Joanne vermied es, erneut in den Sog von Prometheus zu treten. Sie hatte für den Moment genug gesehen und genug zu überlegen. Was ging hier vor? Und vor allem: Wie sollte sie ihrem Vater oder irgendeinem Menschen auf dieser Erde erklären, was sie erlebt hatte? Der Gedanke, dass sie wahnsinnig war, drohte allmählich zur schrecklichen Gewissheit zu werden.
»Dort drüben gibt es ein Restaurant mit Spezialitäten, wie sie unsere Vorfahren im Mittelalter gegessen haben mögen. Ich habe Ihnen einen Tisch reserviert«, sagte Prometheus, als sie auf dem Dorfplatz angekommen waren, der von kleinen Läden gesäumt war, und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einige Holzgebäude, die etwas abseits standen. »Genießen Sie das Essen und schauen Sie sich noch etwas um. Wir treffen uns in spätestens zweieinhalb Stunden beim Wagen. Bitte seien Sie pünktlich, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Mit diesen Worten entfernte er sich. Joanne schaute ihm mit besorgtem Gesichtsausdruck nach. Noch immer zog er die unerklärliche Spur hinter sich her. Joanne schloss rasch die Augen. Sie hatte genug gesehen und keine Lust, noch einmal in die Vergangenheit zu blicken. Sie folgte ihrem Vater in eines der Restaurants, wo sie sich einen Wildschweinbraten bestellten, zu dem dunkles, grobes Roggenbrot serviert wurde. Sie aßen schweigend, Cutter mit sichtlich großem Appetit, während Joanne sich zwingen musste, etwas zu sich zu nehmen, obwohl sie zugeben musste, dass das Schweinefleisch außerordentlich zart und würzig war und sie noch nie in ihrem Leben ein derart schmackhaftes Brot genossen hatte.
Als sie das Essen mit einem erfrischenden, gekühlten Kräutertee abschlossen, sah Cutter seine Tochter ernst an. »Joanne, etwas stimmt nicht mit dir! Was ist los? Du wirkst völlig desinteressiert; ist es wirklich so schlimm hier in Europa?« Er streckte den Arm aus, um seine Hand auf die ihre zu legen.
Reflexartig zog Joanne ihre Hand zurück und hob abwehrend beide Hände.
Ihr Vater starrte sie erschrocken und verständnislos an. »Mein Gott, was ist mit dir?«, stammelte er überrascht. Das Mädchen, das ihm gegenübersaß, reagierte völlig unverständlich. Er konnte sich nicht erinnern, Joanne in den letzten Jahren je so erlebt zu haben.
Joanne blickte ihn aus ernsten, traurigen Augen an. »Es ist schwierig, es dir zu erklären«, antwortete sie mit kaum hörbarer Stimme.
»Versuch es trotzdem«, forderte ihr Vater sie auf. Er war froh, dass Joanne wieder vernünftig mit ihm sprach. »Wir haben Zeit und ich bin ganz Ohr.«
Joanne überlegte fieberhaft, doch die Worte fehlten ihr. Es gab keine passenden Worte, weder für das, was sie empfand, noch für das, was sie erlebt hatte. Ihr Vater musste es selbst fühlen, nur dann würde er verstehen können. Doch Joanne hatte Angst. Angst davor, dass ihr Vater etwas fühlen könnte, und noch mehr Angst davor, dass er ebenso wenig fühlen könnte wie sie selbst.
»Mir fehlen die Worte«, wiederholte sie mit rauer Stimme. Langsam, vorsichtig legte sie ihre linke Hand auf den Holztisch. Sie blickte ihrem Vater tief in die Augen, in denen sich die Sorge um seine Tochter spiegelte. »Leg jetzt deine Hand auf meine. Aber sei nicht überrascht, was immer auch geschehen mag.«
Cutter zog überrascht die Augenbrauen hoch, tat dann jedoch, worum ihn seine Tochter gebeten hatte. Er streckte den Arm aus und berührte Joanne. Nachdem er zweimal zugegriffen und versucht hatte, Joannes Hand zu umfassen, war es an ihm, seine Hand mit einem Ruck zurückzuziehen. Eine grenzenlose Verblüffung legte sich auf sein Gesicht. Vorsichtig streckte er die Hand erneut aus. Seine Finger zitterten dabei deutlich. Er berührte Joannes schlanke Hand – oder genauer gesagt: er berührte sie eben nicht, obwohl seine Hand jetzt auf der ihren lag. Zumindest fühlte er keine Berührung. Er fühlte nichts. Und doch berührte seine Hand ihre Finger, das konnte er deutlich sehen. Seine Sinne verwirrten ihn. Sein Tastsinn sendete eine Information an sein Gehirn, seine Augen eine andere. Gemeinsam ergaben die beiden Informationen keinen Sinn, konnten von seinem Gehirn nicht korrekt verarbeitet werden.
