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Der Garten – Ein unheimliches Gefühl

Meine Erinnerung an all die Geschehnisse im Krieg reichen zurück bis zu meinem dritten Lebensjahr. Ich konnte mich auch daran entsinnen, sehr unglücklich gewesen zu sein, nicht bis zur Türklinke hinaufreichen zu können, um diese zu öffnen. Mit knapp sechs Jahren hatte ich dann mein erstes intuitives Erlebnis.

Ich verbrachte viel Zeit in unserem Garten. Eigentlich war es eine Grünfläche, die in vier einzelne Parzellen aufgeteilt war.

Mein ganzer Stolz war der Sandkasten darin. Die anderen drei Hälften teilten sich unsere Mitbewohner. Erreichbar war der Garten über ein großes Eisentor mit hohen Spitzen. Wir verschlossen es immer sorgfältig, wenn wir ihn verließen.

Es war gegen Mittag. Keine Menschenseele irgendwo. Nachdem ich aufgesperrt hatte, ging ich schnurstracks zu meinem Sandkasten, doch auf einmal überkam mich ein ganz mulmiges Gefühl. Ich nahm den Schlüssel und versperrte das Tor von innen. Das hatte ich noch nie gemacht. Dann konzentrierte ich mich wieder auf den Sandkasten, bis mein Blick erneut auf das Tor fiel.

Dort sah ich einen Russen mit einem Offiziersmantel, der sich an dem Schloss zu schaffen machte, um in den Garten zu kommen. Er versuchte sogar, über den Eisenzaun zu klettern, blieb aber mit seinem Mantel an den hohen Spitzen des Zaunes hängen. Ich spürte instinktiv, dass er nichts Gutes im Sinn hatte, und mir war klar, ganz egal wie laut ich geschrien hätte, keiner hätte mich gehört. Nach einer gefühlten Unendlichkeit gab der Mann endlich auf und verschwand.

Unser anderer Nachbar war ein Deutscher, der eine Lederbekleidungsfabrik besaß. Viele russische Offiziere fuhren in ihren Militärwagen bei ihm vor, um sich neue Ledermäntel von ihm machen zu lassen. Uns Kindern schenkten die Soldaten ab und zu Speck.

Ein Junge aus dem Haus war recht frech und warf in unserem Beisein einen Stein in die Scheibe eines Wagens. Der Fahrer schlief derweil am Steuer, während der Offizier drinnen Maß nehmen ließ. Die Scheibe zersplitterte und wir rasten um unser Leben.

Es gab einen Schuppen hinter dem Haus. Der gehörte einem Klempner. Dahinter, ein wenig abseits, lag ein weiterer. Dort stand ein alter An­hän­ger, in dem eine alte Plane lag, unter der wir uns verkrochen. Die Soldaten waren uns den ganzen Weg gefolgt und standen nun fluchend vor unserem Versteck. Uns blieb fast der Atem stehen. Wer weiß, was sie mit uns gemacht hätten, wir wollten es uns gar nicht vorstellen.

Wir atmeten auf, als sie nach einer Weile verschwanden.

Am darauffolgenden Tag trafen die Offiziere in aller Herrgottsfrüh ein, alle Türen des Büros des Lederfabrikanten standen offen, keiner war zu sehen.

Die Familie hatte unbemerkt alles stehen und liegen lassen und war heimlich in der Nacht mitsamt der achtzigjährigen Großmutter in den Westen geflüchtet.


Gabriele mit Nachbarskindern und dem Dienstmädchen Gudrun

Das lebensrettende Traumbüro

Ein ganz besonderes Steckenpferd meiner Mutter war die Traumdeutung und Tiefenpsychologie nach C. G. Jung.

Sie hatte alles über analytische Psychologie gelesen. Eine gute Bekannte hatte selbst bei C. G. Jung in Zürich studiert und dort auch promoviert. Meine Mutter legte Karten, aber es waren nicht die Karten, die zu ihr sprachen, sondern ihre Intuition.

