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Gottlinde und der Klabautermann

Es war im Herbst 1944.

Ich war gerade vier Jahre alt, da begleitete ich meinen Vater zu einem Militärflughafen nach Dresden. Dort sollte er seine Entlassungspapiere vom Militär abholen.

Ich war aufgeregt, die Flieger faszinierten mich. Ich beobachtete, wie sie sich gleich Wasservögeln elegant in den Himmel hoben und schwerelos hinabglitten, bis sie zum Stehen kamen. Ich war viel zu neugierig, um artig in der Baracke zu bleiben, während mein Vater sich um die notwendigen Formalitäten kümmerte und die Papiere unterschrieb. Ich fragte, ob ich draußen warten dürfe, um das Treiben zu beobachten. Bald darauf gesellte sich mein Vater zu mir. Er unterhielt sich mit seinen Kameraden und wir blieben noch einige Zeit.

Gegen 12 Uhr mittags verließen wir das Gelände. Zwei Stunden später kam ein Geschwader der Alliierten und bombardierte den Flugplatz – alle starben. Wir waren dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.

Von da an wurde das Leben zunehmend gefährlicher. Meine Eltern überlegten, welcher Ort wirklich sicher war, und entschieden sich für Dresden, das bislang von den Angriffen verschont worden war.

Damals nannte man die Stadt das Florenz des Ostens. Durch einen Wohnungstausch hatten wir eine sehr schöne Altbauwohnung in einem Vorort von Dresden angeboten bekommen. Das einzige Manko war die Toilette. Es gab nur ein Plumpsklo, das sich außerhalb der Wohnung befand. Nur in den modernen Häusern waren bereits Toiletten mit Wasserspülung installiert.

Alle, die von unserem Vorhaben hörten, waren entsetzt. Wieso wir so nah an der Stadt wohnen wollten in diesen gefährlichen Zeiten? Doch meine Eltern hatten keine Angst, im Prinzip fanden die Bombenangriffe ja so gut wie überall statt.

Also zogen wir nach Radebeul – einen Vorort von Dresden. Eine der Ersten, die uns dort besuchte, war meine Nenntante Maria, eine Freundin meiner Mutter, aus Hamburg. Ihr Mann fuhr zur See und sie war Kindererzieherin.

Tante Maria zeigte sich ganz begeistert von unserer 5-Zimmer-Wohnung, die sich in einer imposanten Villa befand. Sie schwärmte von den lichten, großen Räumen mit dem vielen Stuck an den Decken und dem Fischgrätparkett. Zum Wohnzimmer führte eine Flügeltüre und in jedem Raum befand sich ein Kachelofen. Die Wohnung war so groß, dass wir ohne Probleme unseren großen Konzertflügel und auch noch das Klavier unterbringen konnten.

Die Wände des Wohnzimmers waren mit einer matten, in Rosé gehaltenen Tapete mit kleinen silbernen Pünktchen tapeziert. An einer Wand stand eine graue Biedermeiercouch mit lila Veilchen, dazu gruppiert fand man einen Tisch und die passenden Sessel. Gegenüber platziert befanden sich ein geschnitzter Bücherschrank und eine große Glasvitrine.

Im Eck thronte der große weiße Kachelofen. Rund um das Wohnzimmer verlief ein Balkon. Meine Mutter war sehr stolz auf ihre schönen Möbel, die sie von ihren Eltern als Ausstattung zur Hochzeit bekommen hatte. In diesem Wohnzimmer tanzte Tante Maria mit mir herum, sang mit mir und machte allerlei Späße.

Irgendwann erzählte sie meiner Mutter eine seltsame Geschichte, die ihrem Mann Arthur widerfahren war. Er war Maschinist auf einem Frachtschiff.