Cutter wäre dieser Situation wohl hilflos gegenübergestanden, wenn er sich nicht an eine Begebenheit erinnert hätte, die sich während seiner Studienzeit zugetragen hatte. Mit einigen seiner Kommilitonen hatte er sich auf einer Party einen Spaß daraus gemacht, den Gästen grasgrüne Erdbeeren, dunkelblaue Gurken und rote Kiwi zum Kosten zu geben, die sie mit harmloser Lebensmittelfarbe behandelt hatten. Die meisten Gäste hatten – irritiert durch die ungewohnte Farbe – Mühe gehabt, die Nahrungsmittel aufgrund ihres Geschmacks und Aussehens zu erkennen. Sobald sie jedoch die Augen schlossen und sich ausschließlich auf den Geschmack der Speisen konzentrierten, errieten die meisten von ihnen, was sie gerade aßen.
Sein Erlebnis hier war ähnlich geartet. Zwei Sinne sendeten unterschiedliche Signale. Also ging es nun nur darum, das echte vom falschen Signal zu unterscheiden, dann würde sich das Rätsel auflösen. Er war schließlich Wissenschaftler. Mit einem wissenschaftlichen Vorgehen konnte er zweifellos eine Erklärung für dieses scheinbare Paradoxon finden.
Cutter zog langsam seine Hand zurück. Er beobachtete Joannes Hand, die noch immer unbeweglich auf dem Tisch ruhte. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihre Hand auf dem Tisch lag. Es gab keinen Grund, an eine optische Täuschung zu glauben. Sie saßen im Schatten unter einem Strohdach, das sie vor der prallen Mittagssonne schützte. Das Licht war etwas diffus, doch Joannes Hand war deutlich sichtbar. Vorsichtig streckte er seine Hand wieder aus. Hätte er mit seiner Hand durch Joannes hindurchgreifen können, so hätte ihn das nicht völlig überrascht. Des Rätsels Lösung wäre damit gefunden gewesen: Es hätte sich bei Joanne um ein perfektes Hologramm handeln können. Irgendjemand hätte sich dann mit ihm einen ebenso üblen wie geschmacklosen, wenn auch sündhaft teuren Scherz erlaubt. Doch er konnte nicht durch Joannes Hand hindurchgreifen; er blieb auf geheimnisvolle Weise stecken, ohne dass sein Tastsinn irgendein Signal an sein Hirn gesendet hätte. Er fuhr Joannes Hand entlang, den Unterarm hinauf, er lehnte sich über den Tisch, ergriff ihren Oberarm und drückte mit aller Kraft zu. Es gelang ihm nicht, seine Hand zu schließen, und trotzdem spürte er keinen Widerstand. Und Joanne, die normalerweise unter dem harten Griff seiner Hand aufgeschrien hätte, verzog keine Miene.
Joannes Körper war real. Ein uraltes physikalisches Gesetz besagte, dass sich nicht zwei Körper am gleichen Ort befinden konnten. Es war also nicht verwunderlich, dass seine Hand nicht durch Joannes Körper hindurchgreifen konnte. So etwas war höchstens in drittklassigen Gruselfilmen möglich.
Doch gab es ein anderes physikalisch-biologisches Gesetz, das besagte, dass bei der Berührung zwischen zwei menschlichen Wesen Reize an die Gehirne der Betroffenen gesendet werden, die diese als Berührung interpretieren. Aber nichts dergleichen geschah; sein Tastsinn schien nicht mehr zu funktionieren. Und doch – wenn er den Tisch berührte, konnte er das raue Holz fühlen. Nur Joanne schien auf eine geheimnisvolle Weise immateriell zu sein. Panik stieg in ihm auf und vernebelte seine Sinne.
»Kannst du mich fühlen?«, fragte er, nachdem er kräftig gehustet hatte, um seiner Stimme wieder einen menschlichen Klang zu verleihen.
