nach Fabricius’ Meinung eine richtige Buchhandlung sein sollte.

Aber er wusste auch, dass er zur Finanzierung dieser Traumbuchhandlung die untere Etage brauchte, in der Kochbücher, Reiseführer, Bestseller, Krimis und Bücher für Hobby und Garten in den üblichen Wandregalen präsentiert und verkauft wurden – in jeder Buchhandlung das ewig gleiche Angebot der ewig gleichen Titel aus der kleinen Auswahl der ewig gleichen Verlage. Im Unterschied zu einigen anderen Buchhandlungen verzichtete er allerdings darauf, zusätzlich Plüschtiere, Schreibwaren und Mitbringsel in sein Sortiment aufzunehmen.

»Herr Erdwiens, was kann ich für Sie tun?« Johannes Fabricius ging auf den älteren Herrn zu, der sich im Nu aus dem Sessel erhob, wie immer tadellos gekleidet im grauen Anzug mit Weste und leuchtend bunter, modischer Krawatte. Onno Erdwiens breitete die Arme aus, seine Wangen leuchteten wie rotbackige Äpfel, sein schlohweißes Haar und seine funkelnde Brille ließen ihn wie einen Weihnachtsmann aussehen.

Erdwiens’ Stimme donnerte durch den Laden. »Gerechtigkeit für Marenholz! Ich will nichts als Gerechtigkeit für Marenholz!«

Erdwiens schrieb, seitdem er als Leiter des Norder Gymnasiums pensioniert war, historische Romane über Ostfriesland, die sich mit gutem Erfolg in der Region verkauften. Er war belesen, talentiert und äußerst liebenswürdig. Im Gleichgewicht wurden diese guten Gaben durch sein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Öffentlichkeit und Anerkennung gehalten, sowie durch seine Unfähigkeit, in einem Gespräch, in dem es nicht um ihn oder seine Lieblingsthemen ging, länger als eine Minute zuzuhören.

»Herr Erdwiens, ich glaube, ich verstehe nicht ganz«, antwortete Fabricius irritiert.

»Das ist mein neues Buch: Gerechtigkeit für Marenholz! Ich habe einen Roman über den unglücklichen Geheimrat Marenholz geschrieben. Mit einem Justizmord hat ihn der Sohn von Gräfin Juliane beseitigen lassen. Und ich möchte das Buch nirgendwo anders vorstellen als hier bei Ihnen. Nun, was sagen Sie? Sagen Sie ›Ja‹, und Sie machen einen alten Schriftsteller glücklich!« Onno Erdwiens umfasste Fabricius’ Schultern. Sein Aftershave roch durchdringend.

Der Buchhändler hatte auf einmal eine Eingebung. »Herr Erdwiens, ich mache Ihnen noch ein viel besseres Angebot: In zehn Tagen ist die Landpartie auf der Dornumer Westerburg. Ich bin für die literarische Begleitung dieses Ereignisses zuständig und darf den Schriftsteller vorschlagen, der die Lesungen gestaltet. Ich möchte Sie vorschlagen.«

Onno Erdwiens drückte Johannes Fabricius an sich. »Johannes, von heute an sind wir Freunde! Jetzt kann es Weihnachten werden!«

Zucker

Gerrit Roolfs fuhr den Westlinteler Weg hoch. Er dachte darüber nach, wie lange es wohl dauern mochte, bis die Baulücke zwischen Norden und Norddeich geschlossen würde. Er nahm die Linkskurve in den Hollanderweg, fuhr noch ein Stück und hielt dann vor einem Einfamilienhaus.

Mit wenigen Schritten war er an der Tür. Er drückte auf den Klingelknopf und vergewisserte sich, dass ein Summton im Flur zu hören war. Er sah noch einmal auf die Namensliste, die Klaus Tjarksen ihm heute früh gefaxt hatte. Fünf Personen standen darauf, die den Geschäftspraktiken von Tammo Tjarksen zum Opfer gefallen waren oder zumindest erheblichen Schaden durch ihn erlitten hatten.

Zwei Namen hatte Roolfs schon abgehakt, weil einer der Genannten wegen einer Gallenoperation im Krankenhaus lag und der andere vor zwei Wochen in den Urlaub nach Tansania geflogen war.

