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Der zweite Tag

Cutter erwachte, als Joanne den Vorhang zur Seite zog und die milden Strahlen der Morgensonne auf sein Gesicht fielen.

»Aufstehen!«, forderte ihn seine Tochter fröhlich auf.

Cutter war überrascht, wie gut gelaunt Joanne war.

Darauf angesprochen, lachte sie und erwiderte: »Auch wenn mir gestern wieder bewusst geworden ist, dass alles relativ ist, so bin ich doch froh, dass ich neben dir und nicht neben einem Baby aufgewacht bin.«

Cutter strahlte sie an. Er war stolz auf seine Tochter, die diese überaus schwierige Situation mit so viel Be­herr­schung meisterte und dabei ihren Humor nicht verloren hatte.

Sie verließen das Zimmer. Am Fuß der fünf Stufen, die von ihrem Zimmer in die Empfangshalle führten, stand Pro­me­theus, der ungeduldig auf sie gewartet zu haben schien.

»Guten Morgen«, begrüßte er sie. Sein Gesichts­aus­druck und der Klang seiner Stimme ließen nichts Gutes er­ahnen. Der Fremdenführer machte einen verwirrten und tief betrübten Eindruck auf Cutter.

»Ich habe leider schlechte Nachrichten«, bestätigte er Cutters Ahnung.

»Was ist geschehen?«, fragte Cutter unnötigerweise, denn Prometheus hatte bereits den Mund geöffnet, um wei­terzusprechen.

»Fritz, unser Fahrer, ist gestern Abend noch ins nahe gelegene Dorf gefahren, um die Limousine aufzutanken. Auf der Rückfahrt muss er die Kontrolle über das Fahrzeug verloren haben. Er ist frontal gegen einen Baum geprallt. Der Wagen ist nur noch Schrott und Fritz liegt in einem be­sorgniserregenden Zustand im Krankenhaus. Es war uns leider nicht möglich, in dieser kurzen Zeit einen Ersatz­wagen zu organisieren. Wir können daher erst morgen früh weiterfahren.«

Cutter wurde den Eindruck nicht los, dass Prometheus zwar durchaus entsetzt war über den Unfall des Zwerges, jedoch alles andere als unglücklich darüber, dass an eine Weiterreise nicht zu denken war.

Joanne teilte die Einschätzung ihres Vaters. »Dieser Umstand kommt ihm wohl sehr gelegen!«, sagte sie laut.

Sie hatte die Worte in Aymara ausgesprochen, einer alten Indianersprache, die noch heute die Indios im bolivi­anischen Hochland rund um den Titicacasee benutzten. Sie hatten diese Sprache auf einer Südamerikareise ken­nen­gelernt und Joanne war davon fasziniert gewesen. Sie hatte ein Lehrbuch gekauft und ihren Vater überredet, zu­sammen mit ihr die Grundzüge dieser archaischen Spra­che zu lernen. Seitdem machten sie sich einen Spaß dar­aus, in der Öffentlichkeit Aymara zu sprechen, wenn sie wollten, dass keiner sie belauschen konnte.

Es fuhr Joanne daher heiß durch die Glieder, als Prometheus ihr augenzwinkernd auf Aymara antwortete: »Glau­ben Sie mir, junge Dame, nichts ist mir un­an­ge­neh­mer, als Sie und Ihren Vater enttäuschen zu müssen.«

»Wie viele Leute auf dieser Welt außerhalb von Boli­vien verstehen Aymara?«, fragte sich Joanne irritiert. Es waren wenige, sehr wenige. War es nur ein Zufall, dass der deutsche Fremdenführer diese Sprache fließend sprach, weitaus besser als sie selbst, wie ihr bei seinen wenigen Worten bewusst geworden war?

Cutter zuckte hilflos mit den Schultern, als ob kein Ge­spräch zwischen Prometheus und seiner Tochter statt­ge­funden hätte. »Dann bleibt uns wohl nichts anders übrig, als den Tag hier zu verbringen«, sagte er ruhig. »Sind Sie sicher, dass Sie bis morgen einen neuen Wagen bereit­stel­len können?«

»Wir geben uns alle Mühe«, versicherte ihm Pro­me­theus, wobei er auch diesmal wenig überzeugend wirkte. Dann entschuldigte er sich eilig und lief rasch zum Aus­gang. Als Prometheus die Türe öffnete, bemerkte Cutter, dass es heftig zu regnen begonnen hatte.

Cutter und Joanne sahen sich an.