»Nein.« Joanne schüttelte heftig den Kopf und erzählte dann ihre Erlebnisse von dem Zeitpunkt, an dem sie in die Limousine gestiegen war, bis zum dem Moment, als sie in Prometheus’ Sog geraten war.
»Wahnsinn!«, stieß Cutter hervor. »So was gibts doch nicht!« Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Es gibt nur eine vernünftige Erklärung dafür, aber die ist zu phantastisch, um wahr zu sein.«
»Welche denn?« Es gab viele Eigenschaften, die Joanne an ihrem Vater bewunderte, doch am stärksten imponierte ihr, dass er sich zeitlebens mit Dingen beschäftigt hatte, von denen die meisten Menschen keine Ahnung hatten. Er hielt an der Universität Vorlesungen zur Quantentheorie, denen nur die wenigsten Studenten und lange nicht alle Professoren folgen konnten. Auch sie selbst verstand nur oberflächlich, wenn ihr Vater über sein Studiengebiet sprach, selbst wenn er sich Mühe gab, seine phantastische Welt mit einfachen Worten zu erklären, und dennoch übte diese Welt, in der Zeit und Raum zu verschmelzen schienen, eine faszinierende Anziehungskraft auf sie aus. Trotzdem war sie überrascht, dass ihr Vater sogar in einer derart ungewöhnlichen Situation eine Erklärung praktisch aus dem Ärmel schütteln konnte. Sie hörte ihm konzentriert zu, als er zu erklären begann.
»Wir befinden uns in zwei unterschiedlichen Räumen, die nebeneinanderliegen. Die Grenze ist durchlässig für Licht, jedoch nicht für Materie. Ich kann dich also sehen, aber nicht berühren, weil meine Hand die Grenze zwischen den Räumen nicht durchdringen kann. Sie bleibt gewissermaßen in einem Zwischenraum stecken. Das ist noch nie vorgekommen, oder zumindest noch nie dokumentiert worden, aber unmöglich ist es nicht. Fragt sich nur, wie du es geschafft hast, die Grenze zu überwinden und in einen anderen Raum zu gelangen.«
Joanne wurde schwindelig. Ihr Vater hatte mit diesen wenigen, schlichten Worten eine Ungeheuerlichkeit ausgesprochen, so gelassen, als ob er ihr die Reiseroute des Nachmittags geschildert hätte. Immerhin wusste sie nun, dass sie nicht wahnsinnig geworden war, sondern dass die Welt um sie herum begonnen hatte, verrückt zu spielen. Dieser Gedanke beruhigte sie zuerst ein wenig, doch als sie kurz darüber nachgedacht hatte, kam sie zu dem Schluss, dass dies doch die schlimmere der beiden Varianten war.
»Und der Sog hinter Prometheus, wie passt der ins Bild?«, wollte sie wissen. Joanne glaubte – sehr bald würde sie diesen Glauben ablegen –, mit jedem Mehr an Wissen die Situation ein klein bisschen besser in den Griff bekommen zu können.
»Du kannst mir tausend Fragen stellen, meine Antworten wären meist nichts als reine Spekulationen.« Cutter legte eine kurze Pause ein, während der er die Fachbegriffe in eine allgemeinverständliche Sprache übersetzte. »Die Wissenschaftler haben früher vermutet, dass es zu Rissen in der Raumzeit kommen könnte. Diese Lehrmeinung ist jedoch schon längst revidiert worden. So etwas dürfte eigentlich nicht vorkommen. Aber wer weiß, wir haben schon so oft unsere Meinung geändert, warum nicht einmal mehr?«
»Raumzeit?«, fragte Joanne. Natürlich hatte sie als Tochter eines Physikers schon von diesem Begriff gehört, den Einstein vor Jahrzehnten geprägt hatte, doch schien er ihr in diesem Zusammenhang keinen Sinn zu machen.
