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Joanne warf einen Blick hinein, und ihre Augen be­gan­nen zu strahlen. »Ich bin zuerst dran«, sagte sie, nahm ei­nige Sachen aus ihrem Koffer und schloss sich im Bade­zimmer ein.

»Ich geb dir eine halbe Stunde, nicht mehr!«, rief Cut­ter, der sich auch gerne den Schweiß vom Körper gespült hätte, noch hinter ihr her.

Ein lautes Lachen zeigte ihm, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis er sein Bedürfnis stillen konnte.

Auf ein Klopfen hin öffnete er die Türe.

Die Wirtin stand mit einem Tablett vor ihm. »Darf ich?«, fragte sie, und als Cutter einen Schritt zur Seite trat und ei­ne einladende Handbewegung machte, kam sie herein und stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch, der unmittelbar neben dem Fenster stand.

Cutter schloss unwillkürlich die Türe hinter der Wirtin und folgte ihr unsicher durch den Raum. Er spürte, dass mit der Frau ein bestimmtes Etwas eingetreten war, eine Au­ra, eine neue, unbekannte Atmosphäre, die den Raum erfüllte, Cutter faszinierte und ihn auf eine mystische Weise anzog.

»Ich habe einen hervorragenden Weißwein aus der Ge­gend mitgebracht«, sagte Margot. »Darf ich Ihnen ein Glas einschenken?«

»Gerne«, antwortete Cutter, »wenn Sie ein Glas mit mir trinken«. Er war von seiner Antwort selbst überrascht. Ers­tens trank er sehr selten Alkohol, höchstens ein Bier oder ein Glas Rotwein zum Essen, doch nie einen Aperitif, schon gar nicht am Ende eines heißen Tages. Und zwei­tens hatte er die Frau eigentlich nicht zum Bleiben auf­for­dern wollen.

Margot schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, ent­kork­te routiniert die Flasche, goss zwei Gläser ein und reichte ihm eines. Sie prostete ihm zu. »Auf einen schönen Auf­ent­halt in Österreich!«, sagte sie.

Cutter bedankte sich und nahm einen kleinen Schluck. Der Wein war ausgezeichnet. Zwei Minuten später hatte er sein Glas geleert und Margot schenkte nach. Sie hatten sich an den kleinen, runden Tisch gesetzt und unterhielten sich ungezwungen, während Cutter den belegten Broten zu­sprach.

Margot erzählte von ihrem Hotel, von dem schweren Stand, den ein kleines Gasthaus gegen die multinationalen Hotelketten hatte, und den Problemen mit dem Personal. Sie jammerte und beschwerte sich jedoch nicht, was sie Cut­ter noch sympathischer machte. Sie stellte lediglich eine Realität dar, mit der sie konfrontiert war, und brachte ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, die Schwierigkeiten zu überwinden. Dann nahm das Gespräch eine von Cutter kaum bewusst wahrgenommene Wendung. Er begann von sich selbst zu erzählen, von seinem Leben, seinem Beruf, und er wunderte sich selbst, wie offen er zu der ihm frem­den Frau sprach. Er sprach sogar von Jennifer. Cutter konn­te sich nicht erinnern, dass er je mit einem fremden Menschen über seine tote Frau gesprochen hatte.

Die Badezimmertüre öffnete sich und Joanne trat ins Zim­mer. Sie schien sich nicht über Margots Anwesenheit zu wundern; vermutlich hatte sie die Stimmen durch die Türe gehört. Sie trug nichts als ein überlanges T-Shirt, das ihr bis über die Knie reichte.

»Eine hübsche Tochter haben Sie«, sagte Margot und zauberte mit ihren Worten ein Strahlen auf Joannes Ge­sicht.

»Danke«, sagte Joanne und huschte an ihnen vorbei in ihr Zimmer.

