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Schneeweiß

Wolfgang Hinrichsen, Tjarksens Prokurist, wohnte in einer Siedlung, die in den neunziger Jahren entstanden war. Auf den knapp bemessenen Grundstücken nahmen sich die Häuser aus, als wären sie etwas zu groß gewachsen und würden mit den Nachbarhäusern wetteifern, wer die aufwändigsten Wintergärten, die originellsten Erker und die stilvollsten Wetterfahnen hatte.

Gerrit Roolfs parkte sein Auto bei einem Spielplatz. Zwei Männer saßen auf der Bank. Ihre mit Zigarettenqualm vermischten Atemwolken stiegen wie Sprechblasen über ihnen auf. Sie tranken Bier aus Dosen und sahen den Kindern beim Spielen zu.

In Hinrichsens Einfahrt stand ein schneeweißer Mercedes mit dem Hufeisen am Kühlergrill, das genauso wenig fehlen durfte wie das metallene Wandbild vom pflügenden Bauern neben dem Hauseingang und die bemalte Dachpfanne vor der Haustür.

»Moin, Herr Roolfs!« Ein großer, schlanker Mann im Jogging­anzug stand in der Durchgangstür zwischen Haus und Garage. »Kommen Sie man hier lang. Ich habe hier hinten mein kleines Reich.«

Gerrit Roolfs folgte Hinrichsen in ein Holzhaus im Garten und setzte sich in einen der drei Korbsessel.

»Ich weiß genau, was Sie mich fragen wollen«, sagte Hinrichsen. »Wie ich das im Winter in so einem Holzhaus aushalte und ob ich Tammo Tjarksen auf dem Gewissen habe. Die Antworten lauten: Das Holzhaus hat eine super Isolierung, viel besser als die meisten richtigen Häuser. Da muss ich den Garten nicht gleich mitheizen. Und Tammo Tjarksen habe ich nicht ermordet. Ich profitiere auch nicht von seinem Tod. Ich war bei Tammo der zweite Mann, und bei Klausi und Renate werde ich es auch bleiben. Ich bin der geborene zweite Mann. Auf dieser Position spiele ich am besten. Tasse Kaffee?« Hinrichsen schwenkte eine Thermoskanne.

»Ja, mit viel Milch bitte«, entgegnete Roolfs. »Sie werden jetzt eine deutlich stärkere Position in der Firma haben, als Einziger mit Durchblick.«

»Ach, der Klausi, der braucht vielleicht noch ein paar Jahre, und dann wird er das besser machen als sein Vater. Wir werden gut miteinander auskommen, so wie ich mit Tammo eigentlich auch ganz gut klargekommen bin. In den letzten Jahren habe ich sowieso die wichtigen Entscheidungen getroffen, Tammo hat vor allem Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Aber damit hat er dem Unternehmen nicht nur Vorteile gebracht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Und mit Renate Tjarksen kommen Sie auch gut aus?«

Wolfgang Hinrichsen lachte. »Besonders gut, Herr Hauptkommissar. Renate und ich sind uns nicht gerade unsympathisch. Ab und zu fahren wir auch mal ein Wochenende weg, aber das hat Tammo gewusst.«

»Und nun steht er Ihnen nicht mehr im Weg«, provozierte Roolfs, dem Hinrichsens selbstgefällige Art langsam auf die Nerven ging.

»Das tat er auch vorher nicht. Es lief alles super. Es war so eine Art agreement unter guten Freunden.« Hinrichsen war anscheinend nicht aus der Form zu bringen.

Gerrit Roolfs hatte sich angewöhnt, besonders wachsam zu sein, wenn menschliche Beziehungen mit dem Wort ›super‹ beschrieben wurden. »Was heißt ›super‹, Herr Hinrichsen?«