»Du hast Recht. Prometheus ist nicht gerade un­glück­lich über die Verzögerung. Außerdem habe ich das Gefühl, dass unser netter Reiseleiter uns nach Strich und Faden be­lügt. Aber ich würde zu gerne wissen, wo er Aymara gelernt hat.« Cutter legte den Arm um seine Tochter. Dass ihm Joannes Körper keinen fühlbaren Widerstand ent­ge­genbrachte, verblüffte ihn auch diesmal wieder und machte ihm erneut den Ernst der Lage klar.

Zum ersten Mal betrat Cutter den Speisesaal. Überrascht stellte er fest, dass der geräumige Saal bis auf den letzten Tisch mit Hotelgästen gefüllt war, die ihr Frühstück ein­nahmen. Er fragte sich, wo all diese Menschen die Nacht verbracht haben mochten.

Doch dann wurde sein Blick magisch von einem über­dimensionalen Tisch angezogen, der den ganzen linken Teil des Raumes einnahm. »Artus’ Tafelrunde!«, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf.

Der riesige, ovale Tisch stand mitten im Raum. Nein, er war Teil des Raumes, oder besser gesagt ein Raum im Raum, denn die Rückenlehne der Sitzbank, die rund um den Tisch lief und ihm eine Hufeisenform verlieh, war bis zur Decke hochgezogen. Über dem Tisch hing ein weit aus­ladender Kronleuchter. So eindrucksvoll der Tisch auch wirkte, fiel es Cutter doch sofort auf, dass seine Form höchst unpraktisch war. Da er nicht frei im Raum stand, sondern von der Rückenlehne der Bank umgeben war, hatte man nur die Möglichkeit, sich links oder rechts auf die Bank zu setzen und dann weiterzurücken. Wer sich an den Kopf des Tisches setzen wollte, musste so gut acht Meter über die Bank rutschen.

Cutter musste lächeln, als er dar­an dachte, wie wohl ein Gast, der in der Mitte der Bank saß, seinen Platz je wie­der verlassen wollte, solange noch andere Gäste am Tisch saßen. »Der arme Kerl braucht eine starke Blase«, dachte er.

Ein Kellner, der auf ihn zugeeilt war, riss ihn aus seinen Gedanken. »Leider sind alle Tische besetzt«, sagte er mit einer Miene, die darauf schließen ließ, dass ihm dieser Um­stand äußerst unangenehm war. »Darf ich Sie bitten, dort drüben Platz zu nehmen?« Dabei zeigte er einladend auf den monströsen Tisch.

Cutter und Joanne setzten sich. Erstaunt stellte Cutter fest, dass sie sich nicht vom Buffet bedienen konnten, son­dern dass der Kellner eine riesige Platte mit allerlei Köst­lichkeiten vor ihnen auf den Tisch stellte.

Sie ließen es sich schmecken. Cutter hatte gerade eine erste Portion Käse und etwas Wurst gegessen, als einige der Kurgäste den Raum betraten, die er gestern Abend kurz beim Kartenspiel beobachtet hatte. Sie setzten sich ihnen gegenüber an den Tisch, ohne ein Wort der Be­grü­ßung oder auch nur einen höflichen Blick. Als Cutter ihnen freundlich zunickte und ihnen ein nicht ganz akzentfreies »Servus« zuwarf, schauten sie ihn nur ausdruckslos an und tauschten dann untereinander Blicke aus, die Cutter nicht deuten konnte.

Kurze Zeit später betraten schon die nächsten Kur­gäste den Speisesaal und steuerten ebenfalls zielstrebig auf den großen Tisch zu. Nun war es an Cutter und seiner Tochter, sich einen vielsagenden Blick zuzuwerfen.

Die Kurgäste blieben vor Joanne stehen, die am Rande des Tisches saß. Mit einer knappen Geste und ohne ein Wort zu sprechen forderte einer von ihnen Joanne auf, wei­terzurücken und Platz zu machen. Resigniert ergriff Cut­ter die Servierplatte und sein Gedeck und rutschte wei­ter nach hinten. Joanne folgte ihm. Nach wenigen Minuten saßen alle Kurgäste am Tisch und Cutter und seine Toch­ter fanden sich am Kopf des Tisches wieder. Der Raum hatte sich für die beiden damit auf die wenigen Kubikmeter reduziert, die die Rückenlehne der Sitzbank einschloss. Kein Laut von außerhalb des abgeschirmten Bereichs drang an ihr Ohr, und selbst der Blick nach draußen in den ungleich größeren Rest des Speisesaals war ihnen fast vollständig verwehrt.