Aussicht von der Wohnung in Radebeul

Tante Maria war eine Friesin und auch sie hatte seherische Fähigkeiten. Immer wenn ihr Mann lange auf See war, traf sie sich in ihren Träumen mit ihm. Ihre Seelen sprachen dann miteinander. Sie erzählte ihm von all den Dingen, die in seiner Abwesenheit geschehen waren, und er tat das Gleiche. So mussten sie sich niemals Briefe schreiben, sie korrespondierten jeden Tag auf einer anderen Bewusstseinsebene miteinander. Als Kind kann ich mich noch daran erinnern, dass Tante Maria immer vorher wusste, was geschehen würde.

Doch nun zu der Geschichte, die ihr Mann erlebt hatte.

Eines Tages war die See sehr rau und die Maschinen setzten aus. Das Schiff schaukelte wild und unkontrolliert hin und her. Arthur hatte sprichwörtlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, alles ausprobiert, doch er war mit seinem Latein am Ende. Er wusste sich keinen Rat mehr, wie er die Motoren wieder in Bewegung setzen sollte.

Alle umliegenden Schiffe waren bereits alarmiert worden, um Hilfe zu leisten.

Da überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl, etwas in ihm wusste, er durfte jetzt nicht aufgeben. Also versuchte er ein letztes Mal, die Maschine in Gang zu setzen. Eine Sekunde später glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen.

Saß da nicht ein rotes Wesen auf einer Stange? Er näherte sich ihm vorsichtig und betrachtete es genau.

Es war ein kleines Männchen mit spindeldürren Beinchen, einem langen Bart und einer roten Zipfelmütze. Es sah aus, als wäre es direkt aus einem Märchenbuch geschlüpft.

Er blinzelte, schloss die Augen und öffnete sie wieder, doch das Männlein war immer noch da. Sekunden später sah er, wie es zwischen den Stangen und Motorteilen verschwand. Er glaubte zu träumen, doch genau in diesem Moment sprang die Maschine wieder an.

Der Krieg wurde immer unbarmherziger. Doch immer noch glaubte man an den Sieg. Die Bombengeschwader griffen zahllose Städte an und auch das Elbtal, in dem wir jetzt wohnten, wurde inzwischen von zwei Seiten beschossen.

Allein Dresden blieb immer noch verschont. Jeden Tag flogen Scharen von Bombern mit Donnergetöse über uns hinweg und wir verbrachten viele Tage und Nächte im Keller. Es herrschte ein eisiges, beklemmendes Schweigen.

Ertönte der Luftschutzalarm, fand in unserem Hause jedes Mal das gleiche Ritual statt. Meine Mutter erschien gelassen als Letzte und setzte sich demonstrativ auf die notdürftig mit dünnen Brettern abgedeckte Jauchegrube.

Dort fing sie in aller Ruhe an, in einem ihrer spirituellen Bücher zu lesen. Sobald sie das tat, ging ein erleichtertes Aufatmen durch unsere Reihen. Keiner wagte es, sich auf diese Grube zu setzen, denn falls eine Bombe eingeschlagen hätte, das wusste jeder, wäre derjenige, der dort saß, in die tiefe Grube gefallen.

Meine Mutter hatte keine Angst, sie war gläubig.

Bereits seit Ende der 1920er Jahre hatte sie sich für das Spirituelle interessiert und sie fühlte sich beschützt.

Anfangs hatten sich meine Eltern mit der christlichen Mystik nach Karl Weinfurter beschäftigt, den meine Eltern auch persönlich kannten.

Bald begeisterten sie sich auch für andere spirituelle Autoren wie den Bulgaren Surya Omraam Mikhaël Aïvanhov oder den Theosophen und Freimaurer Dr. Franz Hartmann. Auch die Geheimlehre von Helena Blavatsky und die Bücher von Gustav Meyrink beeindruckten sie. Zu Letzterem fällt mir auch gleich ein Erlebnis ein, das sich in unserer Waschküche ereignete, nachdem meine Mutter „Das grüne Gesicht“ von Meyrink gelesen hatte.

