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Das Ende der Kindheit
und eine fantastische Begebenheit

Die Jahre vergingen. Mein Großvater wurde wieder an eine neue Schule versetzt, meine Mutter und ihre Geschwister wurden erwachsen. In der Zwischenzeit studierte Johannas Bruder Gerhard Jura. Karl hingegen war in Alter von 14 Jahren Hals über Kopf von zu Hause fortgelaufen. Er wollte unbedingt zur See fahren.

Er hatte bereits auf einem Schiff angeheuert, als mein Großvater ihn in letzter Sekunde noch davon abhalten konnte und ihn zurück nach Hause brachte. Karl wollte die große, weite Welt sehen, doch er einigte sich mit meinem Großvater darauf, dass er erst auf die Seemannsschule gehen würde, um das Kapitänspatent zu machen.

Im Laufe dieser Zeit war er 1. Offizier auf der „Padua“, einem Schwesterschiff des Viermasters „Pamir“, und fuhr um Kap Horn. Dort musste er bei Windstärke 12 in unglaublicher Höhe in die Segel.

Später war er Kapitän bei der Handelsmarine, die dann kurzerhand ab 1938 zur Kriegsmarine erklärt wurde.

Jedes Mal, bevor er in See stach, besuchte er meine Mutter und bat um ihren Rat: „Hannel, wie sieht es aus, werde ich wiederkommen?“

Meine Mutter hatte keine Angst. Von ihr ging eine unglaubliche Kraft aus. Karl erzählte mir oft, dass ihn meine Mutter durch schwere Situationen in seinem Leben geleitet hatte. Wenn er in ihre Augen sah, fand er dort einen unbeirrbaren Glauben.

Auch dieses Mal sagte sie zu ihm: „Es wird alles gut, du kommst wieder.“

Was kurz darauf passierte, ist so unglaublich, dass Karl immer sagte, er könne es immer noch nicht fassen, obwohl er die Geschichte bereits so oft erzählt habe.

Die kommenden Ereignisse begannen damit, dass Karl das Kommando der „Wilhelm Gustloff“ übernehmen sollte. Das war eigentlich nichts Außergewöhnliches, denn er hatte dieses Schiff schon viele Male als Kapitän navigiert.

Karl stand bereits an Deck, als er die Order erhielt, abzubrechen und ein anderes Schiff zu übernehmen. Er sagte, in diesem Moment habe er sich wirklich bemühen müssen, seinen Unmut über die spontane Planänderung nicht lautstark kundzutun. Er habe dann gerade noch seine Emotionen unter Kontrolle bekommen und dann schweigend das andere Schiff übernommen. Wenige Stunden später sollte er dem Schicksal unendlich dankbar sein.

Denn an diesem Tag, dem 30. Januar 1945, sank die „Wilhelm Gustloff“ mit mehr als 9 000 Menschen an Bord durch einen russischen Torpedoangriff.

Karls Freund, der das Kommando für ihn übernommen hatte, starb mit vielen anderen seiner Kameraden.

Lange Zeit kämpfte Karl mit Schuldgefühlen.

Warum hatte ausgerechnet er überlebt und alle anderen mussten sterben? Doch wie viele andere in der Marine lebte er jeden Tag mit dem Tod. Immer wieder musste er über die Ostsee hinauf nach Skandinavien und Norwegen, um Munition, Kriegsgerät und Pferde in die Kriegsgebiete zu liefern.

Er berichtete immer davon, dass es erst nur ein paar Verletzte gewesen seien, die sie auf den Schiffen transportierten, später beförderten sie nichts anderes mehr als Verwundete. Schwer verletzte Menschen, die man unter entsetzlichen Bedingungen bergen musste. Es war kaum möglich, bis an die Steilufer heranzufahren, weil die Engländer ihre Schießanlagen in den Hängen angebracht hatten. Jedes Schiff, das sich näherte, wurde sofort beschossen.

Entsetzliche Szenarien spielten sich ab. Man fuhr mit Begleitschiffen im Spitfire der Alliierten.