Die beiden Frauen verstanden sich nicht nur ausgezeichnet, sie waren komplett auf der gleichen Wellenlänge, ergänzten sich in ihren Fähigkeiten und bildeten ein hervorragendes Team.

Frau Dr. Haack war eigentlich ganz zufällig auf meine Mutter gestoßen. Sie konnte sich ihre eigenen Träume nicht richtig deuten. Meine Mutter schon. Sie sah, dass die Ehe der anderen in Gefahr war, und half ihr, diese zu retten.

Bald machte diese Sensation die Runde.

Im „grünen Zimmer“ unserer Wohnung, der Name ging auf den grünen Kachelofen darin zurück, begannen meine Mutter und Frau Dr. Haack, zusammen zu praktizieren.

Die Menschen kamen, erzählten ihre Träume und sie deuteten diese. Ich weiß nicht, wie vielen Hunderten Menschen beide weiterhalfen. Jeden Mittag, wenn ich aus der Schule kam, waren die Diele und das ganze Treppenhaus voller Leute, sie alle wollten zu den zwei Traumspezialisten in unsere Altbauwohnung. Sie alle warteten geduldig bis zum späten Abend, und das sechs Tage in der Woche.

Frau Dr. Haack und meine Mutter verlangten nie nach einer Bezahlung. Manchmal revanchierten sich die Leute und brachten ein Viertel Brot mit.

Während dieser Zeit probte mein Vater zur Freude unserer Mitbewohner in unserer guten Stube mit seinem Orchester. Dazu gab es jede Menge Gesang, denn er bildete auch eine Koloratursängerin aus.

Da das florierende Traumbüro meiner Mutter keine Zeit mehr für den Haushalt ließ, hatten wir ein Mädchen aus Schlesien aufgenommen, das alsbald zur Familie gehörte. Auch meine Großmutter Auguste aus Dresden wohnte jetzt bei uns.

Wir lebten nun in einem Mietshaus, auf jeder Etage befanden sich zwei Wohnungen. Auf unserem Stockwerk wohnte ein Tontechniker, der bei SABA gearbeitet hatte.

Der Name stand für die Schwarzwälder Apparate-Bau-Anstalt August Schwer Söhne GmbH, die Radiofunkgeräte und Tonbänder herstellte.

Dieser Mann bekleidete bei der Wehrmacht eine hohe Position im Nachrichtendienst, was natürlich keiner wusste. Seine Frau stand mit Mutter auf der Treppe, als er gegen Abend nach Hause kam: Er grüßte und sagte: „Ich hatte heute Nacht so einen blöden Traum.“

„So“, sagte meine Mutter.

„Dann kommen Sie gleich mal rein, ich leg Ihnen die Karten.“

Plötzlich wurde sie leichenblass und sprang auf: „Packen Sie sofort eine Tasche mit dem Allernötigsten und verschwinden Sie von hier. Zögern Sie nicht, wenn Sie sich nicht sofort auf den Weg machen, holt sie der Geheimdienst. Sie müssen sofort verschwinden, verlieren Sie keine Minute. Gehen Sie nach Westberlin.“

Mit diesen Worten schob sie ihn aus der Wohnung.


Es ist kaum vorstellbar, wenn man es nicht erlebt hat, aber meine Mutter war eine unglaublich starke und überzeugende Persönlichkeit. Der Mann folgte ihren Anweisungen auf der Stelle und ließ alles zurück: Einen gut bezahlten Job, seine Freunde, seine Familie, sein Zuhause.

Seine Frau half ihm, die Tasche zu packen. Zehn Minuten später war er fort.

Es war gerade mal eine Stunde vergangen, und schon stand der Geheimdienst der DDR vor der Tür, um Herrn Kurz abzuholen. Akribisch suchten sie jeden Winkel nach ihm ab.