In diesem Buch ging es unter anderem um „Chedir Green“ – ein unheimliches magisches Wesen. In Gedanken hatte sie sich den ganzen Tag mit ihm beschäftigt und immer wieder einen Spruch aus dem Buch vor sich hingemurmelt.

Als sie den Holzdeckel des Zubers, in dem die Wäsche kochte, wegzog und in Richtung Tür blickte, sah sie in den Dampfschwaden, die den Raum füllten, Chedir Green an der Wand lehnend, sie hämisch anlächelnd.

Ihr wurde sehr unwohl zumute, und sie wusste instinktiv sofort, dass sie ihn mit ihren Gedanken und Worten herbeigerufen hatte.

Daraufhin verschwand sie sehr schnell aus dem Waschhaus.

An einem anderen Tag mitten im Krieg klopfte unverhofft ein Ortsgruppenleiter an die Tür meiner Mutter und forderte sie auf, ihren Bücherschrank zu öffnen. Er betrachtete all die esoterischen Bücher, von denen einige bereits verboten waren, und meinte, dass man diese nach dem Reichssicherheitsgesetz verbrennen müsse. Da stellte sich meine Mutter vor den Bücherschrank und sagte ihm ins Gesicht:

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir toleranter werden, wir sind ja nicht mehr in den Zeiten der Weimarer Republik. Ich kann mich erinnern, damals hatte mir ein Beamter der Kommunisten einen Besuch abgestattet und hatte die gleichen Worte über meine Bücher verloren wie jetzt Sie. Jetzt möchten Sie sich tatsächlich auf die gleiche Stufe mit ihm stellen? Haben Sie denn die gleichen Werte wie die Kommunisten?“

Der Polizist runzelte die Stirn, kniff die Augen zu und sagte irritiert: „Nein, natürlich nicht. Darum geht es doch gar nicht, aber lassen wir das jetzt mal. Tun Sie mir einfach den Gefallen und stellen Sie die besagten Bücher ganz hinten in den Schrank.“

Meine Mutter nickte bereitwillig, doch nachdem er ging, blieben alle Bücher genau dort, wo sie auch vorher gestanden hatten.

Die Gefahr war unser ständiger Begleiter.


Im Obstgarten: Gottlinde, Johanna, Gabriele und Tosca

Das galt vor allem auch für uns Kinder. Selbst die alltäglichsten Dinge konnten uns das Leben kosten. So war es zum Beispiel ein äußerst gefährliches Unterfangen, wenn wir in die zwei Straßen weiter entfernte Molkerei gehen mussten, um dort Milch zu holen. Oft wurden wir auf unserem Weg von Tieffliegern überrascht und mussten vor den Scharfschützen in Deckung gehen. Geistesgegenwärtig warfen wir uns dann ins Gebüsch, den wertvollen Milchkrug dabei fest im Auge, damit ja nichts von dessen kostbarem Inhalt verloren ging. Tack, Tack, Tack knallten die Geschosse ganz dicht an uns vorbei.

Doch nicht nur der Feind, vor allem auch der Hunger trachtete uns nach dem Leben. Wir hatten Glück, denn wir hatten einen Gemüsegarten, der nicht nur uns, sondern auch vielen unserer Freunde über die schlimmste Zeit hinweghalf. Ganz gleich wie gefährlich die Lage war, meine Mutter vergaß niemals, den Garten zu gießen.

Oft verkroch sie sich während der Scharfschützenangriffe in ihren Zwiebeln und betete.

Der Untergang

Mein Onkel Gerhard, Mutters zwei Jahre jüngerer Bruder, hatte Jura studiert. Er sah zudem sehr gut aus, war blond und breitschultrig. Oft brachte er seine Tanzstunden-Partnerinnen nach Hause, immer waren es Töchter aus gutem Hause, die schnell Freundschaft mit meiner Mutter schlossen. So auch Josepha. Ihr Vater war ein Tuchfabrikant. Sie liebte schöne Kleider, teuren Schmuck und kostbare Pelze. Als einzige Tochter wohnte sie mit ihren Eltern in einer luxuriösen Villa. Es sollte nicht lange dauern und Josepha fand ihren Traummann.