Durch die Glasscheibe sah Roolfs, dass im dunklen Flur Licht eingeschaltet wurde, und gleich darauf hörte er, wie ein Schlüssel in das Türschloss gesteckt und nach einigen Versuchen erfolgreich umgedreht wurde.

Ein schlanker Mann um die sechzig stand in der Tür, unrasiert, mit fettigen, grauen Haaren. Er trug eine hellblaue Jeans und ein schmuddeliges, graues Sweatshirt.

Das ist also ein Opfer unseres geschäftstüchtigen Weihnachtsmannes, dachte Gerrit Roolfs. »Herr Ulrich Siemers?«, fragte er.

Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, der bin ich. Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

»Moin, Herr Siemers, ich bin Hauptkommissar Gerrit Roolfs. Wir ermitteln im Mordfall Tammo Tjarksen. Wir wissen, dass Sie Ihren Laden an ihn verloren haben. Ich habe ein paar Fragen an Sie.«

Wortlos trat Siemers beiseite und ließ den Hauptkommissar hereinkommen. Er schloss die Tür wieder ab und bat ihn in sein Wohnzimmer.

Gerrit Roolfs setzte sich in den großen Sessel. Die lederne Sitzgarnitur sah teuer aus, aber das Material war stumpf und fleckig geworden. Eine große, aufwändig gearbeitete Schrankwand aus Kirschholz beherrschte den Raum. Die Fächer waren mit Fotoalben, zerknautschten Taschenbüchern und Videokassetten vollgestopft. Auf der Fensterbank standen Plastikblumen.

Im Fernsehen lief gerade eine Talkshow. Als Thema wurde im Untertitel Dick und glücklich? eingeblendet. Ein ungeheuer dicker junger Mann ächzte die paar Stufen zum Moderator hoch und verkündete nach Luft jappend ins Mikrofon, dass er sich rundum gut fühlte. Siemers drehte den Ton ab und setzte sich auf die Couch.

Auf dem Tisch lagen aufgeschlagene Illustrierte und Rätselhefte. Die Kreuzworträtsel waren bis auf wenige freie Felder ausgefüllt. Daneben lagen Postkarten, die Siemers mit Lösungswörtern versehen und an die Redaktionen der Gewinnspiele adressiert hatte.

Siemers zog den Aschenbecher, der zu drei Vierteln mit Kippen gefüllt war, heran und begann sich eine Zigarette zu drehen. »Also schießen Sie los, Herr Hauptkommissar«, sagte er, leckte das Zigarettenpapier an und drehte die Zigarette fertig.

»Herr Siemers, was haben Sie in der Nacht von Freitag auf Sonnabend gemacht?«

Demonstrativ inhalierte Siemers den ersten Zug. Die Hand mit der Zigarette zitterte. »Nix Besonderes. Ich war hier zu Hause. Hab Fernsehen geguckt, Kreuzworträtsel gemacht, Illustrierte gelesen.« Er schenkte sich aus der Thermoskanne Kaffee in einen Becher mit Werbeaufdruck. »Wollen Sie auch einen, Herr Kommissar?«

»Kann das jemand bezeugen?«

Siemers stellte die Kanne wieder ab und häufte sich Zucker in den Becher. Dabei verstreute er mindestens die Hälfte auf den Tisch. »Nee, wer soll das denn können?«

»Wissen Sie was? Holen Sie mir auch ’ne Tasse, und dann erzählen Sie mir mal etwas über Tammo Tjarksen!« Während Siemers in der Küche nach einer sauberen Tasse suchte, verfolgte Roolfs für ein paar Momente, wie in der Talkshow ein magersüchtiges Mädchen interviewt wurde.

Weihnachtsmarmelade

»Tammo Tjarksen ist ein Dreckskerl. So einen Abgang hätte ich ihm zwar nicht gewünscht, aber irgendwie musste das mal so enden. Verstehen Sie das?«

»Nee, versteh ich nicht. Erklären Sie mir das mal näher«, antwortete Gerrit Roolfs und trank einen Schluck. Der lauwarme Kaffee schmeckte bitter und sauer. Er musste schon etliche Stunden in der Thermoskanne gestanden haben. Roolfs löffelte Zucker in seinen Kaffeebecher und füllte ihn bis zum Rand mit Kondensmilch auf.