Nachdem die Polizei gegangen war, kam seine Frau zitternd zu uns: „Ich habe gesagt, mein Mann kommt heute später. Er trifft sich noch mit Freunden.“

Meine Mutter nickte verständnisvoll und gab ihr Geld. Daraufhin nahm Frau Kurz ihre zwei Kinder und schlich sich leise aus dem Haus. Sie wusste, dass sie niemals wiederkommen würde.

Als wir dann 1950 aus der DDR flüchteten, war es Familie Kurz, die uns in Westberlin aufnahm.

Das seltsame Porzellanspiel

Eine andere seltsame Begebenheit verband ich mit meiner Tante Hilde. Sie war eine Freundin einer Freundin meiner Mutter und war Zahnärztin in Dresden. Ihre Praxis stand noch.

Als die Straßenbahnen wieder fuhren, besuchte ich sie, unangemeldet – und ganz allein.

Ich war damals gerade mal acht Jahre alt und hatte natürlich nicht an das Geld für eine Fahrkarte gedacht. Ich fuhr einfach, ohne zu bezahlen. Jeder wähnte mich irgendwo zu Hause, keiner wusste, dass ich einfach auf Reisen gegangen war.

Die Fahrt war beeindruckend.

In Dresden stand nichts mehr, man fuhr durch riesige Schuttberge und sah meilenweit nur Ruinen. Es war ein morbides Szenario. Unwirklich, aber doch grausam real.

An den Wänden der zerstörten Häuser waren immer noch Tapeten zu sehen. Manchmal war da ein schmales Fußbodenstück, das noch intakt war, manchmal standen da auch ein Stuhl oder ein Bett in schwindelnder Höhe.

Überall an diesen gespenstischen Wänden hatte man Suchlisten angebracht.

Suchlisten überall.

Mit all diesen niederschmetternden Eindrücken hatte ich langsam die Motivation verloren. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr, meine Tante zu besuchen und meine Zähne anschauen zu lassen. Als ich dann in ihrer Praxis stand, wunderte sie sich, glaube ich, sehr über mich. Vor allem, als ich mich kurz darauf wortlos und unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg machen wollte.

Abermals ohne einen Pfennig Geld.

Doch meine Tante schritt ein. Sie nahm mich an die Hand und sagte: „Wir gehen jetzt zu meiner Freundin, trinken Tee und essen Kuchen. Du brauchst eine Aufmunterung.“

Tante Hildes Freundin war Bibliothekarin.

Sie wohnte in einem alten romantischen Winzerhaus mit einem Garten in Hanglage. Dort stand eine riesige Linde, um die man eine Bank gebaut hatte. Ihr Mann war Maler und mir gefielen seine Bilder. Ihre Tochter Ingrid war ein bisschen älter als ich, trotzdem verstand ich mich auf Anhieb gut mit ihr.

Vor allem das lichtdurchflutete Eckzimmer mit den großen Fenstern hatte es mir angetan. In unmittelbarer Nähe standen ein Bücherregal und ein Tisch mit Stühlen. Die eigentliche Attraktion in diesem Zimmer aber war ein Spiel, das mir Ingrid zeigte.

Es befand sich in einem kostbaren Holzkasten und war ganz aus Porzellan.

Ähnlich einem Puzzle bestand es aus bemalten Quadraten und Dreiecken, die mit wunderschönen, filigran gearbeiteten Blumenmotiven verziert waren.

Man konnte dieses Puzzle in allen möglichen Formen zusammensetzen, jedes Mal entstand ein neuer wunderschöner Garten. Manche Stücke waren schon etwas abgegriffen, es muss schon sehr alt gewesen sein.

Viele Jahre später erzählte mir Tante Hilde, dass meine Spielkameradin in ein Kloster gegangen sei. Sie habe das Gelübde abgelegt und sei sehr jung gestorben. Auf meinen Wunsch erkundigte sich meine Tante bei Ingrids Mutter, was denn aus dem Porzellanspiel geworden sei, ob sie es vielleicht noch hätten.

