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Cutter ärgerte sich über O’Haras Ignoranz. O’Hara konn­te argumentieren, so lange er wollte; nie würde Cutter eingestehen, dass etwas anderes als die Physik und deren mathematisch definierbaren Gesetze am Ursprung alles Seins standen. Auch eine Hirnaktivität war nicht mehr als eine komplexe Abfolge von physikalischen und chemi­schen Prozessen, die letztendlich von den Grundgesetzen der Natur und der Beschaffenheit von Materie und Energie abhingen.

*

Der Mann hatte inzwischen die Lobby durchquert. Er blieb vor Cutter stehen, lächelte ihm freundlich zu und fragte: »Herr Cutter?«

Die Antwort blieb Cutter im Hals stecken, als er den zweiten Mann sah, der dem ersten dicht auf den Fersen ge­folgt war und erst jetzt in Cutters Sichtfeld geriet, als er einen Schritt zur Seite machte.

»Ein Zwerg«, fuhr es Cutter durch den Kopf, »und ein seltsamer dazu!«

Er betrachtete den Mann, der kaum einen Meter vierzig groß war und von dessen ansonsten kahlem Kopf nur noch ein paar isolierte Büschel grauer Haare wirr abstanden. Der Kopf, der auf einem unglaublich dünnen Hals saß, bekam durch die Schweinsaugen und das abgemagerte Ge­sicht mit den übergroßen, hervorstehenden Backen­knochen ein groteskes Aussehen. Der spindeldürre Körper, der im Entwicklungsstadium eines halbwüchsigen Kindes ste­ckengeblieben zu sein schien, war in eine zu große, schlaff herabhängende Uniform gehüllt, die den Zwerg als Fahrer eines Limousinen-Services auswies, der sämtliche Modeentwicklungen der letzten achtzig Jahre verpasst hat­te. Mit den Absätzen seiner schwarzen, glänzenden, über­dimensionierten Schuhe stand der Zwerg auf seinen Ho­sen­säumen.

Cutter zwang sich, den Blick von dem Zwerg ab­zu­wen­den; er wollte ihn nicht unhöflich anstarren. Stattdessen mus­terte er den anderen Mann, der noch immer mit fra­gendem Blick vor ihm stand. Der Gegensatz zwischen beiden konnte nicht frappierender sein und ließ den Zwerg noch kleiner erscheinen. Der Mann war über zwei Meter groß und hatte einen imposanten, muskulösen Körper. Seine Statur, verbunden mit dem strohblonden Haar, das leicht auf dem Kragen seines Hemdes aufstand, hätte jedem Teutonen zur Ehre gereicht. Obwohl er einen un­auffälligen, leichten Anzug und ein blassblaues Hemd mit of­fe­nem Kragen trug, fiel es Cutter schwer, in ihm den erwarteten Fremdenführer zu sehen. Sein offenes Gesicht wirkte freundlich, und er besaß eine Ausstrahlung, die ihn auf den ersten Blick sympathisch wirken ließ. Und doch glaub­te Cutter eine undefinierbare Gefahr zu spüren, die von ihm ausging. Der Versuch, diesen Eindruck zu kon­kre­tisieren, schlug fehl. So betrachtete Cutter den Mann auf­merksam, doch fiel ihm nichts weiter an ihm auf, ab­ge­sehen von einem massiven goldenen Siegelring mit drei ineinander verschlungenen Buchstaben, die Cutter jedoch nicht entziffern konnte.

»Ja, mein Name ist Cutter«, antwortete er.

»Freut mich.« Der Mann streckte ihm die Hand ent­gegen. »Nennen Sie mich einfach Prometheus. Ich bin Ihr Rei­seleiter. Ich werde Sie in den nächsten drei Wochen auf Ihrer Tour durch Europa begleiten.«

»Freut mich«, erwiderte Cutter seinerseits und schüt­tel­te dem Reiseleiter die Hand, ohne sich zu erheben, da der Kopf der schlafenden Joanne noch immer an seiner Schul­ter lehnte.

»Ein seltsamer Name«, dachte Cutter. Er hatte nicht ge­wusst, dass in Deutschland ein solcher Vorname exis­tierte. Natürlich kannte er die Sage von Prometheus, doch wer kam wohl auf die Idee, seinen Sohn nach dem Un­sterb­lichen zu benennen, den Zeus zur Strafe an einem Felsen des Kaukasus hatte anketten lassen und dessen im­mer wieder nachwachsende Leber von einem Adler ge­fressen wurde?