Die Kurgäste verbreiteten eine Atmosphäre, die Cutter nur als düster, ja unheimlich bezeichnen konnte. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Kein Lächeln war auf ihren Ge­sichtern zu erkennen. Nachdem der Kellner einige große Platten über den Tisch geschoben hatte, begannen sie mit ausdruckslosen Mienen zu essen, wobei sie ihre Umwelt völlig zu vergessen schienen.

Wenn der Ausdruck »Sie fressen wie die Schweine« je zu Recht auf Menschen angewendet werden konnte, so in diesem Fall. Die Männer stürzten sich auf das Essen, ja sie machten den Eindruck, dass sie bereit waren, um jeden Bis­sen zu kämpfen, so dass der Tisch bald einem Schlacht­feld glich. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Schmatzen der rund vierzig Männer. Ange­widert schob Cutter seinen Teller von sich. Der Appetit war ihm gründlich vergangen.

Auch Joanne hatte keinen Appetit mehr. Sie war von den Essmanieren der Männer noch mehr angewidert als ihr Vater, doch fühlte sie noch etwas, wozu ihrem Vater das Sensorium fehlte: Von den Männern ging eine un­de­finierbare Gefahr aus. Diese Männer waren schlecht. Nein, mehr noch, sie verkörperten das Böse schlechthin. Ihr Va­ter und sie waren in Gefahr. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass diese Männer nicht Halt machen würden, wenn sie die Platten leergegessen hatten. Sie fühlte sich wie un­ter Kannibalen – den einen oder anderen Blick der Männer konnte sie nicht anders deuten. Es schien ihnen der Spei­chel im Mund zusammenzulaufen, wenn sie ihren Vater oder sie selbst anstarrten.

Joanne wollte ihren Vater warnen, wusste jedoch nicht wie. Das Erlebnis mit Prometheus saß ihr noch in den Kno­chen. Sie traute sich nicht, Aymara zu sprechen. Sie be­fürchtete, dass auch diese Männer sie verstehen könnten. So kramte sie einen Kugelschreiber aus der Handtasche und riss eine Ecke der Papierserviette ab. »Gefahr. Män­ner!« kritzelte sie darauf, während sie den Zettel mit der linken Hand abdeckte. Sie schob den Zettel zu ihrem Vater hinüber, der einen Blick darauf warf, den Fetzen zerknüllte und einsteckte.

Fragend blickte Cutter seine Tochter an. Er verstand nicht, was sie meinte. Ihr heftiges Nicken half ihm auch nicht weiter.

Er begriff etwas besser, als der Mann mit dem ein­drucks­vollen Verband um den Kopf und dem fehlenden rech­ten Ohr, der zu Joannes Linken Platz genommen hat­te, unvermittelt die Hand ausstreckte, Cutter einen Blick vol­ler Hass und Verachtung zuwarf und die Platte ergriff, die eigentlich Joanne und ihm serviert worden war. Er be­gann deren Inhalt hastig in sich hineinzustopfen.

»Guten Appetit«, grinste Cutter den Mann an, doch der reagierte nicht auf Cutters Worte; er war zu sehr damit be­schäftigt, sich den Bauch vollzuschlagen.

Als nur noch Essensreste auf dem Tisch lagen, die selbst für die hungrigen Kurgäste zu unappetitlich wirken mussten, wurde die Lage ungemütlich. Die Blicke der Män­ner hefteten sich an Cutter und Joanne fest. Der Mann zu Cutters Rechten, dessen Arm in einem Gips steckte, spiel­te gedankenverloren mit seinem Messer und gab Laute von sich, die Cutter nur als Verwünschungen deuten konn­te. Die anderen stimmten ein. Der ganze enge Raum, der durch die Rückenlehne der Bank begrenzt war, erfüllte sich mit diesem Gemurmel – einem Geräusch, das nichts Mensch­liches an sich hatte, sondern Cutter eher an die Laute eines Wolfsrudels erinnerte, das sein Opfer um­zin­gelt hat und sich auf den letzten, alles entscheidenden An­griff vorbereitet. Und Joanne und er waren gefangen zwi­schen der Holzwand in ihrem Rücken und dem massiven Holztisch vor ihnen. Sie saßen in einer Falle. In einer per­fekten Mausefalle.

»Wünschen die Herren noch etwas?« Prometheus war unbemerkt an den Fuß des Tisches getreten und sah die Kurgäste bei diesen Worten durchdringend an. Neben ihm stand mit besorgter Miene Margot, die Hausherrin.