»Ich hatte ein Geschäft in Greetsiel und eins in Norddeich«, erzählte Siemers. »Ostfriesische Spezialitäten, so etwas für die Urlauber. Auch viele Einheimische kauften das gern: Marmeladen aus Hagebutten und Sanddorn, Gebäck, hausgemachte Wurst und Grünkohl in Weckgläsern, Räucherfisch und all solche Sachen. Der Renner war meine ostfriesische Weihnachtsmarmelade mit Orangen, Äpfeln, Pflaumen. Dazu ein schönes Teearoma, ein guter Schuss Rum und eine Handvoll Weihnachtsgewürze. Das hab ich selber erfunden, und was da sonst noch reinkam, das weiß kein Mensch. Das hat auch Tammo Tjarksen nicht herausgekriegt.«

Ulrich Siemers grinste und drehte sich mit seinen gelbbraun gefärbten Fingern eine neue Zigarette. »Ich bin gelernter Koch und Konditor. Ich versteh mein Handwerk. Aber ich bin kein guter Geschäftsmann. Das machte immer meine Frau. Ich kümmerte mich um gute Ware. Die meisten Waren stellten wir selbst her. Mein Schwager machte den Norddeicher Laden, und ich war in Greetsiel. Es ging immer alles ums Geschäft. Das war unser Leben. Eines Tages hatte meine Frau die Schnauze voll und ging von mir weg. Dann gab es Krach mit meinem Schwager, und alles ging den Bach runter. Schlechtes Personal, Pech mit der Buchführungsfirma und zweimal nacheinander eine verregnete Sommersaison.«

Er sah zum Fernseher, wo eine dicke Jugendliche gerade von einem athletischen jungen Mann beschimpft wurde.

»Und dann kam Tjarksen?«, fragte Roolfs.

»Dann kam Tjarksen und räumte ab«, bestätigte Siemers und nickte. »Die Bank wollte mir keinen Kredit mehr geben, und Tjarksen bot mir einen Vertrag an. Wir sollten jetzt Partner werden, und er wollte mich ganz groß rausbringen. Ich war damals ziemlich unten: Alkohol und so. Ich hab das unterschrieben, und auf einmal war ich in meinem eigenen Laden nur noch ein Angestellter. Und als ich die Trinkerei nicht in den Griff bekam, war ich gefeuert. Gefeuert aus meinem eigenen Laden!« Ulrich Siemers’ Stimme überschlug sich. Er trank einen Schluck Kaffee. »Entschuldigen Sie. Wie war noch mal Ihr Name? Ich hab das vorhin nicht genau verstanden.«

»Roolfs.«

»Herr Roolfs, ich bin inzwischen trocken. Dieses Haus hier habe ich in den guten Zeiten gekauft. Es ist alles abbezahlt. Und als Abfindung für die beiden Geschäfte bekomme ich aus dem Vertrag mit Tjarksen jeden Monat Geld, so eine Art Rente. Es ist nicht viel, aber es langt für mich.«

»Sie haben Tjarksen damals Drohbriefe geschrieben«, stellte Gerrit Roolfs fest. »Wir haben sie in Tjarksens Schreibtisch gefunden.«

»Das stimmt. Für mehr reichte mein Mut damals nicht. Aber das ist lange her. Fast acht Jahre. Jetzt ist das alles nicht mehr zu ändern. Was soll ich davon haben, dass er jetzt tot ist?«

»Rache?«

»Ist was für Krimis. Aber nicht für mich. Ich habe mich damit abgefunden. Darf ich den Brief noch mal sehen?«

»Natürlich, ich habe alle dabei.«

»Wieso alle? Ich habe nur einen geschrieben.«

Weihnachtsgeschäft

»Ehrlich gesagt, das kommt mir alles sehr ungelegen.« Johannes Fabricius wuchtete den Bücherkarton auf seinen Schreibtisch. »Das Weihnachtsgeschäft ist für den Buchhändler genauso lebenswichtig wie für den Weihnachtsmann.« Aus den Lautsprechern eröffneten Trompeten und Pauken den Eingangssatz des Weihnachtsoratoriums von Bach in der Gardiner-Einspielung.