»Und das ist Fritz, unser Fahrer«, ergänzte Pro­me­theus, Cutters Gedanken unterbrechend, mit einem kur­zen, freundlichen Blick in Richtung des Zwerges.

Cutter begrüßte den Fahrer, was dieser mit einem Kopf­nicken quittierte.

Cutter war ein Mensch, der sehr viel auf den ersten Eindruck gab, den andere auf ihn machten. Er war damit sein ganzes Leben lang gut gefahren, hatte also keinen An­lass, diese Eigenheit gerade heute abzulegen. Pro­me­theus hatte eben bei ihm gepunktet. Manch anderer hätte eine versteckte abschätzige Bemerkung über den Zwerg ge­macht, doch Prometheus, das spürte Cutter, mochte die­sen kleinen, seltsamen Mann. Und doch blieb da dieses Gefühl der Gefahr, das Cutter mit dem Fremdenführer as­soziierte. Und Fritz, der Zwerg, verstärkte diesen Eindruck noch. Mit was für einem Paar würden sie die nächsten drei Wochen verbringen? Fremdenführer und Fahrer. Ein selt­sameres Team hatte er in seinem Leben noch nicht ge­se­hen, und Cutter war schon in aller Herren Länder gewesen und hatte genügend außergewöhnliche Situationen erlebt, um mehr als nur ein Buch damit füllen zu können. Schade, dass Joanne schlief. Er musste sie möglichst rasch fragen, was sie von den beiden Begleitern hielt. Ihre Men­schen­kenntnis war oftmals der seinen überlegen.

Cutter schob diese Gedanken beiseite. Er wollte eben Joanne wecken, als sein Blick erneut auf den Zwerg fiel, der sich den Koffern zugewandt hatte. Er klemmte sich die beiden kleineren Koffer links und rechts unter die Arme, packte dann die beiden schwersten und hob sie hoch, als ob es sich um leeres Handgepäck handelte. So schlurfte er zum Ausgang. Dabei hielt er die beiden großen Koffer mit fast waagerecht vom Körper abgespreizten Ar­men – eine durch die ungünstige Auswirkung des Hebel­ge­setzes ex­trem kraftaufwendige Haltung. Der Zwerg muss­te Muskeln aus Stahl besitzen, sonst wären ihm die Koffer längst ent­glitten. Cutter selbst wäre nicht in der Lage ge­wesen, die Kof­fer auf diese Weise weiter als zwei Meter zu tragen, ob­wohl er fast täglich im Kraftraum mit Gewichten trainierte.

Prometheus stand noch immer unschlüssig neben Cutter, als der Zwerg bereits durch die Türe verschwunden war.

»Gehen Sie schon vor«, forderte Cutter ihn mit einem Blick auf Joanne auf. »Wir kommen gleich nach.«

Prometheus schien auf eine seltsame Art erleichtert zu sein. Hastig machte er kehrt und folgte dem Zwerg. Erst jetzt fiel Cutter auf, dass der Reiseleiter das linke Bein leicht nachzog.

Cutter küsste Joanne auf die Stirn, und als sie darauf nicht reagierte, fuhr er ihr sanft über die Wangen.

»Aufwachen, Joanne«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir sind in München, es ist neun Uhr und wir sollten uns auf den Weg machen.«

Joanne richtete sich auf, wischte sich den Schlaf aus ihren großen, grünen Augen und streckte sich ge­räusch­voll. Erst jetzt, bei geöffneten Augen, wurde ihre ganze Schön­heit sichtbar. Ihre Augen bestimmten das Gesicht weit mehr als die wohlgeformte Nase oder die weichen Kon­turen ihrer Lippen.

»Ist unser Wagen schon hier?«, wollte sie wissen und blickte sich fragend um.

»Unsere Koffer sind schon draußen. Prometheus und Fritz warten dort auf uns.«

»Prometheus und Fritz?«, fragte sie.

»Unser Reiseleiter und der Fahrer«, erklärte Cutter. »Pro­metheus, der Reiseleiter, macht auf den ersten Blick ei­nen ganz normalen Eindruck, auf den zweiten Blick hat er jedoch eine Ausstrahlung, die mich etwas unsicher macht. Der Fahrer hingegen ist ein Kobold. Ich hoffe, er fährt besser, als er aussieht, sonst gnade uns Gott.«

»Schauen wir uns die beiden doch einmal an«, forderte Joanne ihn auf. Sie erhob sich und ging ihrem Vater vor­aus.