Augenblicklich verstummte das Geräusch. Die Blicke der Männer hefteten sich zuerst für den Bruchteil einer Se­kunde auf die Wirtin, dann auf Prometheus, und schließlich duckten sie sich unter seinem Blick wie Raubtiere, die beim Anblick des Dompteurs den Kopf einzogen, als ob sie be­fürchten müssten, jeden Augenblick die Peitsche zu spü­ren. Wieder sprachen die Männer nicht, sondern mur­mel­ten unverständliche Laute, die wie ein archaisches Gebet klangen, vermutlich jedoch eine Antwort auf Prometheus’ Fra­ge sein sollten. Irgendetwas in ihrer Stimme irritierte Cutter, klang irgendwie unwirklich, wie in einem Traum, doch konnte er nicht sagen, was genau ihn an diesen Lau­ten störte.

Die ersten Männer, die ganz unten am Tisch Platz ge­nommen hatten, erhoben sich mühsam. Die anderen folg­ten, ohne Cutter oder Joanne noch eines Blickes zu wür­di­gen. Zwei Minuten später erinnerte nur noch das Schlacht­feld auf dem Tisch an sie.

Auch Joanne und ihr Vater hatten sich erhoben.

Während Prometheus hinkend den Kurgästen folgte wie der Herdenhund den Schafen, wandte sich Margot auf­munternd lächelnd Cutter und Joanne zu. »Unsere Kur­gäste haben etwas merkwürdige Tischsitten und gehören auch sonst nicht zur Spezies der liebenswürdigen Men­schen«, sagte sie entschuldigend. »Tut mir leid, dass der Kellner diese Herren zu Ihnen gesetzt hat. Wir versuchen es normalerweise zu vermeiden, die Kurgäste mit anderen Gästen an den gleichen Tisch zu setzen.«

Cutter lächelte schief und antwortete mit einem Augen­zwinkern: »Es wäre angebracht, wenn Sie den Kellner mit Nachdruck dahingehend instruieren würden. Ich möchte näm­lich die Herren nicht erleben, wenn sie einmal wirklich hungrig sind.«

Margot lachte laut und herzlich auf, und auch Joanne stimmte in das Lachen ein, obwohl ihr der Schreck noch in den Knochen steckte.

Margot begleitete sie bis in die Empfangshalle, wo sich Joanne von ihnen verabschiedete: »Ich schau mich mal in der Bibliothek um«, erklärte sie.

Cutter hatte gestern einen Blick in den Raum geworfen, der direkt neben ihrem Zimmer lag und den ein schmales Schild als »Bibliothek« auswies. Enttäuscht hatte er fest­gestellt, dass es an den Wänden dieser kaum drei Meter tie­fen Kammer nur zwei Bücherregale gab, die zu einem knap­pen Drittel gefüllt waren und in denen außer der seich­testen Trivialliteratur nichts zu finden war, was einen auch nur halbwegs anspruchsvollen Leser angesprochen hätte.

Er wollte daher Joanne zurückrufen, doch Margot sprach ihn im gleichen Moment an. »Darf ich Ihnen mein Hotel zeigen?«

»Gerne«, antwortete Cutter, der weniger am Hotel als an der Frau interessiert war, die auch heute die gleiche An­ziehungskraft auf ihn ausübte wie am Tag zuvor. Ja, wenn Cutter ehrlich war, so hatte sich diese Kraft seit gestern Abend weiter verstärkt. Hinzu kam etwas Geheimnisvolles, das die Frau umgab, seit sie zusammen mit Prometheus ge­rade im richtigen Moment am Frühstückstisch er­schie­nen war. War es Zufall, oder hatte sie der Kellner zu Hilfe gerufen? Und wer hatte die Kurgäste so eingeschüchtert? War es wirklich Prometheus gewesen oder doch eher Mar­got? Selbst wenn sie es nicht gewesen war, so war sie doch eine außerordentlich faszinierende Person.

Cutter folgte ihr durch das Hotel. Er gab vor, Interesse an den Dingen zu haben, über die sie sprach, doch war es ihre Stimme, nicht der Inhalt ihrer Worte, die ihn faszinierte und immer stärker in ihren Bann zog.

Cutter wusste nicht mehr, wie sie in ihre kleine, sehr ge­schmackvoll, wenn auch etwas altmodisch eingerichtete Wohnung gekommen waren, die im größten der zahl­rei­chen schmucken Türme lag und von der aus man eine atem­beraubende Aussicht auf die Parkanlage hatte.