So auch eines Tages. Karl war mit seinem Schiff gerade in ein Geschwader der Alliierten geraten. Zwei Schiffe waren bereits gesunken. Er stand auf der Brücke. Sein Steuermann war schwer verletzt. So übernahm er selbst das Ruder. Mit nur mehr einer Handvoll an Besatzung im Hagel der Geschosse. Als er wie durch ein Wunder mit dem Schiff doch noch den sicheren Hafen erreichte, bemerkte er, dass seine Jacke total durchschossen war. Überall sah man Schmauchspuren, Durchschüsse, die Ärmel waren komplett zerfetzt.

Während des Granatenhagels und der damit verbundenen Todesangst hatte er plötzlich das unglaubliche Erlebnis gehabt, über seinem eigenen Körper zu stehen. Er konnte sich genau unter sich sehen. Es sei ein fantastisches und erhebendes Gefühl gewesen, so frei zu sein, so völlig ohne Angst.


In diesem Zustand und in dieser Euphorie hatte er anscheinend das Ruder bedient. Während er sich mit dem Gottvertrauen, vom dem meine Mutter Johanna so oft sprach, der übermenschlichen Aufgabe stellte, die Situation unter Beschuss zu bewältigen, hatte er gefühlt, wie er in eine andere Realität versetzt wurde, in der er Herr der Lage wurde. Nach den zahllosen Einschüssen in seiner Jacke zu urteilen, hätte er hundertmal den Tod finden müssen.

Er hatte die Jacke behalten und sie als Erinnerung rahmen lassen, damit er nie vergessen würde, was ihm damals widerfahren war und zu welch unglaublichen Fähigkeiten der Geist in der Lage ist.

Johannas große Liebe und ein Traum

Meine Mutter hatte in der Zwischenzeit eine Gesangsausbildung absolviert. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, in einem früheren Leben eine berühmte Sängerin gewesen zu sein. Tatsächlich hatte Johanna eine wunderschöne Stimme. Doch das Singen war nur eines ihrer vielen Talente. Sie war sehr intelligent und hatte praktisch das Jurastudium und das Seemannspatent mit ihren Brüdern gemacht. Ich bin mir sicher, dass sie die Prüfungen auch selbst hätte ablegen können. Doch obwohl die Frau seit der Jahrhundertwende endlich auch studieren durfte, war es dennoch unüblich. Das Klischee, dass die Frau an den Herd gehöre, war noch zu fest in den Köpfen verankert. Das galt auch für meine Großmutter. Johanna ging nach Bad Elster und wurde Krankenschwester. Zudem war meine Mutter äußerst kreativ, sie malte und schrieb Gedichte.

Bald hatte sie auch einen glühenden Verehrer. Er hieß Willy. Er war ein attraktiver, braungebrannter sportlicher Mann mit blondem Haar, blauen Augen und einem sympathischen Lachen.

Sein Vater war nach Südamerika ausgewandert und besaß dort eine große Plantage. Willy war nach Deutschland gekommen, um neue Farmgeräte zu kaufen. Bald verband die beiden mehr als nur Freundschaft. Willy war fest entschlossen, meine Mutter zu heiraten. Sie war die Liebe seines Lebens.

Johanna sollte mit ihm nach Südamerika gehen. Er wollte erst ein Haus für sie bauen, dann sollte sie nachkommen. In der Zwischenzeit wollten sich die beiden schreiben.

Meine Mutter wartete, bekam aber keine Post. Sie schrieb Willy, bekam aber nie eine Antwort. So ging es Tage, Monate, ein Jahr. Irgendwann gab sie unter Tränen auf. Während dieser Zeit träumte sie immer wieder von einer Frau, die ihre Briefe zerriss. Obwohl meine Mutter sonst jeden Traum zu deuten wusste, diesen einen konnte sie sich seltsamerweise nicht erklären.

Zerriss diese Frau ihre Briefe, weil sie die neue Frau an Willys Seite war? War meine Mutter ihm inzwischen gleichgültig, weil er diese andere Frau liebte?