In der Auffahrt stand ein mächtiger, schwarzer, sechs­türiger BMW. Fritz hatte sich bereits hinter das Steuer ge­setzt, so dass Joanne ihn durch die getönten Scheiben nur schemenhaft erkennen konnte. Prometheus stand vor dem Wagen und riss die Türe auf, als er Cutter und seine Toch­ter das Hotel verlassen sah. Zu Cutters Überraschung hink­te er anschließend beinahe hektisch um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite ein, noch bevor sie bei der Limousine angekommen waren.

Joanne bemerkte nur noch einen Schatten, der hinter dem Wagen verschwand. Etwas an seinem Verhalten und an seiner Ausstrahlung, die sie in den wenigen Zehntel­sekunden gefühlt hatte, irritierte sie, doch es blieb ihr zu wenig Zeit, um darüber nachzudenken.

»Nette Menschen hier in Deutschland«, flüsterte sie Ihrem Vater zu. »Normalerweise wartet man doch wohl, bis die Gäste eingestiegen sind, und schließt dann die Tü­re hinter ihnen.«

Sie ließ ihrem Vater den Vortritt, stieg nach ihm in den geräumigen Fonds des Wagens ein und zog die Türe hin­ter sich zu. Augenblicklich setzte sich die Limousine bei­na­he geräuschlos in Bewegung.

Joanne sah sich um. Etwas stimmte nicht mit diesem Wagen. Ihr Blick fiel zuerst auf den großen Fern­seh­appa­rat, dann auf die gut ausgestattete Bar, die ihr Vater, der aus Prinzip nur sehr mäßig trank, kaum benutzen würde, und schließlich auf die einander gegenüberstehenden wie­chen Sitze, in denen sie beinahe versank. Ihr Vater und sie blickten in Fahrtrichtung. Der Reiseführer, der freundlich und doch etwas herausfordernd lächelte und ihr die Hand ent­gegenstreckte, saß ihrem Vater gegenüber.

Sie blickte am Reiseführer hoch und wollte ihm eben die Hand reichen, als sie einen Schlag verspürte, als ob sie gegen eine Wand gelaufen wäre. Sie musste sich da­zu zwingen, ihren Arm auszustrecken und Prometheus’ Hand zu ergreifen. Sie erwartete nichts Gutes von diesem Händedruck.

Trotzdem fuhr ihr der Schreck durch alle Glieder, als sie nichts spürte, obwohl sich ihre Finger um seine Hand schlossen. Genauso gut hätte sie der Luft die Hand schüt­teln können. Sie zog verunsichert die Hand zurück, wäh­rend ihr Prometheus einen verschwörerischen Blick zuwarf. Er zwinkerte ihr zu und legte den rechten Zeigefinger auf die Lippen. Er wollte, dass sie schwieg. Doch warum hatte er ihr die Hand entgegengestreckt? Wollte dieser seltsame und doch sympathische Fremdenführer, dass sie seine An­dersartigkeit bemerkte? Wenn ja, was bezweckte er damit? Sie überlegte fieberhaft, doch außer unzähligen Frag­men­ten von Fragen konnte sie keinen vernünftigen Gedanken formulieren.

Ihr Vater hatte nichts von diesem kurzen Intermezzo be­merkt. Er blickte auch nicht nach rechts, wo seine Toch­ter mit entsetztem Gesicht in die Ferne starrte und um Fas­sung rang.

Cutter unterhielt sich mit Prometheus über die be­vor­ste­hen­de dreiwöchige Reise. Ihre Rundfahrt sollte sie von Mün­chen aus noch heute nach Österreich führen, wo sie kreuz und quer durch das Land seiner Vorfahren reisen und schließlich über Ungarn, die Slowakei und Tschechien wieder zurück nach München fahren würden.

Es war eben eine kurze Pause eingetreten, als Pro­me­theus ohne die geringste Vorwarnung fragte: »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Herr Cutter?«

»Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich an ein Leben vor dem Tod glaube«, antwortete Cutter instinktiv und schein­bar zynisch, ohne auch nur einen Moment überlegt zu haben.