Er stand neben Margot und schaute zum Fenster hin­aus. Noch immer regnete es in Strömen, ohne dass es des­wegen kühler geworden wäre. Der Park schien zu damp­fen.

Cutter legte seinen Arm um Margots Hüfte. Margot wehr­te ihn nicht ab, ließ jedoch auch keine Reaktion er­ken­nen, die Cutter eingeladen hätte, sich weiter vorzuwagen. So standen sie einige Minuten, ohne sich zu bewegen oder ein einziges Wort zu sprechen, und blickten auf die trie­fen­de Landschaft hinunter.

Dann drehte sich Margot zu Cutter um. »Komm«, sagte sie, ergriff seine Hand und führte ihn ohne weitere Worte in ihr Schlafzimmer.

Margot überraschte ihn. Ihr Körper war sportlicher und straf­fer, als er es sich vorgestellt hatte. Sie war ebenso wen­dig wie kräftig, und ihre Beweglichkeit stand in ver­blüf­fendem Widerspruch zu ihrem molligen Körper. Nicht über­rascht war er von der Zärtlichkeit, die sie ihm schenkte, und noch weniger davon, dass ihr Gesicht einen noch schö­neren Ausdruck annahm, als er lustvoll in sie ein­drang.

Er lag neben ihr und betrachtete sie. Millionen von mi­kro­skopisch kleinen Schweißperlen verliehen ihrem leicht gebräunten Körper einen schillernden, bronzefarbenen Glanz. Er fuhr mit dem Finger über ihre Haut, wobei er eine schwach erkennbare Spur hinterließ, die – für wenige Se­kunden nur – frei von Schweißtropfen war.

Margot hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht strahl­te Ruhe und Zufriedenheit aus. Sie genoss Cutters zärt­liche Berührungen sichtlich.

Cutter hasste es, die Idylle zu zerstören. Er hatte die Stun­de mit Margot genossen wie keine Begegnung mit einer Frau, seit Jennifer gestorben war. Und selbst wenn er an diese Zeit zurückdachte, war er sich nicht sicher, ob er sich je so hatte gehenlassen können wie in den letzten Minuten.

»Seltsam, diese Kerle mit den Verbänden. Wie kommt es, dass sie in deinem Hotel wohnen?«

Cutter beobachtete Margots Gesicht. Seine Frage löste keine Reaktion darauf aus. Sie hielt noch immer die Augen geschlossen und räkelte sich wohlig, als seine Hand über ihre Brüste glitt.

»Wir sind hier am Ende der Welt. Hier ist in den letzten Jahrzehnten die Zeit stillgestanden. Wie ich dir gestern schon erklärt habe, ist es unter diesen Umständen nicht leicht, genügend Gäste für mein Hotel zu finden. Ich bin des­halb manchmal darauf angewiesen, Gäste bei mir auf­zunehmen, auf die ich lieber verzichten würde. So verhält es sich auch in diesem Fall. Eine Klinik hat bei mir an­ge­fragt, ob ich eine Gruppe von Verwundeten, die auch psy­chisch etwas labil sind, für vier Wochen bei mir aufnehmen könnte. Ich habe meinen Preis genannt und sie haben ak­zeptiert. Es ist kein schlechtes Geschäft für mich.«

»Wir sind am Ende der Welt«, »die Zeit ist still­ge­stan­den« – diese Worte, die Cutter in jeder anderen Situation als selbstverständlich benutzte Redewendungen hinge­nom­men hätte, ließen ihn aufhorchen. Es war ihm jedoch bewusst, dass er damit in Margots Worte etwas hinein­interpretierte, das sie so nicht gemeint haben konnte.

Er wartete einige Augenblicke, bevor er die nächste Fra­ge stellte.

»Kennst du Prometheus und Fritz, unseren Fahrer?«

Er konnte auch diesmal keine Reaktion auf ihrem Ge­sicht erkennen. Vielleicht war sie nicht mehr ganz so ent­spannt wie zuvor, aber das konnte auch daran liegen, dass Cutters Hände nun von ihren Brüsten in Richtung Bauch ge­wandert waren.

Noch immer hielt sie die Augen geschlossen, als sie ant­wortete: »Prometheus kenne ich erst seit einer ver­gleichsweise kurzen Zeit. Er ist ein sympathischer Bursche. Ich kann ihn gut leiden.«

Sie begründete ihr Urteil nicht. Der Tonfall, in dem sie gesprochen hatte, ließ jedoch keinen Zweifel daran auf­kom­men, dass sie eine Beurteilung abgegeben hatte, von der sie so leicht nicht mehr abweichen würde.