Cutter überlegte einen kurzen Moment, bevor er zu erklären begann: »Jedes Objekt, also auch jeder Mensch, nimmt Raum und Zeit auf eine ganz eigene Art war. Früher haben wir geglaubt, Raum und Zeit seien so etwas wie Konstanten, die für jedes Objekt identisch sind. Mit der Relativitätstheorie ist das etwas schwieriger geworden. Wenn nun also jeder Mensch Raum und Zeit individuell wahrnimmt, so stellt sich die Frage, wie denn Raum und Zeit wirklich gestaltet sind. Gibt es überhaupt den Raum und die Zeit, oder werden Raum und Zeit gewissermaßen erst durch den Beobachter geschaffen? Die Antwort ist klar: Es gibt Raum und Zeit, sie sind nicht relativ! Das ist übrigens auch der Grund, warum Einstein den Begriff ›Relativitätstheorie‹ eigentlich abgelehnt hat. Jedes Objekt – also auch jeder Mensch – nimmt die Zeit aus einem bestimmten Blickwinkel wahr, sieht also eine andere Perspektive der gleichen Realität. Um diese Realität, Raum und Zeit eben, beschreiben zu können, genügen die herkömmlichen Methoden nicht mehr. Die Physiker mussten einen neuen Begriff einführen, jenen der Raumzeit eben, mit dem die reale Welt ein-eindeutig beschrieben werden kann, völlig unabhängig von der Position, die ein Beobachter gerade einnimmt.«
Cutter blickte seine Tochter prüfend an, um sich zu vergewissern, dass sie verstanden hatte. Einige Falten auf ihrer Stirn zeigten ihm, dass sie noch dabei war, das Gehörte zu verarbeiten.
Er machte deshalb eine kleine Pause, bevor er mit seinen Erläuterungen fortfuhr: »Wie gesagt haben die Überlegungen der Physiker gezeigt, dass es immer wieder zu Rissen in der Raumzeit kommt, doch besagt die gleiche Theorie, dass solche Risse unmittelbar nach ihrem Entstehen wieder repariert werden. Es würde zu weit führen, dir den Mechanismus zu erklären; glaub mir einfach, dass die Materie – genau gesagt die kleinsten Teile, aus denen sich die Materie zusammensetzt – derart beschaffen ist, dass dieses Phänomen im gleichen Moment behoben wird, in dem es auftritt. Doch vielleicht«, fügte Cutter nachdenklich hinzu, »ist diese Theorie ja auch falsch und die Risse werden nicht in jedem Fall geflickt. Dann würde es an einer solchen Grenze möglicherweise auch Turbulenzen geben und Raum wie Zeit würden instabil werden.«
Cutter lächelte verlegen. »Soweit der etwas hilflose Versuch deines Vaters, eine einfache Frage zu beantworten.«
Joanne schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie hatte nicht die geringste Lust, über einen solchen Wahnsinn auch nur eine Sekunde länger nachzudenken, zumal solange sie selbst in diesem Riss der Raumzeit gefangen war. Sie hatte die Worte ihres Vaters verstanden, doch überstieg die von ihm skizzierte Möglichkeit ihr Vorstellungsvermögen. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, so musste sie zugeben, dass sie gar nicht verstehen wollte, dass sie sich schlichtweg weigerte, eine solche Ungeheuerlichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
Während Joannes Verwirrung weiter zunahm, hatte sich Cutters Panik etwas gelegt. Gewiss, das Phänomen, dem sie ausgesetzt waren, war im höchsten Maße ungewöhnlich und beunruhigend, doch letztlich war es nur eine physikalische Aufgabenstellung, der er sich gegenübersah. Trotzdem war er tief im Innern beunruhigt und in höchstem Maße nervös. Ja, er spürte, wie erneut die kalte Angst in ihm aufstieg. Die aktuelle Situation erinnerte ihn zu stark an jene vor neun Jahren. Damals war sie außer Kontrolle geraten und er hatte das verloren, was ihm das Liebste gewesen war. Heute war Joanne in Gefahr. Die Geschichte durfte sich nicht wiederholen, er durfte Joanne nicht auch noch verlieren. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und daran war nicht die Hitze schuld. Es war die reine, urtümliche Panik, die drohte, erneut von ihm Besitz zu ergreifen.
»Prometheus weiß das mit den Räumen, und es scheint ihn nicht überrascht zu haben.« Joannes Stimme riss Cutter aus seinen Gedanken und half ihm, den Anfall von Panik zu unterdrücken.
»Wie meinst du das?«, fragte er unsicher.
»Er hat mir in der Limousine zur Begrüßung die Hand gereicht. Ich sah ihm an, dass er wusste, ich würde ihn nicht fühlen können. Er hat mich mit einem Blick angeschaut, den ich nicht beschreiben kann. Dieser Blick, glaub mir, der war nicht von dieser Welt. Er mag sympathisch auf uns wirken, aber bin ich mir nicht sicher, ob er so harmlos ist«, erklärte Joanne mit zitternder Stimme.