Reuter war 20 Jahre älter als sie und Doktor der Philosophie, der in Kalifornien studiert hatte. Als Spezialist für den Überseefunkverkehr hatte er lange für die Amerikaner gearbeitet.

Am 14. April 1912 war er auf dem Dampfer „Amerika“ stationiert und sandte von dort aus eine Warnung, die das Geschick des größten Luxusliners der Welt, „Titanic“, hätte ändern können. Doch wie man später erfahren sollte, verdienten die Funker des Dampfers der Olympic-Klasse als Angestellte der Marconi-Gesellschaft ihr Geld mit den Privatnachrichten der Passagiere und mussten auch nicht direkt an die Brücke berichten. Sie ignorierten die Eisbergwarnungen – so wie auch Kapitän Edward John Smith.


Josephas Mann informierte sowohl die Küstenfunkstelle „Cape Race“ als auch die Titanic selbst.

Zwei Stunden und vierzig Minuten später sank die Titanic. In rasender Geschwindigkeit stürzte sie 4 000 Meter tief auf den Boden des Nordatlantiks. Von den 2200 Menschen an Bord überlebten lediglich 700 die Jungfernfahrt des berühmten Ozeangiganten.


Wie viele andere arbeitete Reuter später für die Nazis. Doch auf einer Mission in Griechenland machte er einen fatalen Fehler. Seine Frau liebte Schuhe, es war Krieg, es gab nichts. Er stand in einem bereits brennenden Haus und bemerkte einen Sessel, der mit rotem Leder bezogen war, das perfekt für ein paar Schuhe geeignet gewesen wäre.


In letzter Minute, ehe dieser vom Feuer verschlungen wurde, nahm er sein Taschenmesser, schnitt das rote Leder auf und riss es herunter. Ein Untergebener und ihm nicht wohlgesinnter Gefreiter beobachtete das und zeigte ihn an.

Er wurde sofort suspendiert, aller Ämter enthoben und auf die Krim gebracht. Dort saß er monatelang in Untersuchungshaft. Josepha hatte durch dieses Ereignis eine Totgeburt.

Sie machte zwei Gnadengesuche. Als beide abgelehnt wurden, verfiel sie in eine Depression.

Meine Mutter konnte das Drama bald nicht mehr mit ansehen. Sie schlug Josepha vor, dass auch sie einen Versuch starten würde. Diese entgegnete zwar, dass sie nichts von dieser Idee halte, denn wenn sie als Ehefrau schon nichts erreiche, warum solle dann eine Fremde mehr Gehör finden.

Meine Mutter schrieb an Goebbels privat. Sie legte das Foto des toten aufgebahrten Kindes bei, verfasste einen herzerweichenden Brief über einen Mann, der seiner schwangeren Frau mit einem bisschen rotem Leder für ein Paar Schuhe eine Freude bereiten wollte – in Zeiten, die so schwer für alle waren.

Kurz darauf passierte das Unvorstellbare.

Meine Mutter bekam Post – und zwar von Goebbels höchstpersönlich.

Ihr Gesuch war erhört worden. Josephas Mann bekleidete mit sofortiger Wirkung wieder alle ihm innehabenden Ämter. Vorsorglich verbrannten meine Eltern alle diesbezüglichen Unterlagen, als die Russen kamen. Reuter war meiner Mutter allerdings ewig dankbar. Leider kam er kurz darauf in russische Kriegsgefangenschaft.

Josepha hing so an ihrem Besitz. Ihr Mann hätte sich, anstatt auf sie zu hören, in den Westen absetzen sollen. Denn inzwischen war das Land vom Krieg gespalten und Sachsen zählte zur DDR.