»Zeit zu gehen«, sagte Margot, erhob sich, schüttelte Cutter die Hand und verließ das Zimmer.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte Cutter fest, dass er weit über eine Stun­de mit Margot gesprochen hatte. Die Zeit war ihm wie im Fluge vergangen.

Nachdem Cutter geduscht hatte, legte er sich auf das Dop­pelbett und streckte seine müden Glieder aus.

Joanne be­trat das Zimmer. »Darf ich die Nacht bei dir schlafen?«, fragte sie mit flehendem Blick.

Cutter hatte während des Gesprächs mit Margot Jo­annes miss­liche Situation fast vergessen. Ein Blick auf sei­ne völlig verunsicherte Tochter genügte, um sie sich wie­der ins Bewusstsein zu rufen. »Komm«, forderte er sie auf.

Joanne ließ sich neben ihm auf das Bett sinken und legte ihren Kopf dorthin, wo die Schulter ihres Vaters war. Es war ein seltsames Gefühl, das sie empfand. Es war, als ob ihr Kopf in der Luft schweben würde, und doch wurde er von einer unsichtbaren, nicht fühlbaren Kraft abgestützt. Sie war hellwach. Auch wenn es draußen längst dunkel war, sagte ihre innere Uhr, dass es Nachmittag war. Und ein dumpfes Gefühl, das ihr wie eine schwere Mahlzeit im Magen lag, beunruhigte sie.

»Bist du müde oder möchtest du reden?«, fragte Cut­ter.

»Reden!«

Cutter seufzte. »Die Dinge fangen an kompliziert zu wer­den.«

Joanne fuhr hoch. »Warum, was ist passiert?«

Cutter wollte Joannes Kopf nehmen und ihn sanft und beruhigend auf seine Schulter hinunterdrücken, aber na­tür­lich erreichte er mit seiner Bewegung nichts.

Joanne deu­tete den Versuch jedoch richtig und legte sich wieder hin. »Was ist denn passiert?«, fragte sie er­neut.

Er erzählte ihr von dem Zwerg und seinem fehlenden Spiegelbild und fragte dann: »Du hast der Wirtin doch die Hand gereicht. Was hast du gespürt?«

»Es war ein normaler Händedruck. Warum fragst du?«

»Das habe ich befürchtet«, erwiderte Cutter, ohne Jo­annes Frage zu beantworten. »Genau wie bei mir.«

»Und?« Joanne verstand nicht, worauf ihr Vater hin­aus­wollte.

Cutter holte tief Luft, bevor er zu sprechen begann.

Jo­anne brauchte einige Zeit, bis sie die Worte ihres Vaters richtig einordnen konnte. Als er eine Pause ein­leg­te, war sie verwirrt, vor allem aber zutiefst beunruhigt. Die Logik ihres Vaters war messerscharf, nur half ihnen seine Ana­lyse nicht weiter.

Der Zwerg war das erste Problem. Da er kein Spie­gel­bild warf, konnte er sich weder in Joannes Raum aufhalten noch in dem ihres Vaters. Ihr Vater vermutete, dass er sich in einem dritten Raum aufhielt, der überdies von einem der beiden anderen Räume überlagert wurde, so dass sein Spiegelbild einer optischen Interferenz zum Opfer fiel. Dies komplizierte in den Augen ihres Vaters ihre Lage be­trächt­lich.

»Jeder zusätzliche Raum erhöht die Komplexität um eine Potenz«, hatte er trocken erklärt.

Noch schlimmer war die Sache mit Margot. Sie hatte so­wohl ihrem Vater als auch ihr selbst die Hand geschüttelt und war beiden dabei real erschienen. Sie hielt sich also in beiden Räumen auf. Da sich ein Körper zu einem be­stimm­ten Zeitpunkt jedoch nur in einem Raum aufhalten konnte, blieben zwei Hypothesen: Entweder war Margot in der La­ge, von einem Raum in den anderen zu wechseln und das in­nerhalb von Sekunden zwischen zwei Handschlägen, oder sie befand sich in einem eigenen Raum, der sich mit Joannes Raum und dem ihres Vaters überschnitt.