»Mist!« war das einzige Wort, das Cutter hervorbrachte. Wenn Prometheus Bescheid wusste, konnte es gut sein, dass er diese Diskontinuität auch verursacht hatte. Doch wie und warum? Es gab allerdings noch eine andere Möglichkeit, die Cutter mehr Sorge bereitete als ein Blick, der nicht von dieser Welt war. Er konnte sich zwar weigern, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, doch schien ihm das keine erfolgversprechende Strategie zu sein. Er musste sich mit einer äußerst unangenehmen Frage beschäftigen: Hatte ihn die Vergangenheit eingeholt? Trotz der hohen Temperaturen lief ein Frösteln durch seinen ganzen Körper. Er hatte lange gebraucht, um jene Ereignisse zu verarbeiten. Er hatte – zumindest oberflächlich betrachtet – schon vor Jahren seinen Frieden wieder gefunden, doch nun schien dies alles in Frage gestellt zu werden. »Lieber Prometheus, ich hoffe inbrünstig, dass du der Verursacher dieser seltsamen Situation bist«, stieß er zwischen zusammengepressten Lippen hervor, so dass nur er selbst es verstehen konnte.
Er blickte Joanne an, die ebenfalls tief in Gedanken versunken war. Er versuchte zu lächeln und so viel Optimismus in seine Stimme zu legen, wie ihm möglich war. »Hab keine Angst, wir werden das Kind schon schaukeln. Wir finden eine Lösung, und bald schon wirst du mich wieder fühlen können.«
Joanne blickte ihn ungläubig an. »Kannst du zwei Räume wieder zu einem machen?«
Cutter versuchte mit einem selbstsicheren Grinsen seine Unsicherheit zu überdecken. »Theoretisch ja, praktisch hat das noch kein Mensch geschafft, aber einmal ist immer das erste Mal.«
»Ich fühle mich unwohl als Versuchskaninchen«, erwiderte Joanne. Sie hätte alles darum gegeben, wenn ihr Vater sie nun in die Arme genommen hätte. Sie empfand einen beinahe körperlichen Schmerz bei dem Gedanken daran, dass das nicht möglich sein sollte.
Ihr Vater schien ihre Gedanken zu lesen. Er stand auf, ging um den Tisch herum, trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. Joanne blickte hinunter; sie konnte seine Hände zwar sehen, doch fühlte sie keine Berührung. Tränen traten ihr in die Augen.
Als Cutter ihre Hand ergriff und sie hochzog – natürlich konnte er ihre Hand nicht hochziehen, war er doch nicht in der Lage, eine Kraft auf sie auszuüben, doch versuchte sie mit ihrer Hand der seinen zu folgen –, spürte sie zum ersten Mal dieses Gefühl. Es war das Gefühl, das ein Mensch empfindet, wenn jemand neben ihm geht. Es ist physisch nur schwer fassbar, und doch existiert dieses Empfinden. Es war, als ob sie in einem dunklen Raum eingeschlossen wäre und, obwohl sie nichts sehen konnte, doch fühlte, dass sich noch eine weitere Person im Raum aufhalten musste. Es war also doch nicht nur das Licht, das die Grenze zwischen den Räumen überwinden konnte; auch Gefühle konnten sie passieren. Es war diese Tatsache, die sie neue Hoffnung schöpfen ließ. Wenn es für Gefühle keine Grenzen gab, so war auch die Liebe grenzenlos. Solange dies der Fall war, würde sie nie alleine sein, und sie und ihr Vater würden sich gegenseitig das geben können, was das Wichtigste für sie beide war: ihre Liebe.
Prometheus erwartete sie ungeduldig. Er schaute vorwurfsvoll auf seine Uhr, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Cutter wusste, dass sie eine gute Stunden später als abgemacht zum Wagen zurückkamen, doch er entschuldigte sich nicht für die Verspätung, sondern warf Prometheus nur einen nichtssagenden Blick zu. Wortlos stieg er in die angenehm heruntergekühlte Limousine, als ob nichts geschehen wäre. Kaum hatten sie die Türen hinter sich geschlossen, fuhr der Wagen los.