Hinrichsen schmunzelt vielsagend. »Wir verstanden uns ganz wunderbar.«

Richtig nett

Plötzlich packte Gerrit Roolfs die Wut. »Sagt mal, für wie blöd haltet ihr mich eigentlich?«, brüllte er Hinrichsen an. »Der Chef macht mit seiner Angestellten rum, die fast fünfzig Jahre jünger als er ist, seine Frau fährt mit dem Geschäftsführer in den Urlaub, sein Sohn wohnt mit über vierzig Jahren noch bei Mama und Papa. Der andere Sohn hat den Kontakt zur Familie abgebrochen, weil er sich als erwachsener Mann nicht mehr von Papi durchprügeln lässt. Und alles ist super und harmonisch. Alle sind wie die nette Familie von nebenan aus der Vorabendserie. Und zum ersten Advent wird Mister Christmas über den Haufen geschossen und auf dem Marktplatz aufgehängt. Superharmonisch mit Weihnachtsbeleuchtung. Ich will jetzt wissen, was hier los ist!«

Wolfgang Hinrichsen wurde verlegen. »Aber das ist doch normal, Herr Hauptkommissar. Es funktionierte irgendwie.«

»Nein! Es funktionierte eben nicht, verdammt noch mal!« Gerrit Roolfs schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Tammo Tjarksen wurde ermordet. Er wurde nicht ausgeraubt. Irgendjemand hat ihn dermaßen gehasst, dass er ihn nicht nur ermordet, sondern ihn in seinem Tod auch noch lächerlich gemacht hat. Wer?«

Wie versteinert saß Hinrichsen in seinem Korbsessel. Seine Hände umklammerten die Lehnen. »Ich weiß es wirklich nicht. Mit Renate hatte er eine Vereinbarung. Die Vereinbarung schloss mich ein. Tammo war viel zu sehr von sich überzeugt, als dass er mich als Konkurrenz gesehen hätte. Mit Nadine hat er geflirtet, aber mehr lief da sicher nicht. Sie hat einen festen Freund. Und Klaus würde so etwas nie tun. Es ist ja sein Vater.«

»Das ist ja so richtig nett.« Gerrit Roolfs konnte kaum an sich halten. »Können Sie mich nicht adoptieren? Ich möchte auch gern zu einer so harmonischen Familie gehören. Wir wissen, dass Tjarksen Drohbriefe erhalten hat. Was können Sie uns dazu sagen?«

Hinrichsen schüttelte den Kopf. »Ich habe absolut keine Ahnung.«

»Herr Hinrichsen, Sie haben jahrelang mit Tammo Tjarksen eng zusammengearbeitet. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie so wenig von ihm wissen!«

Wolfgang Hinrichsen zuckte mit den Schultern.

Gerrit Roolfs stand aus seinem Sessel auf. »Das reicht mir nicht. Ich melde mich morgen früh noch mal bei Ihnen. Dann will ich die Namen von allen, mit denen Tjarksen sich damals angelegt hat. Von allen! Verstehen wir uns?«

Hinrichsen saß mit verschränkten Armen in seinem Korbsessel und nickte sichtbar widerwillig.

Gerrit Roolfs baute sich in voller Größe vor ihm auf und sagte mit gefährlich leiser Stimme: »Herr Hinrichsen, Sie können mir nichts vormachen. Ich werde so oder so herausfinden, was Sie vor mir verbergen wollen. Wenn Sie mir etwas verschweigen, dann muss ich wichtige Gründe hinter Ihrem Verhalten vermuten.«

Wolfgang Hinrichsens Stimme zitterte. »Tammo konnte großzügig sein, ausgelassen, freundlich, unendlich hilfsbereit. Und dann konnte er dich anlächeln und dir im selben Moment eine in die Fresse hauen. Tammo war ein Schwein. Er hat gekriegt, was er kriegen wollte. Geschäftlich und privat. Und was er nicht bekommen konnte, das hat er sich einfach genommen. Vielleicht hat er jetzt gekriegt, was er verdient hat. Ich weiß es nicht.«

»Und was hat er Ihnen genommen?«

Hinrichsen starrte ins Leere.

Dienstag, 3. Dezember

Rentiere

Kriminaldirektor Lothar Uphoff hatte sich eine weihnachtliche Krawatte mit kleinen Rentieren umgebunden. Wie immer wirkte er unbeholfen, wenn er feierlich sein wollte. Im Sitzungszimmer der Norder Kripo hatte sich das ganze Team zusammen mit der Staatsanwältin eingefunden.