»Beides ist eigentlich nicht möglich«, hatte ihr Vater sei­ne Ausführungen mit einem leisen Stöhnen beendet und sich dabei den Kopf gehalten.

Nach diesen Worten lagen sie schweigend neben­ein­ander. Noch immer lag Joannes Kopf auf der imaginären Schulter ihres Vaters, und wieder spürte sie dieses Gefühl der Nähe, das die Kluft zwischen ihnen zu überwinden schien.

»Und was heißt das alles nun?«, brach Joanne das Schweigen.

Cutter zuckte mit den Schultern.

Joanne sah seine Bewegung, konnte sie jedoch nicht fühlen.

»Es scheint, dass mehrere Räume ineinander verkeilt sind. Wir befinden uns mittendrin in dieser Grenzzone. Das allein ist schon schlimm genug, doch es kommt noch ein Aspekt hinzu, der mich echt beunruhigt.« Er wartete einige Sekunden. Erst als Joanne nicht reagierte, fuhr er fort: »Wenn die Räume sich überlagern, muss sich das gleiche Phänomen auch in der Zeit zeigen. Die Spur, die Pro­me­theus hinter sich hergezogen hat, ist unter diesen Um­ständen noch eine sehr harmlose Erscheinung. Es könnte sein, dass wir beide jeden Moment auch in zeitlicher Hin­sicht getrennt werden.«

»Wie muss ich mir das vorstellen?«, fragte Joanne mit belegter Stimme. Wieder sah sie das Zucken seiner Schul­tern.

»Vielleicht wachst du morgen früh auf und ich liege ne­ben dir. Allerdings hättest du möglicherweise Mühe, mich zu erkennen, weil ich sowohl ein Baby als auch ein Greis sein könnte.«

Trotz der Ernsthaftigkeit in der Stimme ihres Vaters muss­te Joanne lächeln. »Du als Baby, das könnte mir ge­fallen.«

»Ein altersschwacher Greis neben dir würde dir wohl we­niger Spaß machen«, nahm Cutter den Scherz auf.

Nach einer Weile fragte Joanne ihren Vater: »Warum weißt du das eigentlich alles? Ich habe das Gefühl, dass dich diese Situation nicht wirklich überrascht.«

Cutter bewegte sich unruhig. Er wich einer direkten Ant­wort aus. »Ich bin Physiker«, sagte er schließlich nur und wechselte dann rasch das Thema. Er sprach über Raum und Zeit, über die Relativitäts- und die Quan­ten­theo­rie, über die Unfähigkeit der Menschen, das Universum so zu erfassen, wie es wirklich war. Er versuchte ihr zu er­klären, warum es parallele Universen geben konnte und wa­rum die Zeit ebenso variabel war wie der Ort. Er zeigte ihr auf, dass der Mensch mit seinem eingeschränkten Ver­stand die Welt immer nur in Form von unvollkommenen, stark vereinfachenden Modellen interpretieren konnte, dass also alles, was sie je in Chemie, Physik oder einer anderen Naturwissenschaft gelernt hatte, nicht der Reali­tät, sondern nur dem Bild entsprach, das sich die Men­schen von der Realität machten. Um ihre Verwirrung noch zu vergrößern, schloss er mit den Worten: »Wir sind be­ses­sen davon, alles erklären, alles messen zu können, und haben doch bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts fest­stellen müssen, dass die Welt weder im Kleinen noch im Großen so funktioniert, wie wir uns das eigentlich vor­gestellt haben, und dass wir diese Zustände unmöglich mes­sen können, weil wir sie mit jeder Messung gleichzeitig auch verändern. Wir haben uns damit getröstet, dass diese verrückten Regeln eben nur im ganz Kleinen oder im ganz Großen Gültigkeit haben würden, und dass unsere reale Welt noch immer nach den alten Gesetzen der klassischen Physik funktioniert. Doch im Laufe der Zeit wurden die Zwei­fel an diesen Gesetzen im gleichen Maße größer, wie der Abwehrreflex der Menschheit zunahm.«