Joanne blickte Prometheus einen kurzen Moment lang aufmerksam an. Er erwiderte ihren Blick und lächelte ihr herzlich zu. Joanne fühlte erneut, wie dieser Mann etwas Tiefes, Geheimnisvolles ausstrahlte. Sie konnte das Gefühl, das sie empfand, nicht einordnen, doch war daran nichts Böses oder Hassenswertes. Trotzdem ließ sie sich zu einer kindischen Reaktion hinreißen. Sie rutschte etwas nach links, holte mit dem Fuß aus und versetzte Prometheus einen kräftigen Tritt ans Schienbein. Ihr Fuß stieß bis zu seinem Bein vor, aber sie verspürte keinen Schlag, und auch Prometheus ließ – von einem kaum sichtbaren Heben der Augenbrauen abgesehen – keine Reaktion erkennen.
Die Dämmerung war bereits angebrochen, als die Limousine die Autobahn verließ, die Geschwindigkeit markant drosselte und kurz danach von einer schmalen, kurvenreichen Straße in ein Waldstück abbog. Der dichte Wald, den sie durchquerten, wurde mit jedem Kilometer urtümlicher. Anfänglich standen die Nadelbäume in Reih und Glied, dann wucherte immer mehr Unterholz zwischen den Bäumen und schließlich ging der Wald in einen richtigen Urwald mit umgestürzten Bäumen, Baumstrünken und Baumleichen über, die noch in die Luft ragten und von undurchdringlichem Dickicht überwuchert waren.
Joanne blickte ihren Vater unsicher an. Der dichte Wald machte ihr Angst. Doch Cutter schüttelte beruhigend den Kopf. Ihm machte nicht der Wald Angst; es waren andere Kräfte am Werk, die weitaus bedrohlicher waren als dieser dunkle, drohende Wald. Und wenn diese Kräfte freigesetzt wurden, war es zweifellos besser, wenn dies weitab von der nächsten menschlichen Siedlung geschah, auch wenn Cutter besser als jeder andere Mensch wusste, dass im schlimmsten aller Fälle weder eine räumliche noch eine zeitliche Distanz den Menschen auf diesem Planeten Sicherheit bringen konnte.
Kurze Zeit darauf machte der Urwald beinahe übergangslos einer parkähnlichen Landschaft Platz, die von Laubbäumen geprägt war. Nur wenige Meter später gaben die Bäume den Blick auf ein weitläufiges Gebäude frei, das Joanne unter anderen Umständen romantisch erschienen wäre. Das aus längst schon dunkel verwittertem Holz gebaute dreistöckige Gebäude besaß Dutzende von kleinen Türmchen, um die sich Efeu rankte. Ebenso viele Erker verliehen der Fassade ein Aussehen, das an ein romantisches Märchenschloss erinnerte. Vor den meist kleinen Fensterchen waren Kästen mit wild wuchernden hellroten Blumen befestigt. Das Dach war mit dunkelroten Ziegeln belegt, die Dachzinnen bestanden aus grün oxidiertem Kupfer.
Vor dem überdachten Eingang, der an eine Laube in einer mittelalterlichen Stadt erinnerte, lag ein großer, leerer Platz, in dessen Kies die Limousine eine deutlich sichtbare Spur hinterließ, als sie in einer weiten Kurve auf den Eingang zusteuerte. Mit einem kurzen Blick stellte Cutter fest, dass es die einzige Spur auf dem ganzen Platz war.
»Wir sind hier«, stellte Prometheus trocken fest und öffnete die Türe.
Cutter stieg aus, ging um die Limousine herum und öffnete seiner Tochter die Türe. Sie schauten sich um.
»Wunderschön«, sagte Cutter.
»Unheimlich«, antwortete Joanne leise, so dass Prometheus ihre Worte nicht verstehen konnte.
Cutter legte die Hand auf Joannes Schulter, zog sie jedoch rasch wieder zurück, als er keine Berührung fühlen konnte. »Wie oft haben wir schon in diesen Einheitshotels gewohnt, die es in allen Städten dieser Welt gibt. Wenn wir morgens auf dem Weg zum Frühstück in die Lobby kamen, mussten wir zuerst überlegen, in welcher Stadt wir eigentlich waren. Am Hotel selbst hätten wir es nicht erkennen können. Das hier ist dagegen einmalig. Ich glaube nicht, dass wir diesen Aufenthalt je wieder vergessen werden.« Er blinzelte seiner Tochter verschwörerisch zu.
Mit seinem letzten Satz war Joanne einverstanden. Sie glaubte auch nicht, dass sie diesen Aufenthalt je vergessen würde, auch wenn sie sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht hätte ausmalen können, wie schrecklich ihr Aufenthalt wirklich werden würde. Doch bei den übrigen Sätzen ihres Vaters war sich Joanne nicht sicher, ob sie für sie oder nur für Prometheus’ Ohren bestimmt gewesen waren.