Eine Sekunde später hätte er sich dafür ohrfeigen kön­nen. Prometheus hatte ihn mit seiner unerwarteten Frage überrascht. Hätte man ihm die gleiche Frage in Amerika gestellt, so wäre ihm dieser Fehler nicht passiert. Im Land der sehr begrenzten unbegrenzten Möglichkeiten trugen im­mer mehr Menschen ihren Glauben auf der Zunge, ge­nauso wie sie ihn durch religiöse Sprüche auf ihren T-Shirts manifestierten. Zwischen Patriotismus und Religion war dort eine Art Symbiose entstanden, die es einem in­teressierten Beobachter unmöglich machte, ernsthafte Ge­spräche zu führen, ohne früher oder später beim Thema Religion zu landen. Doch hier waren sie in Deutschland, in Europa. Auf einem Kontinent, in dem ein Mensch, der re­gelmäßig in die Kirche ging, sich fast schon entschuldigen musste. Religion war bestenfalls Privatsache, die hinter ver­schlossenen Türen praktiziert wurde, wobei manche Prak­tiken eher an östliche Religionen erinnerten als an jene, denen der Stammvater Abraham gemeinsam war. So war denn auch in mehr Haushalten eine Buddhastatue an­zutreffen – und sei es nur als Souvenir eines Asien-Aufenthaltes – als ein Kruzifix.

Prometheus’ Frage war daher so überraschend für Cut­ter gekommen, dass er eine vorschnelle, viel zu per­sön­liche Antwort gegeben hatte, die Prometheus nur falsch interpretieren konnte. Weder wollte er in Abrede stellen, dass es ein Leben nach dem Tod gab, noch die Existenz der Menschheit als solche in Frage stellen. Natürlich hing der Tod letztlich mit der Frage nach der Körperlichkeit des Lebens zusammen, war es doch unbestreitbar, dass unser Körper nur für eine begrenzte Zeitspanne geschaffen war. Doch der Tod, wie auch das Leben selbst, setzte neben der Körperlichkeit noch etwas Weiteres voraus: die Zeit. Seit dreißig Jahren befasste sich Cutter als Physiker mit dem Phänomen von Raum und Zeit, doch erst vor gut zwölf Jahren hatten seine Frau Jennifer und er begonnen, an der Dimension Raum, wie die Menschen sie zu kennen glaubten, zu zweifeln. Da Raum und Zeit untrennbar mit­ein­ander verbunden waren, war es nicht überraschend ge­wesen, dass sie kurze Zeit später auch die Beschaffenheit der Zeit in Frage gestellt hatten. Diese Zweifel waren zur schmerzhaften Gewissheit geworden, als Jennifer starb. Seit jenem Ereignis lag er nachts oft wach im Bett und über­legte, wo die Seele seiner Frau sich in diesem Mo­ment wohl befinden mochte und in welcher Form Jennifer weiterexistierte. Diese Fragen waren bis heute offen­ge­blie­ben, war es ihm doch nie gelungen, sie befriedigend und widerspruchsfrei zu beantworten, weil er Jennifer sein Wort gegeben hatte, den letzten, entscheidenden Schritt nicht zu Ende zu führen, den er mit ihr begonnen und den seine Frau mit dem Leben bezahlt hatte. Hätte er den einmal ein­geschlagenen Weg weitergehen können – das wurde ihm in dieser Situation einmal mehr mit aller Brutalität bewusst –, so hätte er inzwischen vielleicht schon die Antwort auf diese uralte Frage gefunden.

»Eine gute Antwort, die vieles – wenn nicht alles – offenlässt«, sagte Prometheus mit einem kaum sichtbaren Lächeln um die Lippen. Er war offensichtlich mit der Ant­wort zufrieden. Elegant wechselte er das Thema und plau­derte über eine Belanglosigkeit, die in fast schmerzhaftem Kontrast zu der eben gestellten Frage stand. »Immer diese Baustellen«, sagte er und zeigte nach draußen. Der Wa­gen war beinahe zum Stillstand gekommen. Auf drei Spu­ren stauten sich die Fahrzeuge auf der Autobahn. »Unsere Politiker haben nichts Besseres zu tun, als alljährlich wäh­rend der Urlaubszeit möglichst viele Reparaturarbeiten auf den Autobahnen in Auftrag zu geben. Das Resultat sind kilo­meterlange Kolonnen wie diese hier«, schimpfte der Rei­seführer scheinbar echt entrüstet, um nur einen Atem­zug später erneut das Thema zu wechseln. »Die Zeit ist das Problem!«, sagte er beiläufig.

Cutter blickte ihn fragend an.

»Nun«, meinte Prometheus, »wenn es keine Zeit gibt, kann es auch kein Leben geben; weder vor noch nach dem Tod.«

Cutter zuckte zusammen. Prometheus bohrte weiter in sei­ner Seele, und Cutter spürte die Schmerzen wie bei ei­ner Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.

»Wie, glauben Sie, ist die Zeit beschaffen?«, ver­grö­ßer­te der Reiseführer erneut Cutters Schmerzen.

»Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier«, wich Cut­ter aus, »dann würde ich in Stockholm den Nobelpreis für Physik in Empfang nehmen.«

»Nicht mitten im Sommer«, grinste Prometheus, nur um gleich wieder ernst zu werden. »Was steht im Zentrum, Raum oder Zeit? Oder sind die beiden nicht vielmehr gleich­wertig?«, bohrte er weiter.

Cutter spürte, dass jetzt der Moment gekommen war, das Gespräch zu beenden, wenn er nicht riskieren wollte, die Tiefe seiner Seele vor diesem Fremden bloßzulegen oder sich in unlösbare Widersprüche zu verwickeln.

»Ich bin Physiker, wie Sie sicherlich den Unterlagen Ih­rer Firma entnommen haben«, erklärte er deshalb. »Raum und Zeit gehören zu meinem Fachgebiet. Doch da ich hier im Urlaub bin, möchte ich nicht über berufliche An­ge­le­gen­heiten sprechen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür.«

»Natürlich«, sagte Prometheus mit einem bedauernden Ausdruck. »Natürlich akzeptiere ich Ihren Wunsch.« Ohne zu zögern wechselte er das Gesprächsthema und begann über die Sehenswürdigkeiten Süddeutschlands zu spre­chen.

*

Joanne hatte zuerst geglaubt, dass es sich bei dem Frem­denführer um ein körperloses Wesen handelte, doch hatte sie zwischenzeitlich entdeckt, dass alles viel schlimmer war: Sie war nämlich mit einem Mal auch von ihrem Vater getrennt, obwohl sie im Fonds der gleichen Limousine saßen. Scharf wie die Klinge eines Rasiermessers und gleich­zeitig unscharf wie ein weicher, warmer Luftzug ver­lief irgendwo zwischen ihr und den beiden Männern eine Grenze. Auf ihrer Seite dieser Grenze war sie alleine, auf der anderen saßen ihr Vater, Prometheus und der Fahrer, der seinerseits durch eine Glasscheibe von den beiden Män­nern im Fond getrennt war.

Zum ersten Mal seit neun Jahren war sie von ihrem Vater getrennt. Die ersten acht Jahre ihres Lebens hatte sie ih­ren Vater kaum je zu Gesicht bekommen. Er war ein Workaholic gewesen, den sie höchstens einmal am Abend für einige Minuten oder an einem Wochenende für wenige Stunden gesehen hatte. So hatte sie nie einen Vater ge­habt, dem sie sich nahe und vertraut genug gefühlt hätte, um ihre kleinen Sorgen oder Geheimnisse mit ihm zu tei­len. Dann kam der unerwartete Tod ihrer Mutter, die Be­erdigung, bei der ihr Vater sie zum ersten Mal tröstend in die Arme geschlossen hatte, und die zehn dem Begräbnis fol­gen­den Tage, während denen ihr Vater verschwunden war. Niemand konnte ihr sagen, wo er sich aufhielt, nicht einmal ihre Großmutter, bei der sie nach dem Tod ihrer Mut­ter eingezogen war und die sich große Sorgen um ih­ren Schwiegersohn zu machen schien. In diesen zehn Ta­gen begann sie ihren Vater, zu dem sie zuvor ein emo­tions­loses Verhältnis gehabt hatte, zu hassen. Von Tag zu Tag wuchs der Hass auf ihn, bis dieses Gefühl die Trauer um den Verlust ihrer Mutter fast völlig verdrängt hatte.

Nach zehn Tagen tauchte ihr Vater wieder auf, ebenso überraschend und kommentarlos, wie er verschwunden war. Entgegen den Wünschen ihrer Großeltern und zu ih­rer eigenen beträchtlichen Überraschung schickte er sie nicht in ein Internat, sondern forderte sie auf, ihre Sachen zu packen, und fuhr mit ihr zurück in die gemeinsame Woh­nung.

Er gab seine Professur an der Universität auf, verkaufte seine zahlreichen Firmen, stellte all seine geschäftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten von einem Tag auf den anderen ein und kümmerte sich von diesem Moment an nur noch um seine Tochter, bis er zwei Jahre später be­hutsam, immer auf die Bedürfnisse seiner Tochter Rück­sicht nehmend, damit begann, sich eine neue Karriere auf­zubauen und seinen Platz in der Gesellschaft der Schönen und Reichen Montreals wieder einzunehmen.