Und doch war ihr diese Antwort etwas zu rasch über die Lippen gekommen. Cutter war sich sicher, dass es zu diesem recht untypischen Reiseführer noch mehr zu sagen gab.

Als hätte Margot seine Gedanken gelesen, fuhr sie fort: »Wir kennen uns wie gesagt noch nicht sehr lange, aber wir haben in dieser kurzen Zeit festgestellt, dass wir so etwas wie Seelenverwandte sind. Er könnte mein Bruder sein, der mir nie vergönnt war, so gut verstehen wir uns.«

Auch diese Aussage war nicht weniger ausweichend und nichtssagend, doch kam Cutter nicht dazu, eine ver­tie­fende Frage zu stellen, denn Margot fuhr fort:

»Und Fritz? Ja, den kenne ich natürlich auch. Er ist nicht weit von hier im gleichen Dorf aufgewachsen wie mein Vater. Er hat dort eine schwere Jugend verbracht. Mein Vater hat uns oft erzählt, wie Fritz von den Leuten aus dem Dorf, vor allem natürlich von den Kindern, ge­hän­selt worden ist. Immer wenn wir zu einem Menschen ge­mein gewesen sind, hat er uns ermahnt und von seinen Erlebnissen mit Fritz erzählt. Ich glaube, mein Vater war der einzige Freund, den Fritz in seinem ganzen Leben ge­habt hat. Bei seiner Beerdigung hat Fritz geheult wie ein Schloss­hund.« Die Ruhe verschwand von ihrem Antlitz, und gleichzeitig schien sich eine ehrliche Traurigkeit auf ihr Gesicht zu legen. »Seit ich mich erinnern kann, hat Fritz immer mit seinem Wagen Gäste zu uns gebracht. Ich weiß nicht, wann er auf die Welt gekommen ist, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass er mindestens hundert Jahre alt sein muss. Armer Kerl, ich hoffe, dass er bald wieder auf die Beine kommt.«

Wieder eine solche Bemerkung. Kein Chauffeur war hun­dert Jahre alt, es sei denn, die Zeit wäre hier tat­säch­lich stehengeblieben. Cutter führte seine Hand sanft zwi­schen Margots Schenkel. Es gelang ihm mit dieser Be­wegung, die Trauer schlagartig aus ihrem Gesicht wegzu­wischen.

Entgegen seiner ursprünglichen Absicht verzichtete er darauf, weitere derartige, scheinbar unverfängliche Fragen zu stellen. Er befürchtete, dass er so nur weitere Antworten erhalten würde, die ihn mehr verwirrten, als dass sie Klar­heit schaffen konnten. Entweder war Margot eine begna­dete Lügnerin oder sie war wirklich derart ahnungslos und unschuldig, wie sie sich gab. So entschied er sich, mit der Türe ins Haus zu fallen.

»Glaubst du, dass Joanne und ich hier in Gefahr sind?«

Margot riss die Augen weit auf – noch nie in seinem Leben hatte Cutter derart riesige Augen gesehen – und starr­te ihn an. »Wie kommst du nur auf eine derart ver­rückte Idee?« Sie richtete sich mit nachdenklichem Gesicht auf und begann nun ihrerseits, Cutter sanft zu massieren. Sie fixier­te angestrengt seinen nackten Körper, blickte ihm dann in die Augen und fuhr fort: »Wir sind alle in Gefahr. Wir wähnen uns unser ganzes Leben lang in einer trü­ge­rischen Sicherheit. Wir glauben zu wissen, wie wir uns in dieser Welt behaupten können. Wir kennen den Raum und wir kennen die Zeit, in der wir uns bewegen. Doch wir alle sind Gefangene unserer Körperlichkeit und unserer Zeit. Wie Tiere, die lange in Gefangenschaft gelebt haben, so ha­ben auch wir panische Angst vor der Freiheit und vor der Wildnis, die uns draußen erwartet. Aus unserer Gefan­genschaft zu fliehen, würde für uns Menschen bedeuten, Raum und Zeit in Frage zu stellen. Dort, in einer anderen Welt, könnte es uns ergehen wie Zootieren in freier Wild­bahn: Wir könnten uns als absolut lebensuntauglich er­weisen. Langer Rede kurzer Sinn: Joanne und du, ihr seid nicht mehr in Gefahr als ich selbst und all meine anderen Gäste auch.«

Cutter überlegte sich, was Margot mit diesen Worten wohl sagen wollte. Waren sie nichts anderes als Ausdruck ihrer eigenen philosophischen Überlegungen, oder ver­steck­te sich dahinter so etwas wie eine Warnung? Cutters Gedanken wurde abgelenkt, als Margots Hände seinen Oberkörper hinunterwanderten, und überlagert von un­bändiger, urtümlicher Lust, als sie an ihrem Ziel angelangt waren.