»Das ist in diesem Fall wohl ein unpassender Vergleich«, bemerkte Gerrit Roolfs und setzte den anderen Bücherkarton ebenfalls auf dem Schreibtisch ab.

»Ich weiß nicht, wie ich euch helfen soll«, sagte Fabricius. »Außerdem will ich ein paar Tage mit Beverly nach London. Und dann habe ich auch noch die letzten Proben für unser Konzert.«

»Ich denke, das Weihnachtsgeschäft ist lebenswichtig?«, provozierte Gerrit.

»Das Geschäft schließt ja auch nicht. Die kommen ein paar Tage ohne mich zurecht. Vielleicht sogar besser als mit mir. Also, in Ordnung. Wenn ich etwas Konkretes tun kann, gib mir Bescheid.«

»Weiß Beverlys Mann nichts von euch?« Gerrit spielte darauf an, dass sein Freund die Frau des bekannten ostfriesischen Geschäftsmannes bei den Ermittlungen im letzten Jahr kennen gelernt hatte und dass die beiden seitdem zwar nicht gerade eine heiße Affäre hatten, aber hin und wieder ein paar Tage gemeinsam verreisten.

»Nicht direkt. Er weiß, dass sie jemanden trifft, so wie er auch seine nebenehelichen Arrangements hat. Aber er weiß nicht, dass zwischen uns noch etwas ist. Dass würde ihn auch belasten, und belasten wollen wir ihn ja nicht. Van Westen denkt, dass Beverly ein paar Kuscheltage mit ihrem Tennislehrer in London verbringt.«

»Und mit wem verbringt der Tennislehrer jetzt seine Kuscheltage?«, wollte Gerrit wissen.

»Mit Beverlys Bruder. So, und nun muss ich mich wieder um meine Bücher kümmern.«

Erinnerungen

In Gedanken ging er den Plan für heute Abend noch einmal durch. Leiser Zweifel überkam ihn. War es richtig, was er sich zu tun vorgenommen hatte? Auf einmal sah er die Szene wieder ganz deutlich vor sich.

Plötzlich spürte der Junge einen harten Griff in seinem Nacken. Der heftige Schmerz erschreckte ihn so, dass er etwas von der Milch verschüttete, mit der er den kleinen Hund füttern wollte.

»Wem soll ich das Genick umdrehen? Dir oder deinem Köter?«

Der kleine Hund leckte ihm mit seiner weichen Zunge die Milchtropfen von den Fingern.

Die eiserne Hand packte noch stärker zu. »Hörst du nicht, wenn dein Vater mit dir redet?«

»Hör auf, das tut weh! Lass mich los«, schluchzte er.

Mit einem Mal ließ die Hand los und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken.

Gerade, als der Junge dem Welpen die Schüssel Milch zuschob, bückte sich der Mann blitzschnell, packte den Hund, drehte ihm das Genick um und schleuderte das kleine Tier ins Gebüsch.

Als der Junge den Hund am Abend im Garten begraben hatte, stand plötzlich die Mutter neben ihm.

»Das hast du schön gemacht, mein Junge. Am besten wir sagen ihm gar nichts davon, sonst regt er sich wieder auf.« Mit dem Fuß zertrat sie den kleinen Erdhügel, den der Junge glattgeklopft hatte. Sie strich dem Jungen über die Haare und sagte: »Sei nicht traurig. Das Beste ist, wenn er das hier gar nicht mitbekommt. Wir wissen ja, wo dein kleiner Hund ist. Das ist unser Geheimnis.«

Auch nach über fünfzig Jahren wusste er noch genau, an welcher Stelle im Garten er damals den kleinen Hund begraben hatte. Und er spürte die Hand in seinem Nacken. Auf einmal war es ihm egal, ob es richtig war, was er für heute Abend plante. Es war auf jeden Fall das, was er tun wollte.