Dort war das einstige Genie ein kleines Rädchen im Getriebe. Während im Osten niemand seine Fähigkeiten zu schätzen wusste, warteten im Westen die Angebote der Amerikaner auf ihn.

Doch nun war es zu spät.

Jahre später musste Josepha noch einmal einen hohen Preis für ihren Starrsinn bezahlen. Sie musste viele ihrer Villen an den Staat verschenken. Die Mieten in der DDR waren so niedrig, dass die Hausbesitzer sich nicht einmal die notwendigsten Renovierungsarbeiten leisten konnten.

Dann kam der 13. Februar 1945.

Mein Vater riss uns Kinder aus dem Schlaf. „Heute wird es ernst“, rief er aufgeregt.

Meine Schwester und ich wurden in alle verfügbaren Kleidungsstücke gepackt.

Die Sirenen heulten, als wir auf unserem kleinen Balkon standen. Ein Geschwader überflog uns und setzte Leuchtkugeln ab. Der Himmel über uns leuchtete – es war ein einziges Funkenmeer. Für die Bomber, die dann etwas später folgten, dienten die Feuerkugeln als Positionsangabe für die Bomben, die abgeworfen werden sollten.

Über uns lag eine unheimliche Stille, kein Windhauch war zu spüren.

Für einen Moment konnte man nicht einmal den dröhnenden Hall der Motoren der Kampfflugzeuge hören.

Minuten später wurde ein unglaublicher Wind entfesselt. Dieser riss all die „Christbäume“ aus loderndem Phosphor mit sich und trug sie weit fort. Wir schafften es gerade noch rechtzeitig in den Keller. Der alte Hauswirt war so schwerhörig, dass er die Sirenen nicht gehört hatte. Er war der Einzige, der einen Schlüssel zum Luftschutzkeller hatte. Man schlug sein Fenster ein und rüttelte ihn wach. Wir saßen alle versammelt im Keller, als er laut rief:

„Schaut euch das Inferno an. Dresden brennt!“

Eine Stadt mit Tausenden von Flüchtlingen, die am Bahnhof und überall in den Straßen rastend auf die Weiterfahrt aus dem Osten warteten, ging in Flammen auf.

Am Tag danach kamen die Bomber wieder und gaben der Stadt den Rest. Alle Feuerwehren im Umkreis waren dort, um die Feuer zu löschen. Keiner kam wieder.

Es sind Bilder, die ich niemals vergessen werde. Meine Schwester und die Kinder aus unserem Haus standen an der Straße, die in das ca. 25 km entfernte Dresden führte.

Es kamen Gestalten auf uns zu, die an Horrorfilme erinnern: Zombies – schwarz vom Rauch mit zerfetzten Kleidern und versengten Haaren.

Zu Hunderten zogen sie an uns vorbei.

Die Freundin meiner Schwester Gabriele wohnte zu dieser Zeit direkt in Dresden. Sie erzählte, sie seien im Luftschutzkeller gewesen, als eine Brandbombe das Haus traf.

Ihr Vater hatte ihre Mäntel in ein Fass Wasser getaucht, das an der Treppe stand. Dann waren sie durch das Kellerfenster hinaus auf die Straße in das brennende Inferno gerannt.

Die nassen Mäntel bewahrten sie davor, selbst in Flammen aufzugehen. Die Freundin traf ein Spritzer Phosphor am Bein, der sich blitzschnell bis auf den Knochen durchbrannte. Als sie ausgebombt in unsere Nachbarschaft zog, musste man sie in einem Handwagen fahren.

Auch meine Großmutter väterlicherseits wohnte in Dresden. Es dauerte Tage, ehe die Stadt wieder passierbar war. Mein Vater machte sich auf, um nach seiner Mutter zu suchen. Der Stadtteil, in dem sie lebte, war fast komplett zerstört worden, aber das Haus, in dem Auguste wohnte, stand noch.

Als er wiederkam, roch er entsetzlich nach Rauch und verbrannten Leichen.