Ingrids Mutter war sehr erstaunt über diese Frage und erklärte, dass sie noch nie solch ein Spiel besessen hätten. Ich beschrieb es ihr daraufhin ganz genau. Es war alt, ich vermutete, es stammte mindestens aus dem 18. Jahrhundert, die Glasur war matt, mit kleinen Kratzern versehen und Goldverzierungen, die schon abblätterten.

So vielen Menschen hatte ich schon von diesem wunderbaren Spiel erzählt. Die gesamte Familie wurde befragt und jeder Einzelne beteuerte immer wieder, dass ein solches Spiel niemals im Hause gewesen sei. Ich fragte daraufhin sogar in Meißen nach, da ich mir ziemlich sicher war, dass das Spiel aus Meißner Porzellan gefertigt worden war.

Doch auch dort wusste man nichts von solch einem Spiel.


Gottlinde mit Freundin

Eines Nachts träumte ich von meiner Freundin Ingrid. Zusammen spielten wir mit dem Porzellanspiel, doch sie war kein Kind mehr, sondern bereits eine Nonne. Ich fragte sie, woher sie das Spiel denn hätte und sie erklärte mir, dass sie es in einer anderen Welt gefunden habe und für mich in unsere hineintransformiert hatte.

„Was für ein wundersamer Zauber“, hörte ich mich noch sagen, dann wachte ich auf.

Die Weisheit der Karten

Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten in einer alten Landschule in Mautitz, der Großvater war längst pensioniert. Wenn wir sie besuchen wollten, fuhren wir mit dem Schaufelraddampfer ein Stück die Elbe entlang. An Bord gab es immer eine heiße Gemüsebrühe in einem Keramikbecher ohne Henkel. Eigentlich schmeckte die grün-graue Suppe nur salzig, aber ich liebte sie heiß und innig. Waren wir dann endlich an der Anlegestelle angekommen, mussten wir noch sehr weit laufen.

Schon von weitem sah man die Schule. Als Begrüßungskomitee kamen immer ein paar Hühner. Auf dem Hof stand ein riesiger Birnbaum mit einer Schaukel. Die Birnen waren so groß und saftig, dass es einen Platsch-Ton tat, wenn sie herunterfielen und in Stücke zerbarsten. Auch konnte es passieren, dass einem beim Schaukeln eine dieser Birnen auf den Kopf fiel und dann zerplatzte.

Meine Schwester und ich teilten uns ein Schlafzimmer und ein Bett. Dieses war so hoch, dass ich Schwierigkeiten hatte hineinzuklettern. Hatte man das geschafft, versank man in einem Meer aus weichen Federbetten und frisch gestärkter geblümter Bettwäsche.

Im Herbst war der behäbige, große Kleiderschrank ganz von dem süßen Duft der Äpfel und Quitten erfüllt, die dort lagerten. Überall roch es so gut.

Fast immer wurde ein Huhn geschlachtet, und meine Großmutter bereitete davon eine köstliche Suppe, die man dann mit den tiefen Esslöffeln aß, die schon so alt waren, dass sie bereits ganz ausgehöhlt waren. Einer hatte sogar ein Loch in der Mitte, das war mein Lieblingslöffel. Es bereitete mir ein diebisches Vergnügen, damit zu essen, während die Brühe in einem dünnen Strich langsam zurück in den Teller lief.

Jeden Morgen wurden wir von dem krähenden Hahn geweckt. Nach einem Frühstück mit kernigem Brot und dicker Wurst rannte ich in die Laube.


Frühstück mit Hühnern

Sie erinnerte an einen sechseckigen Pavillon, der mit edlem Holz ausgekleidet war. Durch das Innere der Laube zog sich eine Bank. In unmittelbarer Nähe, mittig platziert, befand sich ein riesiger Holztisch. Bei Regenwetter machten wir dort gemeinsam Spiele.

Es war eine heile Welt.