»Liebe Frau Kollegin van Immen!«, begann er seine Ansprache und lächelte die versammelten Kollegen an. »Wir freuen uns, dass Sie …, dass wir durch Sie, nachdem Frau Wessels in den verdienten Ruhestand gegangen ist, wieder voll sind … also, dass unser Team wieder voll ist …, vollzählig ist, meine ich, zumindest für eine gewisse Zeit. Wir hoffen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen, und wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, dann können Sie mich gern ansprechen.«

»Vielen Dank für die netten Worte.« Theda van Immen hatte sich erhoben. Sie war etwa einsachtzig groß und hatte kurze dunkelblonde Haare, trug eine cremefarbene Jeans und einen dazu passenden Pullover aus Kaschmirwolle. Ihre Stimme klang angestrengt geschäftsmäßig. »Ich bin nicht hier, um mich wohlzufühlen, sondern um zu arbeiten. Ihre Freude, mich hier zu sehen, wird sich etwas legen, wenn Sie erfahren, warum ich hier bin. In ein paar Wochen werden Sie es sowieso wissen, wenn Sie nicht ohnehin schon im Bilde sind. In meiner vorigen Dienststelle wurde mir nahegelegt, mich wieder nach Ostfriesland zurückzubewerben. Man hat mir vorgeworfen, ich störe die gedeihliche Zusammenarbeit und sei nicht in der Lage, mit den Kollegen zu kooperieren.«

Alle schwiegen betreten.

»Meine mangelnde Kooperation bestand darin«, fuhr sie fort, »dass ich einen Staatsanwalt angezeigt habe, der mehrere Verfahren gegen Freunde aus seinem Golfclub blockiert hatte. Außerdem wollte ich nicht akzeptieren, dass zwei Kollegen fast immer angetrunken ihren Dienst machten.«

Sie wandte sich an Uphoff. »Es ist schön, wenn Sie mir anbieten, dass ich mich an Sie wenden darf, wenn es Probleme gibt. Aber diese Versprechen habe ich in meiner letzten Dienststelle etwas zu oft von Vorgesetzten gehört.«

Sie schluckte. »Und jetzt habe ich auch noch meinen Einstand verdorben. Entschuldigen Sie, Sie haben es sicher gut gemeint.«

Einige Sekunden herrschte verlegenes Schweigen. Man hörte das Ticken der Uhr über der Tür. Dann ging die Staatsanwältin auf die Kriminalbeamtin zu und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Gesine Ackermann. Ich bin zwar Staatsanwältin, aber ich spiele nicht Golf. Ich habe ein wenig mitbekommen von Ihrem Fall. Sie haben viel Rückgrat bewiesen. Herzlich willkommen!«

Habbo Janssen drückte ihr die Hand. »Ich spiele höchstens mal Minigolf mit meinen Kindern, aber da habe ich bisher noch keine einflussreichen Freundschaften schließen können. Sie werden gut mit uns klarkommen.«

Gerrit Roolfs sah, dass Christian Gronewold sich während des anschließenden allgemeinen Händeschüttelns verdrücken wollte. »Willst du unsere Neue nicht eben begrüßen?«, fragte er.

Gronewold zog verächtlich die Mundwinkel nach unten und zischte: »Kein Bedarf. Auf sogenannte Kolleginnen, die andere anschwärzen, habe ich so was von keinen Bock, wie du dir das kaum vorstellen kannst.«

Warten

Bei der anschließenden Dienstbesprechung führte Kriminaldirektor Lothar Uphoff die neue Kollegin in den Stand der Ermittlungen ein. »Wir haben viele mögliche Hinweise«, fasste er das Ergebnis zusammen, »aber wir haben keine echte Spur.«

Christian Gronewold berichtete von den Befragungen der Einwohner rund um den Marktplatz. Sie waren genau so ergebnislos verlaufen wie Habbo Janssens Gespräche mit den Nachbarn von Tjarksens Geschäftshaus.