Joanne sah ihren Vater fragend an. Sie versuchte die Worte, die er aussprach, zu ordnen und zu verstehen, aber es gelang ihr nur teilweise. Doch dann erinnerte sie sich an ein Gespräch, das sie vor etwa vier Jahren mit ihrem Vater geführt hatte. Sie hatte damals mehr über seine Arbeit er­fahren wollen, über die Relativitätstheorie und die Quan­ten­mechanik. Ihr Vater hatte ihr als Erklärung eine ein­fa­che Geschichte erzählt, um ihr klarzumachen, wie un­be­greiflich die Welt um sie herum eigentlich war.

Sie hörte seine Worte noch genau, als ob er sie gerade eben erst zu ihr gesprochen hätte.

*

Ihr Vater führte sie in sein Arbeitszimmer, bat sie, auf ei­nem der Stühle um den großen Tisch Platz zu nehmen, setz­te sich neben sie und begann zu erklären, wobei er sich alle Mühe gab, nicht belehrend zu wirken.

»Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel aus deinem täglichen Leben. Du hast an einem bestimmten Tag zu ei­ner bestimmten Zeit, sagen wir am 26. Juni 2010, eine Ver­abredung mit Tom, deinem Freund. Da Tom in einem an­deren Viertel wohnt, muss er sich, um zu dir zu kommen, ins Auto setzen und durch die Stadt fahren. Im Auto, un­mit­telbar bevor er losfährt, telefoniert er noch mit dir. Ihr stellt beide fest, dass eure Uhren 17 Uhr 12 anzeigen. Tom hat verschiedene Routen zur Auswahl. Welche von ihnen er wählt, hängt von der aktuellen Verkehrssituation ab. Na­türlich weißt du, dass Tom den schnellsten Weg nehmen wird; trotzdem bist du überrascht, dass er bereits fünf­undzwanzig Minuten später bei dir ankommt. Auf deine Frage erklärt er, dass er die Straße dem Fluss entlang genommen hat, wo um diese Zeit nur schwacher Verkehr herrscht. Ihr vergleicht eure Uhren miteinander. Du emp­findest es als völlig normal, dass eure Uhren das gleiche Datum und die gleiche Uhrzeit anzeigen. Beide Uhren zei­gen natürlich immer noch den 26. Juni 2010 und – da Tom fünfundzwanzig Minuten unterwegs gewesen ist – als Zeit 17 Uhr 37 an. Später geht ihr gemeinsam ins Kino und anschließend eine Pizza essen. Während des Essens klin­gelt plötzlich dein Handy. Es ist Toms Mutter, die sich er­kundigt, wo Tom sich im Moment gerade befindet, weil sie möchte, dass er sie etwas später in der Stadt abholt. Du erklärst seiner Mutter wahrheitsgemäß, dass ihr am Pizza­essen seid.«

»Soweit bin ich mitgekommen«, hatte damals Joanne mit einem unverkennbar spöttischen Unterton gesagt, auch wenn sie gespannt war, was ihr Vater mit dieser banalen Geschichte erklären wollte.