Leider dauerte es nicht lange und das Familienidyll fand ein jähes Ende. Das neue Regime warf meine Großeltern aus ihrer Schule. Nun mussten sie zusammen mit der jüngsten Schwester meiner Mutter in eine Notwohnung ziehen. Die Wohnung war so klein, dass sie sich von all ihren schönen Möbeln trennen mussten.

In der neuen Wohnung funktionierte nicht einmal der Ofen. Für meine Großeltern brach eine Welt zusammen – und für uns Kinder auch.

Meine Mutter deutete derzeit weiterhin Träume und legte Karten. Die Freundin, mit der sie das Traumbüro führte, hatte einen Chemiker geheiratet, der seit Jahren an der Erforschung der Sulfonamide beteiligt war. Das Unternehmen Boehringer interessierte sich sehr für seine Arbeit und wollte ihn in den Westen holen.

Also bat er meine Mutter, ihm die Karten zu legen.

Er war sich sicher, dass sie den perfekten Zeitpunkt seiner Flucht voraussehen konnte. Ob er recht hatte oder nicht, weiß niemand, auf jeden Fall gelang ihm die Flucht und er fiel nicht in die Hände der Volkspolizei.

Angespornt von diesem Erfolgserlebnis entschloss sich seine Frau Leoni, ihm mit ihren zwei Töchtern nachzufolgen. Sie hatte einen Führer gefunden, der sie bis an die Grenze bringen sollte, das letzte Stück des Weges musste sie allerdings alleine mit den Kindern bewältigen.

Meine Mutter schlug folgende List vor:

„Nimm nichts mit außer einem Wäschekorb mit verknitterten Kleidungsstücken und trage den ganz entspannt über die Grenze. So, als wolltest du nur in den Nachbarort gehen. Sei mutig, glaube an ein Gelingen. Du schaffst das, es geht alles gut.“

Leoni beherzigte ihren Rat, nahm ihre Mädels und machte sich auf den Weg. „Johanna hat gesagt, wir schaffen das.“

Immer wieder habe sie diesen Satz wiederholt, erzählte sie mir Jahre danach. Tatsächlich geriet sie sogar in einen Trupp der Volkspolizei. Die blickten allerdings nur gelangweilt auf den Korb Wäsche und ließen sie passieren.

Unendlich erleichtert kam sie im Westen an.

Inzwischen stieg die Zahl der Menschen, die sich bei meiner Mutter Rat und Trost holten.

Es wurden immer mehr.

Eines Tages suchte auch die einstige Tanzstundenpartnerin meines Onkels Gerhard meine Mutter auf. Hildas Vater war Baumeister und ihm gehörten ganze Straßenzüge in den teuren Villenvierteln. Sie war verheiratet, doch ihr Mann war in Gefangenschaft geraten und sie hatte schon lange nichts mehr von ihm gehört.

In Hildas Haus wurde eine russische Offizierin einquartiert. Diese hatte ihr gestanden, dass sie sich nach Westberlin absetzen wolle, und bat sie um Hilfe.

Hilda erzählte das meiner Mutter. Diese legte ihr daraufhin die Karten und warnte sie eindringlich. Sie habe ein ganz schlechtes Gefühl. Die Karten stünden schlecht. Die Russin sei nicht vertrauenswürdig, sie solle die Finger davon lassen und ihr nicht bei ihren Fluchtplänen helfen. Hilda sah das anders. Sie entschloss sich, der Russin dennoch zu helfen, und gab ihr eine Kontaktadresse in Westberlin. Die Offizierin setzte sich nach West-Berlin ab und zeigte Hilda sofort an.

Kurz darauf wurde sie von der Volkspolizei festgenommen und zu sieben Jahren im KZ Buchenwald verurteilt.

Für Hilda, die eine sehr intelligente und mondäne Frau war, ein undenkbarer Schicksalsschlag. Sie überlebte das KZ, aber wurde nie wieder sie selbst.