»Ich möchte an ein paar Punkten mal nachbohren«, sagte Roolfs. »Tammo Tjarksen hat noch einen zweiten Sohn, der sich vor ein paar Jahren von der Familie getrennt hat. Außerdem hatte Tjarksen etwas mit seiner Norder Filialleiterin. Die soll aber auch einen Freund haben. Dann ist da noch der Taxifahrer, der Tjarksen nach Hause bringen sollte.«

»Ich habe mit dem Taxi-Unternehmen telefoniert«, sagte Habbo Janssen. »Der Fahrer hat ein paar Minuten draußen vor dem Geschäft gewartet und ist dann reingegangen, um Tjarksen zu holen. Aber da war er schon weg und niemand wusste, mit wem er gefahren war.«

»Ist dem Taxifahrer irgendetwas aufgefallen? Hat er etwas beobachtet?«, hakte Roolfs nach.

»Er ist heute mit dem Bus unterwegs. Er fährt einen Kegelklub ins Sauerland. Kommt übermorgen wieder.«

»Da müssen wir also auch noch mal ran. Noch etwas«, fuhr Gerrit Roolfs fort, »vor ein paar Jahren hat Tjarksen Drohbriefe bekommen. Ich habe Wolfgang Hinrichsen, den Prokuristen, gebeten, mir alle Informationen dazu zusammenzustellen. Tjarksen hatte ein Verhältnis mit Hinrichsens Frau. Und als sie die Scheidung eingereicht hat, hat Tjarksen sie im Regen stehen lassen.«

»Kann sie sich gerächt haben? Was denkst du, Gerrit?«, fragte Uphoff.

»Sie ist vor vier Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich glaube auch nicht, dass Hinrichsen Tammo Tjarksen auf dem Gewissen hat. Die Sache ist etwa acht Jahre her. Er hat sich in das Unvermeidbare gefügt. Die Ehe war wohl nicht so …«, Roolfs räusperte sich, »… harmonisch. Ich will lieber den Drohbriefen nachgehen.«

»In Ordnung«, schloss Uphoff die Erörterung. »Frau van Immen kümmert sich übermorgen um den Taxifahrer, für heute und morgen habe ich andere Aufgaben für sie. Habbo erkundigt sich nach dem Freund von Nadine Becker, Gerrit übernimmt die Drohbriefe und Christian versucht weiter, den anderen Sohn von Tjarksen zu erreichen.«

»Da habe ich schon tausendmal angerufen. Da läuft immer nur das Band«, wollte sich Gronewold rechtfertigen.

»Dann hinterlassen Sie doch einfach eine Nachricht, dass er sich melden soll«, schlug Theda van Immen freundlich vor.

Gronewolds Gesicht verzog sich. Zum Glück klingelte das Telefon, bevor er etwas sagen konnte.

Roolfs murmelte einen Laut, der eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem in Lichtgeschwindigkeit ausgesprochenen Namen hatte, in den Hörer. »Nein, wir haben ihn noch nicht … Nein, im Moment kommen wir gut klar, wir haben ja auch eine neue … Jaha, das ist ein guter Vorschlag … Na klar, wenn wir Sie brauchen, melden wir – … Vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft. Auf Wiederhören, Herr Doktor Oosterhuis.«

Geheimnis

»Drohbriefe?« Renate Tjarksen drückte die Zigarette, die sie gerade angesteckt hatte, im Aschenbecher wieder aus. »Ich weiß nichts von Drohbriefen. Davon hat Tammo nie etwas erzählt. Wir haben immer alles offen besprochen. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.«

»Ich nehme an«, beruhigte Gerrit Roolfs sie, »Ihr Mann wollte Sie damit nicht belasten. Wenn er sie aufbewahrt hat, wo könnten sie dann sein?«

»Im Tresor ist nichts«, sagte eine Stimme von hinten. Klaus Tjarksen stand in der Tür. »Den habe ich schon durchgesehen.«

Renate Tjarksen drehte sich um, und ihre Ketten und Armbänder klirrten. »Klausi, du hast doch wohl nicht …«

»Keine Sorge, Mutti. Ich habe nur nachgesehen, ob da ein Hinweis ist, wer Papa auf dem Gewissen hat. Aber da waren nur Geschäftsunterlagen und ein paar tausend Euro.«

»Wir haben immer ein bisschen Geld im Haus«, erklärte Renate Tjarksen. »Zur Sicherheit. Wenn mal was ist.«