*

Joanne öffnete die Türe zur Bibliothek. Kaum hatte sie den düsteren Raum betreten, fiel die Türe hinter ihr ins Schloss. Sie tastete nach dem Lichtschalter, den sie ir­gendwo rechts von der Türe vermutete, und betätigte ihn schließlich. Als das Licht anging, keuchte sie auf, blieb mit offenem Mund stehen und machte einen raschen Schritt nach hinten, bis sie mit dem Rücken gegen die Tür stieß. Überraschenderweise verlieh ihr das massive Holz in ihrem Rücken ein angenehmes Gefühl von Sicherheit.

Sie hatte nichts Besonderes erwartet, als sie das Wort Bibliothek an der Tür gelesen hatte. Einen gemütlichen Raum vielleicht, in dem sie sich in der Ecke eines alten Sofas einkuscheln, ein spannendes Buch lesen und dabei dem Plätschern des Regens vor dem Fenster zuhören konn­te. Doch nie hätte sie den Anblick erwartet, der sich ihr nun bot.

Der Raum war mindestens sechs Meter hoch und drei­mal so breit. Seine Länge konnte sie nicht abschätzen, da er nicht mehr zu enden schien. Zwischen Durchgängen von knapp einem Meter Breite erhoben sich Bücherregale bis an die Decke. Buch reihte sich darin an Buch, keinen Millimeter Zwischenraum freilassend.

Joanne musste an die Bibliothek von Alexandria den­ken, um die sich die Sagen rankten, oder an alte, längst zer­störte, geheimnisvolle Bibliotheken in Samarkand, oder an jene in den einflussreichen Klöstern Europas. Sie be­weg­te sich nicht. Sie fürchtete, dass sie mit einer einzigen Bewegung die ganze Pracht zum Einsturz bringen könnte.

Langsam atmete sie durch. Sie musste sich zwingen, sich von der Türe abzustoßen und einen ersten zögernden, vorsichtigen Schritt in den Raum hineinzumachen, dem sie rasch einen zweiten und dritten folgen ließ, bevor sie er­neut stehen blieb.

»Wahnsinn!«, stieß sie laut hervor. Erschrocken über ihre eigene Stimme und das Echo, das von der Decke zu­rückgeworfen wurde, presste sie die Hand auf den Mund, weil sie befürchtete, der Schall ihrer Stimme könnte den Büchern Schaden zufügen. Doch nichts geschah. Im Ge­gen­teil: Der Raum schien ihr Wort und sein schwaches Echo zu verschlucken.

Vorsichtig ging sie ein Regal entlang, blieb nach jedem Schritt stehen und berührte ehrfurchtsvoll die Buchrücken, be­vor sie den nächsten Schritt machte. Es schien kein Sys­tem zu geben, die Bücher schienen wahllos angeordnet zu sein. Ein abgegriffenes Buch mit Ledereinband über »Die Tierwelt Brasiliens« aus dem Jahre 1907 stand direkt ne­ben Goethes »Faust«. »Lady Chatterley« war nur durch ei­nen dünnen Gedichtband von der »Mystik im Christentum des Spätmittelalters« getrennt. Dicke wissenschaftliche Ab­handlungen aus dem 18. Jahrhundert standen zwischen mo­derner Literatur und Science-Fiction-Romanen des 21. Jahrhunderts.

Die Vielfalt überwältigte Joanne. Sie ergriff wahllos das erstbeste Buch, einen dünnen Band, der einen un­ge­le­senen Eindruck machte, und sah sich nach einer Sitz­ge­legen­heit um.

Mehr als einen altersschwachen Stuhl fand sie nicht. Vor­sichtig setzte sie sich. Der Stuhl knarrte protestierend, hielt jedoch ihrem Gewicht stand.