Ihr Vater lächelte augenzwinkernd und fuhr dann fort: »Nehmen wir nun mal an, Tom und du wärt keine Menschen, sondern die kleinsten Teilchen, die existieren, Elemen­tarteilchen eben. Tom fährt also los, um möglichst rasch zu dir zu gelangen. Nach seiner Ankunft fragst du ihn, welchen Weg er denn heute genommen hat. Tom, der dich nie anlügen würde, erklärt, dass er alle möglichen We­ge gleichzeitig genommen habt: die Straße am Fluss ent­lang und die Stadtautobahn und die Straße durch das Zen­trum und den Weg über San Francisco, Houston, Mia­mi, Washington und New York und ... Obwohl du ihm kaum glauben kannst, gehst du mit ihm ins Kino und danach in die Pizzeria. Wieder ruft Toms Mutter an, während ihr ge­rade am Pizzaessen seid. Auch du kannst nicht lügen und erklärst seiner Mutter daher wahrheitsgemäß, dass du nicht sagen kannst, wo sich Tom gerade aufhält. Die Mut­ter hat eigentlich nichts anderes erwartet und bittet dich, ihm doch etwas auszurichten, falls du ihm an diesem Abend zufällig noch begegnen solltest. Nachdem du ihr mitgeteilt hast, dass die Wahrscheinlichkeit dafür bei sechzig Prozent liegt, verabschiedet sie sich von dir.«

»Was willst du damit sagen?«, hatte Joanne gefragt, die nun etwas nachdenklich geworden war.

»Physikalisch gesehen habe ich damit zwei Be­haup­tun­gen der Quantenmechanik aufgestellt, von denen die meis­ten Physiker glauben, dass sie wahr sind«, hatte Cut­ter erklärt. »Erstens, wir können nicht sagen, wo sich ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade aufhält, wir können nur eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit definie­ren. Zweitens, wenn ein Elementarteilchen von Punkt A zu Punkt B geht, so nimmt es nicht nur einen Weg, sondern es nimmt alle erdenklichen Wege gleichzeitig.«

Joanne richtete sich auf und blickte ihren Vater mit leicht besorgter Miene an. »Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Ich hab dir doch gesagt, dass die Welt im Kleinen verrückt ist!« Jetzt war es an ihrem Vater, eine Prise Spott in seine Stimme zu legen. »Aber gehen wir weiter. Ihr seid nun wieder normale Menschen, keine Elementarteilchen mehr, doch lebt ihr in einer Welt, in der es Fahrzeuge gibt, die sich beinahe mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen kön­nen. Tom ruft dich wie gehabt von seinem Handy aus an, bevor er abfährt. Aber er kommt nicht bei dir an, und du hörst nichts mehr von ihm, bis es zehn Jahre später eines Abends an der Türe klingelt. Vor dir steht Tom, der sich seit seinem Verschwinden kaum verändert hat. Du schimpfst mit ihm, fragst, wo er die letzten zehn Jahre gewesen ist, aber Tom zuckt nur ratlos mit den Schultern; er ist so rasch wie möglich zu dir gekommen. Ein Uhren­vergleich zeigt euch, dass ihr beide Recht habt: Auf Toms Uhr lest ihr das Datum 26. Juni 2010 und die Uhrzeit 17 Uhr 37 ab. Deine Uhr zeigt jedoch ebenso unzweifelhaft das Datum 26. Juni 2020 und die Uhrzeit 20 Uhr 12 an. Und doch ist keine der beiden Uhren defekt. Da du nun siebenundzwanzig Jahre alt bist und Tom immer noch acht­zehn ist, verzichtest du darauf, den Abend mit ihm zu verbringen.«

»Du meinst, auch das ist möglich?«, fragte Joanne vor­sichtig.

»Ja«, bestätigte er, »die Spezielle Relativitätstheorie be­sagt, dass für einen Menschen, der sich mit sehr hoher Geschwindigkeit fortbewegt – hoch nicht in menschlichen Begriffen, sondern verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit, die dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde beträgt – die Zeit langsamer vergeht als für jemanden, der stillsteht. Damit du keine falsche Vorstellung bekommst, muss ich allerdings noch zwei Dinge ergänzen. Erstens: Für Tom, der sich sehr rasch fortbewegt, wie auch für dich, die du scheinbar still stehst, vergeht die Zeit subjektiv betrachtet gleich schnell. Tom hat tatsächlich das Gefühl, nur fünf­und­zwanzig Minuten unterwegs gewesen zu sein – und er hat dabei auch wirklich nur fünfundzwanzig Minuten seines Lebens ›verbraucht‹ – und du hast tatsächlich zehn Jahre deines Lebens gelebt. Erst wenn du dich selbst mit Tom vergleichst, stellst du fest, dass er scheinbar weniger stark gealtert ist als du. Und zweitens: Wenn ich gesagt habe, dass du stillstehst, so ist das natürlich nicht korrekt. Keiner von uns steht still, doch maßgebend ist eben nicht primär unsere eigene Geschwindigkeit, sondern nur jene, die wir relativ zueinander haben.«