»In Ordnung«, sagte Roolfs. »Wenn Ihr Mann etwas aufbewahren wollte, das niemand finden durfte, wo hat er das versteckt?«

»Er hat einen großen, alten Schreibtisch in seinem Büro. Wo der Schlüssel ist, weiß nur er.«

»Der Schlüssel liegt in dem Brillenetui in der Schublade«, erklärte Klaus mit gelangweilter Stimme. »Den Schreibtisch wollte ich mir heute Nachmittag vornehmen.«

»Klaus, ich weiß gar nicht, was ich dazu noch sagen soll …« Renate Tjarksen legte ihre Fingerspitzen auf die Schläfen, schloss die Augen und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

»Mutti, jetzt sind wir an der Reihe. Jetzt müssen wir die Verantwortung für alles übernehmen. Papa hätte das auch so gewollt.«

»Das kann doch alles Wolfgang machen. Der weiß doch über alles Bescheid.«

»Aber uns gehört die Firma. Und darum müssen wir auch über alles Bescheid wissen.«

»Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Papa ist ja noch nicht mal unter der Erde.« Renate Tjarksen zündete sich wieder eine Zigarette an.

»Frau Tjarksen«, griff Hauptkommissar Roolfs in das Gespräch ein, »vielleicht können wir die Briefe finden und erhalten so einen wichtigen Hinweis darauf, wer Ihren Mann getötet hat. Das wollen Sie doch auch.«

Renate Tjarksen nickte und hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. »Kommen Sie bitte mit, Herr Hauptkommissar. Und du bitte auch, Klaus.«

Eine halbe Stunde später hatten Klaus Tjarksen und Gerrit Roolfs alle Schubladen und Fächer des großen Schreibtisches in Tammo Tjarksens Arbeitszimmer durchsucht. Sie fanden einige Geschäftsunterlagen, vier leere und zwei halbvolle Cognacflaschen und ein paar Männermagazine.

»Na so was«, spottete Klaus Tjarksen. »Der knallharte Geschäftsmann hält sich mit Pornoheften und teurem Cognac bei Laune.«

»Klaus, wie kannst du nur so über deinen Vater reden?«, fauchte Renate Tjarksen.

»Siehst du hier auch, was ich sehe, Mutti?«, sagte Klaus provozierend und tippte mit der Fußspitze gegen eine leere Cognacflasche.

Gerrit Roolfs sah sich den Schreibtisch schweigend an, zog die leeren Schubladen auf und fühlte hinein, tastete mit den Fingern auf der Oberfläche und an den Seiten entlang und ging einen Schritt zurück.

»Entschuldigen Sie, ich muss mal meinen Kollegen anrufen«, sagte er und tippte die Nummer von Habbo Janssen in sein Handy. »Habbo, wie weit bist du? … Hmmm … aha … Kannst du hierher kommen, zu Tjarksens? Und kannst du bei Wilhelm Adomeit vorbeifahren und ihn mitbringen? Er wohnt in der Neustadt. Königsberger Straße. Die Hausnummer musst du dir aus dem Telefonbuch heraussuchen. Ja, wir brauchen seine Hilfe. Ich rufe ihn gleich an, damit er Bescheid weiß.«

»Ist das ein Privatdetektiv, den Ihr Kollege mitbringt?«, fragte Klaus Tjarksen.

»Nee, das ist ein alter Möbeltischler.«

Versteck

»Adomeit, Tischlermeister Wilhelm Adomeit«, stellte sich der ältere Herr mit vollem, weißem Haar vor, klein und beleibt in Jeans, Flanellhemd und Wolljacke.

»Herr Adomeit, wir haben eine Spezialaufgabe für Sie. Sie müssen ein Geheimfach in diesem Schreibtisch finden«, erklärte Roolfs.

»Jehäimfach? Das krijen wirr schon. Was fier ein scheenes Stick!«, bewunderte Adomeit den Schreibtisch. Er rollte beim Sprechen das ›R‹. Auch nach fast sechzig Jahren Ostfriesland hatte sein Akzent die ostpreußische Färbung nicht verloren.