Ihr Mann wurde wenig später aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen, und tatsächlich hatte er es auch geschafft, seine beiden Töchter aus der DDR in den Westen zu holen.

Viele andere, die ein ähnliches Schicksal teilten, hatten sich scheiden lassen, er nicht. Er wartete auf Hilda, obwohl er sie all die Jahre nicht ein einziges Mal sehen durfte.

Die Flucht

Eines Nachts hatte mein Vater einen seltsamen Traum, aus dem er schweißgebadet aufschreckte. Eine laute Stimme sagte zu ihm:

„Du bist krank. Wenn du hierbleibst, wirst du sterben. Du musst über die Grenze in den Westen gehen.“

Er zweifelte nicht an dem Traum, deshalb ließ ihn die Idee an eine Flucht fortan nicht mehr los.

Er sprach mit seiner Frau Johanna. Sie bestätigte ihn in seinem Vorhaben und zusammen organisierten sie heimlich seine Flucht.

Nachts brachte ihn ein Schleuser bis an die Grenze. Er zeigte ihm den Weg, den er einschlagen musste, um nicht entdeckt zu werden. Auch dieser Fluchtversuch glückte. Johannas Brüder, die schon lange im westlichen Teil Deutschlands lebten, nahmen meinen Vater auf.

Als meine Mutter den Anruf aus dem Westen erhielt, blieb sie ganz ruhig. Sie hatte ja den erfolgreichen Ausgang der Mission bereits in den Karten gesehen.

Ganz anders als in der DDR wurden Lehrer in Westdeutschland dringend gesucht. Mein Vater fand sofort eine Anstellung. Nun war er froh, dass er neben seiner Musikerausbildung auch das Lehramt studiert hatte. Denn als Musiker hatte man es schwer, viele waren arbeitslos.

Dann geschah eines Tages etwas Sonderbares. Mein Onkel und seine Frau standen an ihrem Fenster und erblickten einen Mann mit einer Laterne.

Dieser ging auf meinen Vater zu, blieb neben ihm stehen und begrüßte ihn. Beide schüttelten sich die Hände und umarmten sich. Die Begegnung dauerte nur ein paar Minuten und der alte Mann, in dem mein Onkel sofort seinen eigenen Vater erkannte, verschwand so schnell, wie er gekommen war.

Als die beiden meinen Vater etwas später auf diese Begegnung ansprachen, wusste dieser von nichts. Sie waren sich jedoch sicher, Zeuge eines spirituellen Erlebnisses gewesen zu sein, denn der Vater lebte schon geraume Zeit nicht mehr, hatte sich aber niemals von Johannes, seinem Sohn, verabschieden können.

1950 arbeitete mein Vater wieder als Lehrer. Man hatte ihm eine Stelle in einem kleinen, verwunschenen Heidedorf in der Nähe von Bremen angeboten. Statt Großstadtflair fand man hier reetgedeckte Fachwerkhöfe und uralte Eichen.

Im Osten bereitete uns meine Mutter derweil auf die Flucht vor. Sie hatte überall die Geschichte erzählt, dass mein Vater jetzt Kapellmeister in Stralsund an der norddeutschen Küste in der DDR sei.

Schlau, wie sie war, hatte sie sich bereiterklärt, der Familie einer verstorbenen Nachbarin den Nachlass zu ordnen und ihn ihr zuzuschicken. So fiel es nicht auf, dass sie viele persönliche Dinge einpackte und zu ihrem Bruder Karl nach Hannover sandte. Sie verschickte auch das Radio, obwohl das verboten war. Die Kupferdrähte im Radio waren aus Buntmetall. Das war sehr waghalsig und es stand Zuchthaus darauf, wenn man erwischt wurde. Ganz ehrlich, ich hätte es nicht gewagt, aber meine Mutter war in dieser Beziehung einzigartig.