Es vergingen Monate, in denen sie ihrem Vater mit of­fener Ablehnung und rebellischem Widerstand begegnete, bis der Hass in ihrer Seele allmählich der Liebe Platz mach­te. Heute waren sie unzertrennlich. Joanne glaubte nicht, dass es irgendwo auf diesem Planeten eine Tochter gab, die ein innigeres Verhältnis zu ihrem Vater hatte, auch wenn sie nie herausgefunden hatte – und auch nie den Mut aufgebracht hatte, ihn danach zu fragen –, wo er in den für sie so schweren zehn Tagen nach dem Begräbnis ihrer Mutter gewesen war.

Doch nun, in einem fremden Land, war sie von ihrem Vater getrennt worden. Die Trennung war tiefgreifend und schien – zumindest im Moment – unüberwindbar zu sein. Sie hatten sich nicht, wie es früher schon vorgekommen war, in einer Menschenmenge oder in einem Warenhaus aus den Augen verloren und sich dann wenige Stunden spä­ter im gemeinsamen Hotelzimmer wieder in die Arme geschlossen. Nein, sie saßen in der gleichen geräumigen Limousine und waren doch durch etwas getrennt, das Jo­anne nicht zu ergründen wagte.

Sie berührte die unsichtbare Grenze mit dem Zeige­finger und spürte, ohne davon überrascht zu sein, dass dort, wo sie diese vermutet hatte, gar keine existierte. Sie konnte ihren Finger ohne Widerstand über die Grenze hin­ausführen, bis er den Arm ihres Vaters berührte. Doch konn­te sie diese Berührung ebenso wenig spüren wie zu­vor den Handschlag des Fremdenführers. Sie glaubte nur, ein beinahe unmerkliches Kribbeln in ihrem Finger zu füh­len. Auch ihr Vater schien die Berührung nicht zu be­mer­ken; zumindest reagierte er in keiner Weise darauf.

Sie zog die Hand zurück und berührte den Türgriff, das Polster des Sitzes, auf dem sie saß, die getönte Scheibe der Türe und die kühle Colabüchse, die in einer Halterung steckte. All das konnte sie fühlen. Auch das Polster des Sitzes jenseits der imaginären Grenze leistete ihren tas­ten­den Händen Widerstand. Doch kaum glitt ihre Hand in Rich­tung ihres Vaters, fühlte sie sich an, als ob sie sich im luftleeren Raum bewegen würde. Das Auto war als Ganzes hier – wie hätte es sonst auch fahren sollen? Doch die bei­den Männer, jenseits der unsichtbaren Grenze, waren ih­rem Zugriff entzogen. Sie streckte ihren Fuß weit über die imaginäre Grenze hinaus und trat gegen den Boden. Kein Zweifel, der Fuß prallte mit einem dumpfen, kaum hörbaren Geräusch gegen den dicken, weichen Teppich, der den Bo­den der Limousine bedeckte.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Grenze weiter zu erforschen, wenn sie die Situation nicht tatenlos ak­zep­tieren wollte.

Sie brauchte einige Minuten, bis sie soweit war. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, atmete einige Male tief durch und hielt dann den Atem an. Langsam bewegte sie ihren Kopf auf die Grenze zu, kam ihrem Vater immer näher, bis ihre Stirn an der Schulter ihres Vaters angelangt war – und doch sendeten ihre Nerven keine Signale an ihr Gehirn, konnte sie den Körper ihres Vaters in keiner Weise füh­len.

Einen Sekundenbruchteil bevor sie das Entsetzen über­mannte, riss sie ihren Kopf heftig zurück. Sie ließ sich in den weichen Sitz sinken, schloss die Augen und atmete tief durch. Sie überlegte fieberhaft, doch fielen ihr nur zwei Interpretationen ein für das, was sie eben erlebt hatte: Sie war entweder wahnsinnig geworden, oder etwas ganz Un­glaubliches war mit ihr, mit ihrem Vater, ja möglicherweise mit der ganzen Welt geschehen. Je länger sie darüber nach­dachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr die Vari­an­te, selbst wahnsinnig geworden zu sein; sie war wesent­lich einfacher zu verstehen. Die zweite Möglichkeit er­schien ihr unnatürlich, zutiefst erschreckend, ja unge­heu­er­lich. Allein der Gedanke daran erschien ihr ebenso abartig wie blasphemisch.