Verknobelung

Theo Seifert hatte Glück an diesem Abend. Es war eine alte Tradition, dass am Vorabend des Nikolaustages in ostfriesischen Gaststätten mit einem kleinen Einsatz um Preise wie Torten, Kuchen, Geflügel, Schinken, Würste und andere Lebensmittel gewürfelt wurde. »Verknobeln« hieß dieser Brauch.

Seifert hatte wie jedes Jahr an der großen Nikolaus-Verknobelung in der Gaststätte Norder Wappen teilgenommen. Mit einem Schinken, zwei großen Mettwürsten und einem Hasenbraten in seiner vollgepackten Aktentasche machte er sich auf den Nachhauseweg.

Die frostkalte Luft schlug ihm wie eine Ohrfeige ins Gesicht, als er aus der überhitzten und verräucherten Gaststätte nach draußen kam. Er war nicht mehr daran gewöhnt, so viel zu trinken. Er blieb einen Moment vor der Tür stehen, hörte das Stimmengewirr, das Volksmusikgedudel und dazwischen die Zurufe und Kommentare der Leute zum Würfelspiel.

Er nickte sich selbst ermunternd zu und ging los. Von hier aus war es höchstens eine Viertelstunde zu Fuß nach Haus. Vom Glockenturm der Ludgerikirche schlug es elfmal.

Das Licht wurde gerade in diesem Moment abgeschaltet. Er ging weiter, stolperte und ließ seine Aktentasche fallen. War seine Glückssträhne zu Ende?

Seifert hob die Tasche auf und dachte daran, wie lang es her war, dass er mit seiner Familie Weihnachten gefeiert hatte. Wie mochte es seiner Frau gehen? Seine beiden Töchter würden zu Weihnachten sicher wieder nur eine Ansichtskarte aus dem Ski-Urlaub schreiben.

Er spürte das Gewicht der Tasche. Immerhin war für einen reich gedeckten Tisch an den Festtagen gesorgt, tröstete er sich und setzte seinen Weg fort. Er hörte schlurfende Schritte. Folgte ihm jemand? Als er sich umdrehte, sah er jemanden in einer Lohne verschwinden.

Nach ein paar Minuten kam Seifert in die Straße, in der er und seine Nachbarn vor etwa vierzig Jahren fast gleichzeitig ihre Häuser gebaut hatten. Eine nette Nachbarschaft, bis ihr hier eingezogen seid, dachte er, als er am Haus der Fischers vorbeiging. Alles war dort dunkel, scheinbar war niemand zu Hause.

Theo Seifert öffnete seine Gartenpforte und suchte dann in allen Taschen nach seinem Hausschlüssel, als er hörte, wie Schritte näher kamen. Er drehte sich um. »Ach, du bist es. Ich habe dich fast nicht erkannt. Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Was machst du denn um diese Zeit hier? Weißt du was, ich mach uns erst einmal einen ordentlichen Grog gegen die Kälte. Halt mal die Tasche, ich schließe uns auf …«

Donnerstag, 5. Dezember

Post

Die Tür zu Theda van Immens Büro stand offen und weder sie noch Kriminalassistent Siebels, mit dem sie das Zimmer teilte, waren da. Kommissar Christian Gronewold vergewisserte sich, dass ihn niemand sah, und ging hinein.

Auf van Immens Schreibtisch lag oben auf dem Aktenstapel ein Brief mit dem Absenderstempel der Polizeibehörde des Fürstlichen Innenministeriums. Gronewold steckte den Brief ein und verließ den Raum.

Sein Kollege lag mit einer schweren Grippe im Bett, so dass er sein Büro schon seit Tagen für sich allein hatte. Er setzte sich an den Schreibtisch und öffnete den Brief. Enttäuscht las er, dass Theda van Immen nur erinnert wurde, ihre neue Bankverbindung anzugeben, damit man ihr Gehalt überweisen könne.

Gronewold schaltete seinen Aktenvernichter ein und ließ zuerst den Brief und dann den Umschlag in das Schneidewerk gleiten. Er sah aus dem Fenster nach draußen.

Auf dem Torfmarkt entließen die Busse gerade die Schüle­rinnen und Schüler, die in gut gelaunter Müdigkeit zur Berufsschule oder zum Gymnasium gingen. Er beobachtete, wie eine Schülerin von einer anderen in die Hecke geschubst wurde. Seit seiner Schulzeit hatte sich offenbar nicht viel geändert.