Fritz ging mit den Koffern voraus, dicht gefolgt von Prometheus; Cutter und seine Tochter kamen mit einigem Abstand nach. Prometheus drückte sich an Fritz vorbei, hielt die schwere, hölzerne Eingangstüre auf, winkte zuerst den Zwerg durch und ließ dann seinen beiden Gästen den Vortritt. Sie betraten einen riesigen, von diffusem Licht durchfluteten Raum, der bis unter das Dach reichte und Cutter im ersten Moment an das Innere einer Kirche erinnerte. Unwillkürlich blickte er nach oben zum Dachstock, auf dem undeutlich Malereien zu erkennen waren, die das einfache Volk bei seinen täglichen Arbeiten zeigten. Ein Bauer mähte Gras, ein anderer drosch Stroh, eine Bäuerin rupfte ein Huhn. Diese und viele andere Szenen des bäuerlichen Lebens waren mit einfachen Strichen in bunten, wenn auch bereits leicht verblassten Farben auf quadratische Platten gemalt, die in Vierergruppen so angebracht waren, dass der Betrachter von jeder Stelle in der Empfangshalle einige der Bilder in seinem Blickfeld hatte.
Cutters Blick wanderte nach unten, vorbei an drei Galerien mit zahlreichen Türen, hinter denen sich wohl Gästezimmer befanden. Im Erdgeschoss führten zu seiner Linken jeweils fünf Stufen zu einer Holztüre hinauf. Die Nummern an den Türen ließen darauf schließen, dass es sich auch hier um Gästezimmer handelte. Rechts von ihm schien der Speisesaal zu liegen, dessen Türe jedoch geschlossen war. Dazwischen befand sich eine riesige Bar, auch sie ganz aus Holz, mit einem mächtigen Spiegel dahinter, der die gesamte obere Hälfte der Wand bedeckte. Darunter waren Dutzende von Flaschen mit zumeist hochprozentigem Inhalt in einer langen Doppelreihe angeordnet.
Der Zwerg blieb vor der Bar stehen und stellte die Koffer ab. Cutter warf einen Blick in den Spiegel. Deutlich spiegelten sich seine Koffer darin. Auch Joanne konnte er sehen, die neben dem Zwerg stand, ihm freundlich zulächelte und sich mit ihm unterhielt – nur das Spiegelbild des Zwerges, der unschlüssig und sichtlich von Joanne angetan neben den Koffern wartete, konnte er nicht erkennen. Cutter blickte genauer hin, doch das Spiegelbild blieb gleich. Auch als sich der Zwerg nun höflich von Joanne verabschiedete und an ihr vorbei zum Ausgang ging, um den Wagen wegzufahren, veränderte sich das Spiegelbild nicht. Cutter warf Joanne einen fragenden Blick zu.
Sie schien nichts bemerkt zu haben, sondern blickte nur fasziniert und mit einem milden, freundlichen Lächeln um ihre Mundwinkel dem Zwerg nach.
Prometheus zog Cutters Aufmerksamkeit auf sich. Er war unmittelbar nach ihrer Ankunft in einem Zimmer verschwunden, aus dem er nun, gefolgt von einer Frau, wieder heraustrat. Er ging auf Cutter und Joanne zu. »Darf ich Ihnen Margot Dreher vorstellen? Besitzerin und gute Seele dieses Gasthauses«, sagte er.
Die Frau näherte sich ihren Gästen mit einem offenen, herzlichen Lächeln. »Willkommen im Gasthaus zum Goldenen Adler! Sie können mich einfach Margot nennen«, begrüßte sie Cutter mit einem kräftigen Händedruck, wandte sich dann an Joanne und begrüßte auch sie herzlich.
Margot Dreher war eine große, feste Frau. Die zeitlose Tracht, die sie trug, betonte ihre dralle Figur, ihre ausladenden Brüste und das breite Becken. Schwarzes, halblang geschnittenes Haar umrahmte ihren Kopf wie der Helm eines Hunnenkriegers. Je nachdem, wie das Licht, das von den auf verschiedenen Ebenen angeordneten Lampen in die Empfangshalle fiel, ihr Gesicht beleuchtete, bekam es einen härteren, beinahe abweisenden Ausdruck oder es erhielt weiche, mütterliche Züge. Ihre dunklen Augen hatten etwas Geheimnisvolles an sich. Das rundliche Gesicht mit seinem hellen, reinen Teint war makellos schön. Augen, Nase, Mund und Wangen bildeten zusammen eine perfekte Einheit. Die Frau trug keine Spur von Make-up. Cutter verstand warum. Jeder Tupfer hätte die Wirkung dieses perfekten Gesichts nur beeinträchtigt.