Adomeit inspizierte das Möbelstück von allen Seiten, streichelte hier und da liebevoll die Oberfläche und befühlte die Schubladen von außen und innen. Dann legte er sich auf den Rücken und betastete den Schreibtisch von unten. Dabei summte er eine schwermütige Melodie.

Renate Tjarksens Armbänder und Ketten klirrten. »Aber da kann doch nichts sein. Tammo hat doch nichts vor uns versteckt.«

»Sein Se jefällichst ruhig, bitte, ich muss mich konzentrieren«, brummte Adomeit von unten und begann mit der Hand verschiedene Stellen abzuklopfen.

»Also, dass Sie mir da nix kaputtmachen. Das ist ein altes Erbstück. Der ist wertvoll«, ermahnte Renate Tjarksen den Tischlermeister. Ihr Schmuck klimperte, ihr Feuerzeug flammte auf, und eine Wolke aus Zigarettenqualm hüllte den Schreibtisch ein. Ihr Handy piepte die Melodie des ABBA-Hits Mamma mia.

»Hallo, Sonni, das ist ja lieb, dass du mich anrufst«, rief Renate Tjarksen. »Ich dachte, du wärst noch auf Fuerto …«

Wilhelm Adomeit krabbelte unter dem Schreibtisch hervor. »Also näi, so kann ich hier nich arbeiten. So wird das nuscht. Lassen Se mich hier mal alläine machen«, sagte er und winkte die anderen mit der Hand aus dem Raum.

»Ich lass mich doch nicht in meinem eigenen Haus …«, wollte Renate Tjarksen protestieren, aber Adomeit entgegnete gemütvoll: »Also, es jibt hier nur zwäi Meechlichkeiten: Entweder Sie bläiben hier im Zimmer oder ich. Bäides jeht nich.«

Habbo Janssen schob Klaus und Renate Tjarksen mit beruhigenden Worten hinaus.

Adomeit wartete, bis die Tür verschlossen war, und flüsterte Roolfs dann zu: »In Ordnung, Herr Hauptkommissar, ich hab das Fach schon längst jefunden. Ich wäiß nur nicht, ob Sie vielleicht zuerst ohne die bäiden räinschauen wollen. Hier, bitte.« Er zog die unterste Schublade auf und öffnete einen doppelten Boden.

Roolfs entnahm dem Geheimfach zwei große Umschläge und einen Schnellhefter. Er setzte sich an den Schreibtisch. Der erste Umschlag enthielt Tammo Tjarksens Testament, das seine Frau und seinen Sohn zu gleichen Teilen als Erben einsetzte. Ein beiliegender Brief wies darauf hin, dass die zweite Ausfertigung des Testamentes beim Notar hinterlegt worden sei.

Im zweiten Umschlag lagen vier Briefe. Roolfs sah sie durch. Es waren die gesuchten Drohbriefe. Im Schnellhefter fand er Gutachten und Expertisen für geschäftliche Projekte.

»Saubere Arbeit, Herr Adomeit. Sie haben was gut bei mir.«

»Da komm ich bäi Jeleejenhäit drauf zurick. Den Rest müssen Se nu ohne mich machen. Sehn Se zu, dass Se bis Wäihnachten damit durch sind, Herr Hauptkommissar.« Adomeit klopfte Roolfs auf die Schulter und ging.

Post

Du Schwein hast mich kaputtgemacht, jetzt mach ich Dich kaputt.

Gerrit Roolfs starrte auf den Satz, der auf einer Schreibmaschine mit einem schon stark verbrauchten Farbband getippt worden war.

Er nahm den nächsten an Tammo Tjarksen adressierten Umschlag, fingerte vorsichtig den zusammengefalteten Brief heraus und las: Tammo Tjarksen, ich treffe dich da, wo es dir richtig weh tut! Im dritten Schreiben stand, getippt mit derselben Maschine, die für die beiden anderen benutzt worden war: Tammo Tjarksen, Du bist es nicht wert, das Du lebst! Der vierte Brief war mit der Hand geschrieben: Tammo Tjarksen, ich beobachte Dich, und irgendwann schlage ich zu!