Sie fühlte sich beschützt, manch einer würde sagen, sie hatte einfach Glück. Doch wie viel Glück kann man haben? Meine Mutter hatte immer Glück, was rein logisch betrachtet auch kaum nachzuvollziehen ist. Ich würde sagen, Gott hielt seine schützende Hand über sie.

Als bereits die halbe Wohnung ausgeräumt war, klingelte an einem Abend die Volkspolizei bei uns.

Meine Mutter behielt die Nerven. Die Polizei hatte nur über jemanden eine Auskunft einholen wollen, aber uns Kindern saß der Schrecken tief in den Gliedern.

Ein paar Tage später drückte sie meiner Schwester und mir eine Tasche in die Hand und wir verließen still das Haus. Wir fuhren nach Dresden zu Tante Bertha.

Am Dresdner Hauptbahnhof angekommenen, übersah meine Mutter auch noch einen Bombentrichter und verdrehte sich den Fuß, sie konnte kaum laufen. Das erste Mal in meinem Leben sah ich Angst in ihren Augen. In dieser Nacht, wie auch in der vorangegangen, hatte sie von Plakaten und Wegweisern in kyrillischer Schrift geträumt.

„Hoffentlich schnappen sie uns nicht“, meinte sie besorgt.

Weiter ging es mit dem Zug nach Ostberlin, wo uns Frau Kurz abholte. Dort gab es noch eine U-Bahn-Verbindung nach Westberlin. Es waren ein oder zwei Stationen. Wir fuhren stillschweigend.

„Macht ja nicht den Mund auf! Seid ganz still!“, hatte man uns eingebläut.

Mit uns im Waggon saßen ein Kontrolleur und die Volkspolizei. Endlich nach einer halben Ewigkeit hielt die U-Bahn. Wir atmeten auf. Wir waren im Westen – und in Sicherheit.

In den ersten Tagen wohnten wir bei Familie Kurz, dort warteten wir darauf, dass mein Vater uns die Flugtickets für die Reise nach Hamburg schickte. Ich war zehn Jahre alt und sah das erste Mal eine Banane. Frau Kurz lief gleich in den Laden und kaufte sie mir.

Mit einem großen Militärflugzeug flogen wir ein paar Tage später von Berlin Tempelhof, das damals noch in amerikanischer Hand war, nach Hamburg. Der amerikanische Kapitän trug eine Bomberjacke. Als er mich sah, blieb er stehen, kniff mich in die Wange und sagte kaugummikauend: „Hi Baby!“

Zwei Worte und meine Liebe zu Amerika und zur Luftfahrt war entbrannt.

Als wir ankamen, stand mein Vater auf dem Rollfeld und strahlte – er freute sich unheimlich, uns alle wiederzusehen. Es war unser ganz persönliches Happy End.

Die Reise ging weiter. Wir fuhren mit dem Zug in den Ort in der Heide.

Die Gutshöfe waren eingerahmt von Mauern, die aus den Steinen alter Hünengräber erbaut worden waren. Als wir aus dem Zug stiegen, entdeckten wir am Bahnhof, der etwas außerhalb des Ortes lag, viele Wegweiser: alle in kyrillischer Schrift.

Meine Mutter staunte und lachte, erkannte sie die Wegeweiser doch aus ihren Träumen wieder, die sie erst jetzt wirklich verstand. Insgeheim hatte sie befürchtet, dass die Wegweiser in ihren Träumen auf ein russisches Straflager hindeuten würden, in das wir deportiert worden wären, wenn sie uns auf unserer Flucht festgenommen hätten.

Doch die Wegweiser waren nur ein Symbol dafür, dass wir sicher an unserem Wunschort ankommen würden. Sie wiesen auf ein ukrainisches Flüchtlingslager hin, das nach dem Krieg für die Menschen erbaut worden war, die aus der Ukraine geflohen waren, um den Kommunisten zu entkommen.

Die Parallele war allzu deutlich.

1 731,78 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
356 стр. 111 иллюстраций
ISBN:
9783946959793
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