»Wir sind gleich dort«, sagte Prometheus. »Es wird heute un­ser einziger Zwischenstopp sein. Danach fahren wir oh­ne Halt bis nach Österreich weiter, wo ich Sie für die Nacht in einem romantischen Hotel einquartieren werde.«

Cutter war froh, dass er den Wagen verlassen konnte. Aus einem Grund, der weit über die bohrenden Fragen des Reiseführers hinausging, fühlte er sich in der Limousine nicht wohl, und irgendetwas schien mit Joanne nicht zu stim­men. Sie saß ungewohnt unbeteiligt neben ihm und hat­te auf der ganzen Fahrt noch keine Silbe gesprochen. Gewiss, er hatte sie dazu überredet, nach Europa zu fliegen. Joannes Liebe galt dem spanisch sprechenden Teil des amerikanischen Kontinents. Sie wäre lieber in die Berge Guatemalas gefahren als nach Europa, das in ihren Augen ein durch und durch langweiliger, dekadenter Konti­nent ohne Kraft und ohne Visionen war.

»Du willst deine Ferien auf einem Kontinent verbringen, in dem die Menschen auf Schritt und Tritt einer großartigen Vergangenheit begegnen und doch jeden Gedanken daran verworfen, jede Rücksicht darauf längst aufgegeben ha­ben, genauso wie sie den Glauben an ihre Zukunft für ein paar ebenso unbedeutende wie kurzfristige wirtschaftliche Vorteile weggeworfen haben. Was willst du dort? Deine Wur­zeln suchen? Die sind längst mit Stumpf und Stiel aus­gerottet worden. Alles, was du finden wirst, wird eine große Leere sein, die du nach Kanada mitnehmen oder besser noch im leeren Europa zurücklassen kannst«, hatte Jo­anne gesagt und dabei jedes Wort mit eleganten Hand­bewegungen unterstrichen.

Cutter hatte seine ganze Überzeugungskraft auf­ge­wandt: »Mein Großvater ist mit seiner Familie nach dem Zwei­ten Weltkrieg von Österreich nach Kanada aus­ge­wan­dert. Du willst doch sicher auch einmal sehen, wo die Wur­zeln unserer Familie liegen. Sie sind dort, du musst nur bereit sein, sie auch zu sehen. Und etwas verspreche ich dir: So langweilig und dekadent, wie du glaubst, ist Europa ganz gewiss nicht.«

Joanne hatte wenig überzeugt nachgegeben, nachdem Cutter ihr versprochen hatte, dass die nächste gemein­sa­me Reise sie nach Mittelamerika führen würde. Doch dass sie deswegen nun schlechter Laune war und – mehr noch – diese Laune so offen zeigte, wunderte Cutter sehr, denn eigentlich passte ein solches Verhalten nicht zu ihrem Charakter. Gewiss hatte Joanne einen Dickschädel und war zwei­fellos nicht weniger starrsinnig als ihr Vater, doch wenn sie sich einmal – und sei es noch so widerwillig – zu etwas entschlossen hatte, so bewirkte dieselbe Eigen­schaft auch, dass sie die Sache durchzog, ohne lange mit dem Schicksal zu hadern.

Auf ihr unüblich ruhiges, distanziertes Verhalten an­ge­spro­chen, grinste Joanne nur leicht gequält. »Der Jetlag«, log sie.

Cutter kannte sie gut genug, um zu spüren, dass das nicht die ganze Wahrheit war, doch insistierte er nicht wei­ter. Wenn es für ihn von Bedeutung war, so würde ihm Jo­anne den Grund für ihr Verhalten aus freien Stücken mit­teilen, wenn sie die Zeit für gekommen hielt. So folgte er Prometheus, der nicht zu viel versprochen hatte, als er von diesem Ort in den höchsten Tönen geschwärmt hatte.

Vor einigen Jahren hatten Bauarbeiter hier im Osten des Bun­deslandes Bayern die Überreste einer mittelalterlichen Siedlung freigelegt. Die Archäologen waren derart be­geis­tert von den sensationellen Funden gewesen, dass sie be­wirkten hatten, dass die Autobahn um einige Hundert Me­ter weiter nach Norden verlegt wurde und so das Gebiet der ehemaligen Siedlung der Nachwelt erhalten blieb.

Die Siedlung war zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert bewohnt gewesen, war mehrmals niedergebrannt, schließ­lich von einer letzten Feuersbrunst zerstört und dann auf­ge­geben worden. Die Überreste des Städtchens waren im wasserdurchsetzten, moorigen Boden überraschend gut kon­serviert worden. Nach fünf Jahren intensiver Aus­gra­bungs­arbeiten hatten sich die Wissenschaftler ent­schie­den, die Siedlung zu rekonstruieren.