Da sah er plötzlich, dass noch zwei andere Schülerinnen dazukamen und ein paarmal mit den Füßen nach dem Mädchen in der Hecke traten.

Christian Gronewold schaltete den Aktenvernichter aus.

Nikolaus

Theda van Immen bog langsam in das Gewerbegebiet ab. Es hatte wieder gefroren in der Nacht, und die Straßen waren glatt. Nur auf der Norddeicher Straße war gestreut worden. Sie parkte vor der großen Halle, in der ein Bus stand, und stieg aus ihrem gut beheizten Auto.

Ein Mann kletterte aus dem Bus und hielt ihr den Papierkorb hin. Er war fast voll mit Alkopop-Flaschen, Zigarettenschachteln und Papier von Süßigkeiten. »Hier, gucken Sie mal. Das ist das Ergebnis einer Schulbustour. Ich finde, die Lehrer müssten etwas dagegen tun. Die sind doch jeden Tag mit den Kids zusammen.«

»Ich finde, die Busfahrer müssten etwas dagegen tun. Die sind doch auch jeden Tag mit den Kids zusammen.«

»Und wer soll dann den Bus fahren?«

»Und wer soll den Unterricht geben, während die Lehrer Sozial­arbeit machen? Vielleicht können ja die Eltern der Kids den Bus und die Schule übernehmen, und Sie machen deren Job.« Theda van Immen lächelte den Fahrer freundlich an.

Der Busfahrer schaute sie einem Moment verdutzt an und grinste dann. »Vielleicht haben Sie gar nicht so unrecht. Bei den Kegelclubleuten, mit denen ich im Sauerland war, sind einige dabei, die drücken ihren Kindern hundert Euro in die Hand, und dann verschwinden sie für ein paar Tage auf Sauftour und lassen ihren Nachwuchs allein. Das kann’s doch nicht sein. Sind Sie die Kommissarin?«

»Theda van Immen«, stellte sie sich vor. »Sind Sie der Taxifahrer, der Tammo Tjarksen fahren sollte?«

»Ja, ich sollte Tammo von der Weihnachtsfeier abholen. Aber als ich kam, war er schon weg. Wir fahren immer für ihn, und das gibt es normalerweise nicht bei ihm, dass er einfach einen anderen Wagen nimmt. Meistens fahre ich ihn. ›Der Chef persönlich‹ – Sie wissen schon!«

»Ist Ihnen denn etwas aufgefallen, als Sie gewartet haben?«

»Nein. Zwei junge Frauen kamen aus der Gaststätte und wollten, dass ich sie nach Hause fahre. Ich habe dann einen anderen Fahrer angefunkt, und der war zehn Minuten später da und hat sie mitgenommen. Und dann bin ich reingegangen, um Tjarksen abzuholen, aber mir wurde gesagt, er sei schon weg.«

Theda van Immen überlegte einen Moment. »Sie sagten, dass Sie ihn öfter fahren. War das so üblich, dass er Sie anrief und dann wartete, bis Sie hereinkamen?«

»Nö, der stand sonst immer draußen und wartete. Der wollte immer noch einen Moment alleine an der frischen Luft sein.«

»Haben Sie etwas bemerkt, als Sie mit dem Wagen ankamen?«

Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Tut mir leid, aber da fällt mir absolut nichts ein.«

»Vielen Dank, dass Sie einen Moment Zeit hatten. Tschüss.« Theda van Immen drehte sich um und klimperte mit ihren Autoschlüsseln.

»Warten Sie. Eine Sache fällt mir da doch ein. Aber das ist vielleicht nicht so wichtig.«

Theda van Immen schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Im Fernsehen sagt die Kommissarin an dieser Stelle immer: Was wichtig ist oder nicht, das müssen Sie schon uns entscheiden lassen.«

Der Taxifahrer schnäuzte sich kraftvoll die Nase. »Also, als ich kam, stieg gerade jemand, der als Weihnachtsmann verkleidet war, in ein Taxi und fuhr ab. Mehr konnte ich nicht erkennen.«

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956,63 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
303 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839264485
Издатель:
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