Die Russen und die Rettung

Die Russen rückten immer näher. Sie waren bereits auf der einen Seite des Elbufers. Auf der anderen befand sich das Regiment von General Schörner, der vorher das Afrika-Kommando unter sich hatte. Radebeul lag im Tal. So beschossen sich die Kämpfenden tagelang mit Stalinorgeln, wie wir die Geschosse nannten.

Es war der 8. Mai, der Tag der Befreiung!

Die Menschen standen auf ihren Balkons und schwenkten weiße Tücher. Ich sehe sie noch. Sie kamen die lange Straße hinunter. Die russischen Einheiten. Zuerst mongolische Reiter, dann die Panzer. Amerikanische Panzer mit vielen Geschützen.

Die Amerikaner hatten die Russen voll ausgestattet, weil diese kein Kriegsgerät mehr hatten, sagte mein Vater. Im Prinzip trugen sie nur den roten Stern anstatt der amerikanischen weißen. Die Männer hatten sich in den Weinbergen versteckt.

Die Soldaten schossen auf alles und jeden. Der aufgestaute Hass war zu groß.

Meine Schwester ging aufs Gymnasium. Man hatte die jungen Mädchen versteckt, denn Vergewaltigungen gehörten zur Tagesordnung.

Einmal war ich als Fünfjährige allein mit meiner Mutter, als Offiziere ins Haus kamen. Sie trieben alle Frauen und Kinder auf dem Rasen vor dem Haus zusammen. An den Platz, an dem immer die Wäsche gebleicht wurde. Ich saß allein im ersten Stock in der Küche mit einer Blechtasse mit Radieschen am Küchentisch.

Man hatte mich irgendwie vergessen.

Plötzlich stand ein baumlanger mongolischer Russe lautlos in der Küchentür. Das Gewehr über dem Arm. Ich versteinerte buchstäblich, aber er war freundlich. Er lächelte mich an und ging.

Unten auf der Bleiche ging es nicht so lustig zu. Alle Frauen sollten in Lastwägen verfrachtet werden und nach Sibirien gebracht werden. Das Gleiche geschah in den umliegenden Häusern.

Der Oberkommandant war ein eiskalter, gnadenloser Typ. Intuitiv wusste meine Mutter plötzlich, dass er ein russischer Jude war. Sie stellte sich neben ihn und sprach ihn leise auf Deutsch an. Er schaute sie verdutzt an, dann redete sie ihm ins Gewissen. „Wollen Sie wirklich Gleiches mit Gleichem vergelten? Ist es denn nicht genug, was Ihr Volk bereits erlitten hat? Ein Volk, das sich als auserwählt fühlt, muss doch besser sein. Es muss doch einmal genug sein mit all dem Hass.“

Es war ein gewagtes Spiel.

Er solle doch ein Exempel im guten Sinne statuieren und die Frauen bei ihren Kindern lassen. Sie redete und redete, bis er ihr auf die Schulter griff, nickte und mit mürrischer Miene den Befehl gab, dass alle Frauen in ihre Häuser zurückkehren und nicht mehr auf die Straße gehen sollten.

Erst nach der Wende fand man in der Nähe von Heidenau die Massengräber mit all den Frauen, die aus ihren Häusern getrieben worden waren, um erschossen zu werden.

Jeder musste jetzt den Preis für den verlorenen Krieg zahlen. Zahllose Menschen wurden heimatlos oder enteignet. Meine Mutter hatte vorgesorgt, die Gardinen abgemacht, die Teppiche verschwinden lassen, so dass unsere Räume kahl und unwohnlich wirkten. Dazu hatten wir ja zu unserem Glück kein Spülklosett und kein Bad, sondern nur das „Örtchen“ auf halber Treppe.

Das russische Oberkommando hatte Radebeul zum Hauptquartier erkoren. Wir lebten jetzt unter 220 000 Russen.