Die Frau hatte Cutter in ihren Bann gezogen, lange bevor er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte. Doch war es nicht nur ihr Gesicht, das Cutter vom ersten Moment an faszinierte. Eine Aura umgab sie, die Cutter magisch anzog. Es war ihm nicht mehr möglich, den Blick von ihr zu wenden. Er musste all seine Konzentration darauf verwenden, die Frau nicht anzustarren.
»Seltsam«, dachte Cutter und fühlte, wie eine leichte Röte in sein Gesicht stieg, »sie ist so gar nicht mein Typ.« Trotzdem hatte ihn ihre Anziehungskraft längst umgarnt. Nicht zuletzt verspürte er auch ein körperliches Verlangen, wie er es schon lange nicht mehr gekannt hatte.
Sie schien nichts von seiner Reaktion bemerkt zu haben, streckte ihm nur immer noch freundlich lächelnd einen Schlüssel entgegen und sagte dazu: »Zimmer 1, gleich hinter Ihnen.« Dann entschuldigte sie sich dafür, dass es heute nicht möglich sein würde, im Speisesaal zu essen, da er von einer großen Gesellschaft belegt war. Sie bot ihnen an, einen kleinen Snack aufs Zimmer zu bringen.
Joanne und Cutter nahmen dankend an. Keiner von beiden war unglücklich darüber, den Abend nicht in einem lauten Speisesaal in Gesellschaft anderer Menschen verbringen zu müssen.
Cutter wollte eben in ihr Zimmer gehen, als er bemerkte, wie Prometheus eine Türe öffnete, die den Blick in einen Raum freigab, in dem rund dreißig Menschen an Vierertischen saßen. Einige von ihnen trugen Verbände um den Kopf, andere hatten den Arm oder ein Bein eingegipst. Zwischen den Tischen waren einige altertümliche Krücken an die Wand gelehnt. Es schien sich um lauter Männer zu handeln, zumindest konnte Cutter auf den ersten Blick keine Frau ausmachen. Der Raum wirkte auf ihn wie ein Aufenthaltsraum in einem Militärlazarett des Zweiten Weltkriegs, wie er sie in Kriegsfilmen gesehen hatte. Aus eigener Erfahrung konnte er es nicht beurteilen, da er erst viele Jahre nach dem Krieg auf die Welt gekommen war.
Die Männer spielten in Vierergruppen Karten. Trotzdem war es im Raum absolut still. Weder waren Laute der Freude oder des Ärgers zu vernehmen, noch wurde über das abgeschlossene Spiel diskutiert oder über den Fehler eines Mitspielers geschimpft. Cutter wollte eben nähertreten, um die seltsame Gesellschaft genauer zu betrachten, als Prometheus die Türe von innen mit einem lauten Knall schloss.
»Es muss sich um Kurgäste handeln, die aus irgendeiner Klinik hierhergeschickt worden sind, um sich von ihren Verletzungen zu erholen«, dachte Cutter und hatte die Männer schon wieder vergessen, als er der geschlossenen Türe den Rücken zukehrte.
Cutter und seine Tochter folgten einem Angestellten, der zwei ihrer Koffer ergriffen hatte und sie zu ihrem Zimmer führte, das gleich zu ihrer Linken lag.
Die Suite bestand aus zwei Räumen und einem Bad. Sie war einfach, aber gemütlich eingerichtet, wenn sie auch etwas dunkel wirkte. Das Mobiliar schien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu stammen, befand sich jedoch in einem für ein ländliches Hotel eher unüblichen, hervorragenden Zustand. Über dem Bett hing ein riesiges Bild, das eine Landschaft unter einem dunkel drohenden Himmel zeigte. Die Bauersleute mit Kind und Kegel waren daran, das Heu vor dem nahenden Gewitterregen in Sicherheit zu bringen. Helle Vorhänge kompensierten einen Teil der düsteren Stimmung, die das Bild im Raum verbreitete. Im Gegensatz zu den beiden Zimmern war das Badezimmer freundlich, modern und mit allem Komfort ausgestattet.