Ihr Vater legte eine Pause ein. Joanne wusste nicht, dass er in diesem kurzen Moment überlegte, was er ihr noch sagen sollte und was er besser für sich behielt. Er entschied sich dafür, ihr eine letzte Nuss zum Knacken zu geben: »Noch etwas Seltsames existiert in diesem Mikro­kos­mos. Wir nehmen wie selbstverständlich hin, dass es vier Dimensionen gibt: die drei Dimensionen des Raumes (rechts – links, vorne – hinten und oben – unten) sowie die Dimension der Zeit. Im Mikrokosmos ist das nicht mehr so. Es gibt mindestens neun Dimensionen des Raumes und ei­ne der Zeit. Ich vermute, auch wenn ich damit ziemlich alleine stehe und es nicht abschließend beweisen kann, dass es sogar noch eine Dimension mehr gibt, mög­li­cher­weise sogar noch viele, und dass vielleicht eine dieser zusätzlichen Dimensionen nicht eine Dimension des Rau­mes, sondern eine der Zeit ist. Du fragst dich nun vielleicht, warum wir diese Dimensionen nicht wahrnehmen können. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie beunruhigend: Die zusätzlichen Dimensionen sind im submikroskopischen Be­reich aufgewickelt, während die vier uns bekannten Di­mensionen abgewickelt und folglich für uns begreifbar sind. Sich auf einer der zusätzlichen Dimension, auf einer sol­chen ›Schlaufe‹, zu bewegen, würde bedeuten, immer wie­der den gleichen Raum zu durchschreiten, es sei denn, es wäre dir möglich, auf die nächste Schlaufe zu springen, die auch Teil dieser gleichen, aufgewickelten Dimension ist.«

Joanne verstand die letzten Worte ihres Vater nicht wirk­lich. Es schien ihr kaum möglich, sich einen solchen Zu­stand vorzustellen; man hätte ihn zeichnen müssen, doch selbst dann stünde man vor unüberwindlichen Schwie­rigkeiten. Wie sollte man eine fünfte oder sechste oder gar eine noch höhere Dimension auf einem zwei­di­men­sionalen Blatt Papier darstellen?

*

Damals war das für Joanne nur eine hübsche Geschichte gewesen, die sie vordergründig verstand, an die sie aber nicht wirklich glaubte. An diesem Abend erhielten die Aus­sagen ihres Vaters jedoch eine neue Bedeutung. Erstaun­licherweise beruhigte Joanne diese streng wissen­schaft­liche Sichtweise ihres Vaters. Sie versuchte sich in seine physikalische Welt zu versetzen. Im Laufe dieses erfolg­lo­sen Versuchs fiel sie in einen tiefen, traumlosen, erschöp­fungsähnlichen Schlaf.