So war eine mittelalterliche Kleinstadt entstanden, in der alle Aspekte des Alltags jener Zeit aufgezeigt wurden. Die verantwortlichen Wissenschaftler hatten bewusst dar­auf verzichtet, den Besuchern ein Spektakel à la Disney­land zu bieten. Sie stellten die Siedlung so dar, wie sie nach den Resultaten der Ausgrabungen und dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung einmal aus­ge­se­hen haben mochte. In den einzelnen Vierteln war die Stadt jeweils so dargestellt, wie sie in einer bestimmten Periode zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert ausgesehen hatte. Ein Gang durch die Stadt war also gleichzeitig auch ein Gang durch die Zeit, ein Gang durch die Geschichte. So zeigte sich in den ersten Vierteln, die die frühe Zeit des Städtchens darstellten, ein recht trostloses Bild einer ärm­lichen Siedlung, während das letzte Viertel bereits recht schmucke, wenn auch einfach gebaute Häuser aufwies.

Die Szenen wurden zusätzlich durch verschiedene De­monstrationen aufgelockert, bei denen mittelalterlich ge­klei­dete Mitarbeiter Handwerk und Brauchtum einer längst vergangenen Zeit neu aufleben ließen.

Gerade diese Schnörkellosigkeit beeindruckte Cutter. Er folgte interessiert den Ausführungen eines Führers, den Prometheus für sie angeheuert hatte.

Joanne ging mit etwas Abstand hinter den drei Män­nern her. Sie wollte nicht hören, was der Führer ihnen er­zählte. Sie hatte eine ungleich wichtigere Entdeckung ge­macht, von der sie gleichermaßen fasziniert wie entsetzt war: Prometheus zog wie ein Motorschiff auf dem ruhigen Wasser eines Sees eine Spur hinter sich her, die un­mit­tel­bar hinter ihm deutlich zu erkennen war, sich dann zu bei­den Seiten ausbreitete, mit zunehmender Entfernung all­mäh­lich schwächer wurde und schließlich völlig ver­schwand. Unter dieser Spur kamen wie eine Fata Morgana Bilder aus einer anderen Zeit zum Vorschein. Es war zwei­fellos die gleiche Siedlung, die sie durch diese Spur hin­durch sah, doch war sie noch elender als ihre Nachbauten. Die Straße bestand aus einer Schlammbahn, durch die in Sackleinen gekleidete Menschen mit nackten Füßen hastig stapften, während ein mit Schnee durchmischter kalter Re­gen auf sie niederprasselte. Die Häuser waren nicht mehr als Bretterbuden, die nur ungenügenden Schutz gegen die Witterung boten. Bei einzelnen Häusern drang dichter Rauch aus einer Öffnung im Dach und zwischen den Rit­zen in den Wänden hindurch, die nur unzureichend mit Moos abgedichtet waren.

Joanne vergrößerte ihren Abstand zu den Männern etwas mehr, um einen breiteren Bereich von Prometheus’ Spur überblicken zu können. Dies hatte den Vorteil, dass sie einen besseren Überblick über die Szene erhielt, je­doch den Nachteil, dass die Bilder undeutlicher wurden, je weiter sie von Prometheus entfernt waren.

Dann wurde von einer Sekunde zur nächsten das Bild völlig klar, als ob Joanne mitten in dieser Welt stehen wür­de. Schreiende Menschen rannten in Panik an ihr vorbei, als links und rechts von ihnen eine Hütte nach der anderen Feuer fing. Ein starker Wind trieb das Feuer unaufhaltsam von einer der eng beieinanderstehenden Hütten zur nächs­ten. Die wenigen Menschen, die eine Schlange gebildet hat­ten und mit Wasserkrügen versuchten, das Feuer zu stop­pen, standen auf verlorenem Posten. Bald mussten auch sie dem Feuer weichen. Nach wenigen Minuten stand Joanne allein inmitten von rauchenden Trümmern, und nur von ferne drang das Wehklagen der Menschen an ihr Ohr. Sie zwang sich, einige Schritte zur Seite zu machen. Da­durch bewegte sie sich aus der Spur hinaus, die Pro­metheus hinter sich herzog. Sobald sie die Spur verlassen hatte, befand sie sich wieder in der Gegenwart, inmitten von lauten, fröhlichen Touristen, die durch die enge Gasse in Richtung des Dorfplatzes strömten und in ihrer Sorg­losig­keit nichts von dem ahnten, was Joanne soeben erlebt hatte und was sich, so vermutete Joanne, hier vor einigen Hundert Jahren tatsächlich abgespielt hatte.

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9783847634362
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