Da unsere Wohnung nicht den Ansprüchen der Besetzer genügte, durften wir sie weiterhin bewohnen. Die Russen holten ihre Familien nach. Junge Russinnen mit roten Backen und Kopftüchern. Viele wirkten wie Mamuschkas.

Auch in die Villa neben uns zog eine russische Familie ein. Die Mutter mit dicken roten Backen und kräftigen Waden. Zu ihrer Schürze trug sie Stöckelschuhe, nachmittags um drei servierte sie das Mittagessen: Makkaroni mit Hackfleischsoße – eine Delikatesse.

Die Russin mit den aufgetürmten rotblonden Locken nahm mich gleich unter ihre Fittiche. Ich durfte mitessen, mehr als einmal. Ich war ihr ewig dankbar.

Während wir die Nudeln verschlangen, flüsterte sie, dass wir ruhig sein sollen. Im Hintergrund hörte man das laute Schnarchen ihres schwer betrunkenen Mannes, der inzwischen in voller Montur im Ehebett eingeschlafen war. Wir Kinder unterhielten uns in Zeichensprache oder spielten draußen Ball.

Neben all den schrecklichen Erinnerungen, die diese Zeit mit sich brachte, fällt mir auch etwas sehr Komisches ein:

Die Russen waren begeistert von unseren Spültoiletten. Sie wuschen ihre Kartoffeln darin und spülten dann. Natürlich landeten die Kartoffeln damit zum Teil in der Kanalisation, die verstopfte. Der ratlose dazugeholte Mann schoss vor lauter Wut in die Toilette!

Solche Geschichten kursierten überall.

Auch die Besetzung forderte ihren Tribut. Nun verloren alle ihre Jobs. Unser Nachbar, ein Justizbeamter, war jetzt bei der Müllabfuhr. Auch mein Vater wurde wie viele andere seines Postens als Lehrer enthoben. Die Kommunisten übernahmen das Ruder.

Gut, dass meine Eltern in weiser Voraussicht alle bedenklichen Unterlagen verbrannt hatten.

Mein Vater verdiente zusätzliches Geld jetzt als Pianist in einer Band in einem Vergnügungslokal für die Russen. Erst um drei Uhr morgens war sein Tag zu Ende. Der Heimweg war dann aber lebensgefährlich.

Die sturzbetrunkenen Russen rissen einem die Kleidung vom Leibe, nahmen einem das bisschen Geld ab, prügelten oder erschossen einen.

Meine Mutter ging nun nachts in den Garten, um ihn zu spritzen. Tagsüber gab es kein Wasser, und wir waren auf den Garten angewiesen.

Dresden hatte bei der ersten kommunistischen Wahl der DDR am schlechtesten abgeschnitten. Dafür wollte man die Menschen vor Ort büßen lassen. Das russische Kommando strich die Lebensmittel einfach auf ein erbärmliches Minimum.

Einmal gab es Kartoffelmehl, alle stürzten sich drauf. Was viele nicht wussten, für das Mehl hatte man nur die Schalen und die giftigen Kartoffelkeime zermahlen. Die älteren Leute starben wie die Fliegen.

Mein Vater hatte auch eine Wassersuppe mit diesem Mehl gegessen. Er wurde schwer krank.

Die Nachbarin erbarmte sich. Sie hatte ein kleines Kind und bekam etwas Milch. Sie gab meinem Vater jeden Tag etwas davon ab, bis es ihm langsam besserging.

Wir Kinder bekamen dicke Bäuche. So wie die afrikanischen Kinder in den Hungergebieten. Monatelang gab es nur Suppe. Wasser mit einem kleinen bisschen Gemüse aus dem Garten.

Wir alle überlebten durch den Garten.

Meine Mutter hatte heimlich zwischen den Tomaten Tabak angebaut. Das war streng verboten. Doch sie machte es trotzdem und verkaufte den Tabak anschließend auf dem Schwarzmarkt.

1 731,78 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
356 стр. 111 иллюстраций
ISBN:
9783946959793
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