Sie schlug die erste Seite des Buches auf. »Reise bis ans Ende der Zeit« lautete der Titel. Als Er­schei­nungs­da­tum war das Jahr 1871 angegeben. Der Name des Au­tors wurde nicht erwähnt, stattdessen war eine Anmerkung des Verlegers abgedruckt, der entschuldigend darauf hinwies, dass es der Autor des Buches aufgrund des äußerst bri­santen Inhalts vorgezogen habe, anonym zu bleiben. Brie­fe an den Autor würde er jedoch gerne weiterleiten.

»Passender Titel«, dachte Joanne und schluckte zwei­mal leer, bevor sie zu lesen begann. Obwohl sie anfangs Mühe hatte, den Ausführungen zu folgen, die von vielen ma­thematischen Formeln unterbrochen waren, hatte das kleine Buch sie schon bald in seinen Bann gezogen. Sie las es bis zur letzten Seite durch, ohne ein einziges Mal ab­zusetzen. Als sie auch die letzte Seite gelesen hatte, schloss sie das Buch sorgfältig, ließ es auf ihre Knie sinken und schloss die Augen. War es ein Zufall, dass sie gerade dieses Buch ausgewählt hatte? Wenn nein – und es gab kei­nen vernünftigen Grund, nicht an einen Zufall zu glau­ben, hatte sie doch im wahrsten Sinne des Wortes beinahe unendlich viele Bücher zur Auswahl gehabt –, warum war sie gerade auf dieses Büchlein gestoßen?

Joanne nahm das Buch mit und machte sich auf die Su­che nach ihrem Vater. Als sie ihn nirgends finden konn­te, setzte sie sich in der Eingangshalle auf einen Stuhl.

Sie stöhnte auf, als sie sich das Knie an einem Holz­tischchen anschlug. Sie versuchte umsonst eine Sitz­po­sition zu fin­den, in der es ihr bequem war. Die Stühle schie­nen nur zu dem Zweck hergestellt worden sein, zu ver­hin­dern, dass sich jemand für längere Zeit in der Lobby niederließ.

Zum Glück tauchte in diesem Moment ihr Vater auf. Er war in Begleitung von Margot. Joanne musste lächeln. Die Ah­nung hatte sich also bestätigt, die sie befallen hatte, als sie – aus dem Badezimmer kommend – ihren Vater und Mar­got beobachtet hatte. Die Körpersprache der beiden ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei ihnen um ein Liebespaar handelte. Joanne war nicht schockiert. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie interessiert das Liebes­leben ihres Vaters beobachtet – auch oder gerade weil er alles unternommen hatte, um seine Liebschaften vor ihr zu verbergen. Anfänglich hatte sie ihn mit dem kindlichen In­teresse eines Mädchens, später mit den Augen einer pu­ber­tierenden Jugendlichen und schließlich mit jenen einer jungen Frau beobachtet. Doch hatte sie ihn nie darauf an­gesprochen und ihn immer im Glauben gelassen, dass sie von seinen Affären nichts ahnte.

Es war ihr nicht schwergefallen festzustellen, dass ihr Vater nach dem Tode ihrer Mutter weder willens noch in der Lage war, eine neue dauerhafte Beziehung zu einer Frau einzugehen. Die Häufigkeit, mit der er seine Ge­lieb­ten wechselte, erschreckte Joanne allerdings manchmal. Kei­ne die­ser Beziehungen dauerte länger als ein halbes Jahr, und sie hatte nie den Eindruck bekommen, dass sich ihr Vater wirklich um eine Beziehung bemüht hatte. Sie war sich rasch bewusst geworden, dass ihr Vater in dieser Hin­sicht kein Vorbild sein konnte. Vielleicht hatte das auch ihr Vater erkannt und verheimlichte aus diesem Grund die zahl­rei­chen Geliebten vor seiner Tochter.

Joanne beobachtete ihren Vater und Margot. Sie hatten sich an die Bar gelehnt und waren derart in ein Gespräch vertieft, dass sie die Umwelt nicht wahrzunehmen schie­nen.

Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, als sich Mar­got mit einem innigen Kuss von ihrem Vater ver­ab­schie­dete. Ihr Vater zögerte einen Moment, blickte sich dann in der Halle um und entdeckte Joanne. Er zeigte we­der eine Reaktion des Erschreckens, noch machte er den Eindruck, dass es ihm unangenehm war, ertappt worden zu sein. Ruhig kam er auf Joanne zu und setzte sich zu ihr. Erst als er sein Schienbein gegen den Tisch schlug, verzog er das Gesicht.

»Enttäuscht?«, fragte er, sein rechtes Schienbein mas­sie­rend.

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