Während sie schlief, dachte Cutter genau über jenes Gespräch nach, das ihr eben selbst durch den Kopf ge­gangen war. Er hatte sich damals überlegt, ob er seiner Tochter auch etwas über Schrödingers Gedanken­experi­ment mit seiner Katze erzählen sollte, hatte dann jedoch darauf verzichtet, da Joanne ohnehin schon reichlich ver­wirrt gewesen war. Heute war er froh darüber. Es wäre für Joanne in der momentanen Situation sicher sehr be­un­ruhigend gewesen, von einer Katze zu wissen, die gleich­zeitig tot und doch lebendig ist. Zu diesem Zeitpunkt konn­te Cutter noch nicht ahnen, dass Joanne in den kom­menden Tagen viel schlimmeren Dingen als Schrödingers Katze begegnen würde, und es hätte ihn entsetzt, wenn er gewusst hätte, dass er in wenigen Tagen den Zustand eines ihm lieben Menschen mit jenem von Schrödingers Katze vergleichen würde.

Etwas anderes beunruhigte ihn zutiefst. Und das war nicht Schrödingers Katze. Dieses Paradoxon glaubte er – wie auch die anderen Vertreter der theoretischen Physik – längst überwunden zu haben, auch wenn, wie eigentlich ge­rade er selbst am besten wissen sollte, einige letzte Zwei­fel daran bestehen blieben, ob das Rätsel der Katze wirklich abschließend gelöst war. Nein, er machte sich Sor­gen über sein eigenes Alter. Nicht dass Cutter besonders eitel gewesen wäre. Noch nie hatte er versucht, den Al­terungsprozess mit irgendwelchen künstlichen Mitteln zu ver­langsamen oder auch nur seine Auswirkungen zu über­tünchen. Doch stand er vor einem Problem, das unge­wohn­te Dimensionen angenommen hatte. Er fürchtete, dass er sein ganzes Wissen über Bord werfen musste, weil es ihn bei der Lösung des anstehenden Problems nur be­hinderte, und dass er gerade dazu aufgrund seines Alters nicht mehr in der Lage sein würde, weil seine große Er­fahrung ihn daran hinderte, frei zu denken.

Die großen Leistungen der Physik – namentlich auf den Gebieten der Relativität, der Quanten und der Strings, aber auch der Kosmologie – waren von jungen Wissen­schaft­lern erbracht worden, die unbelastet von Dogmen die alten, bisher gültigen Regeln über Bord geworfen und nach neu­en, unkonventionellen Antworten gesucht hatten. Keiner von ihnen – der große Einstein nicht ausgenommen – war Jahrzehnte später in der Lage gewesen, einen weiteren ver­gleichbar mächtigen Gedankenschritt zu machen.

Cutter selbst war über fünfzig Jahre alt. Sein Hirn war voll­gestopft mit Wissen. Vollgestopft mit Theorien, die er für richtig und wahr hielt, mit verworfenen Hypothesen, mit allgemeingültigen Formeln. Da war wenig Platz für einen Neuanfang. Kein Platz, an dem ein völlig neuer Gedanke den lebensnotwendigen Nährboden finden konnte. Er war zu alt. Dieser Umstand sprach zugunsten von Männern wie Prometheus – Cutter wusste noch immer nicht, was er von diesem Mann halten sollte, maß ihm aber eine große Be­deutung bei den aktuellen Ereignissen zu – und könnte für ihn selbst zu einem unüberwindlichen Handicap werden.

Er hatte seinen großen Moment bereits gehabt, hatte dort zu forschen begonnen, wo sich die anderen nicht mehr hingewagt hatten. Er selbst hatte es überlebt, doch Jennifer war dabei umgekommen. Er hatte keine Angst da­vor, dass ein nächster genialer Gedanke sein eigenes Le­ben beenden könnte. Was er befürchtete, war, dass er nie wieder einen solchen Gedanken haben könnte. Von einer Sekunde zur nächsten realisierte Cutter, dass genau das in den letzten Jahren sein Problem gewesen war. Er hätte Groß­artiges vollbringen können, hatte diese Fähigkeit je­doch seiner Liebe zu Jennifer geopfert. »Ja«, dachte er re­signiert, »du bist wirklich zu alt.«

Er warf Joanne einen liebevollen Blick zu und sprach halblaut vor sich hin: »Und du bist noch viel zu jung.«

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9783847634362
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