Vorsichtig tütete Roolfs die vier Briefe für die Spurensicherung in Klarsichthüllen ein. Er schaltete den kleinen Fotokopierer in Tjarksens Büro an.

Während das Gerät warmlief, schaute er sich noch einmal Briefe und Umschläge an. Tjarksens Name und Anschrift waren anscheinend mit derselben Maschine getippt wie die Briefe. Auf dem Umschlag des handgeschriebenen Briefes waren Name und Adresse mit Filzstift und Buchstabenschablone geschrieben. Ein Absender fehlte auf allen Umschlägen. Sie waren in einem Briefzentrum abgestempelt worden.

Gerrit Roolfs seufzte. Früher hatte man anhand des Poststempels herausfinden können, wo ein Brief eingeworfen worden war. Aber die Integration der »Fürstlich-Ostfriesischen Post« in die Bundespost vor etwa fünfzehn Jahren hatte dem ein Ende gemacht.

Die Überschaubarkeit und Abgegrenztheit des ostfriesischen Fürstentums hatte Vorteile für die Ermittlungsarbeit. Roolfs hatte allerdings in den vergangenen Jahren den Eindruck gewonnen, dass Ostfriesland immer mehr Eigenständigkeit aufgab, und dass Fürst Carl Edzard diese Entwicklung sogar unterstützte.

Der Kopierer begann zu brummen. Er war betriebsbereit.

»Dürfen wir wieder reinkommen?« Klaus Tjarksen hatte fast unhörbar die Tür geöffnet und stand unbeholfen im Türrahmen.

»Ja, bitte. Holen Sie Ihre Mutter auch dazu. Nehmen Sie bitte Platz.« Roolfs kopierte die Briefe und die Umschläge. Dann packte er die Klarsichthüllen mit den Originalen in seine Tasche.

»Frau Tjarksen, wer hat diese Briefe an Ihren Mann geschrieben?«, fragte er und legte die Kopien vor sie auf den Tisch.

Renate Tjarksen überflog die Briefe und schlug dann die Hände vors Gesicht. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen, also, ich weiß wirklich nicht … Wer könnte so etwas tun?«

Das Feuerzeug flammte vor ihrem Gesicht auf, und sie inhalierte den Rauch tief, um ihn dann geräuschvoll seufzend auszuatmen. »Mein Mann war ein Geschäftsmann. Der ging mit dem Kopf durch die Wand. Sie wissen ja, wie er war.«

»Was wollen Sie uns damit sagen?«, fragte Roolfs.

»Das Geschäftsleben ist ein harter Konkurrenzkampf«, schaltete sich Klaus Tjarksen ein. »Da müssen Sie kämpfen oder untergehen. Mein Vater war ein Kämpfer. Und manchmal ist er sehr weit gegangen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ehrlich gesagt: nein. Das müssen Sie mir schon näher erklären«, antwortete Roolfs.

»Mein Vater hatte viele Verbindungen zu Banken, zu Großhändlern, zu Leuten in Gemeinderäten und Verwaltung. Und er scheute sich auch nicht, das auszunutzen – in einem gewissen Rahmen natürlich, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Wieso muss ich immer verstehen, was Sie meinen?«, fragte Roolfs gereizt. »Sagen Sie es mir doch! Hat Ihr Vater Schmiergelder bezahlt und Konkurrenten bei Großlieferanten und Banken verleumdet? Soll ich das so verstehen, was Sie meinen?«

Klaus Tjarksen zuckte zusammen und verzog das Gesicht wie bei einem plötzlichen, starken Schmerz. Er atmete geräuschvoll durch die Zähne ein. »Nein, nein, Herr Kommissar, das habe ich nicht gesagt. Es gibt da so einen Zwischenbereich …«

»Hören Sie!« Hauptkommissar Roolfs’ Stimme klang bedrohlich. »Ihr Vater liegt im Leichenschauhaus. Und wir wollen wissen, wer daran schuld ist. Sie machen mir bis morgen früh eine Liste mit allen Namen von Geschäftsleuten, die Ihr Vater fertig gemacht hat. Und dann unterhalten wir uns mal in aller Ruhe über seine Geschäftspraktiken.«

956,63 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
303 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839264485
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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