Es schien alles drauf hinzudeuten. Sich aufzudrängen war Johanna fremd, dazu war sie viel zu stolz. Erst als sie längst verheiratet war, sollte sie Willy wiedersehen.

Sie erzählte mir und der ganzen Familie oft von ihrer enttäuschten Liebe und was Willy damals zu ihr gesagt hatte. Er habe sie gefragt, warum sie nie seine Briefe beantwortet und ihn gleich vergessen habe. Er habe so lange gehofft und gewartet.

Vollkommen außer sich hatte meine Mutter entgegnet:

„Natürlich habe ich dir geschrieben, du hast niemals geantwortet. Ich habe von dir und einer Frau geträumt, deshalb war ich mir sicher, du hättest mich vergessen. Die Frau hatte lange dunkle Haare, blaue Augen und Grübchen – und sie zerriss all meine Briefe.“ Willy war daraufhin leichenblass geworden und hatte geantwortet:

„Die Beschreibung trifft genau auf meine Frau zu. Nachdem ich so viele Jahre vergeblich auf ein Zeichen von dir gehofft hatte, dachte ich, du hättest jemand anderen gefunden.“


Johanna mit Rosen

Willy stellte seine Frau, die damals seine Haushälterin gewesen war, zur Rede, und siehe da, sie hatte die Post meiner Mutter abgefangen und vernichtet. Sowohl Willy als auch Johanna waren inzwischen verheiratet.

Der Mann an der Seite meiner Mutter hieß Johannes – und die Geburtstage der beiden lagen genau vier Tage auseinander.

Das Lied der Liebenden

Immer wenn der Mond dunkle Täler beglänzt und der Wind silberne Pappeln bewegt, gehn die Liebenden der Welt in ihr eigenes Land.

Wandern mit lächelnd erhobenem Gesicht an blauen Weihern vorbei, wo im Gebüsch der Vogel Nacht zärtlich sein Lied verströmt.

Dann stehen sie still und atmen – süßer denn je schwillt der Duft der Dolden des Baumes, und das helle Band langer Straßen von innen tut sich hoffnungsvoll auf.

Wenn dann die Sterne im Kranz lächelnd den Liebenden leuchten, sind sie der Welt entrückt, im eigenen Land.

Johanna Tiedtke

Die Obstbäume, ein Zauberpulver
und ein Geist

Johannes war Lehrer und Künstler, vor allem aber auch ein Freigeist und Pianist. Er gehörte gleich zur Familie. Da die Geschwister meiner Mutter alle frei nach Gehör Klavier spielten und jede Operette auswendig kannten, musizierten und sangen bald alle gemeinsam und erlebten wunderbare Abende.

Meine Mutter schrieb zu dieser Zeit sehr viele Gedichte. Mein Vater Johannes war so begeistert von ihrer lyrischen Ader, dass er einige davon dem Schriftsteller Gerhard Hauptmann übersandte. Dieser antwortete sogar und lobte ihr außergewöhnliches Talent. Johannesʼ Vater hatte nur unter einer Bedingung in sein Musikstudium eingewilligt: dass er begleitend dazu einen bodenständigen Beruf erlernen würde. Nachdem Johannes sein Lehrerexamen gemacht hatte, bekam er das Angebot, in einer Landschule in Sachsen zu arbeiten. Diese Schule zeigte sich bald in den Träumen meiner Eltern – und zwar immer mit einem Garten, auf dem 45 Obstbäume standen.

Als es dann so weit war und Johannes und Johanna den Ort das erste Mal besichtigten, konnten sie allerdings keinen einzigen Baum entdecken. Die Enttäuschung der beiden war groß. Glaubten sie doch an ihre Träume und waren fest davon überzeugt, dass es mehr auf dieser Welt gab, als der einfache Geist erfassen kann.

Als der Bürgermeister sie zu der obligatorischen Besichtigungstour begrüßte, fragte mein Vater vorsichtshalber: „Ein Garten mit Obstbäumen gehört wohl nicht zum Schulgrund?“

Der Bürgermeister lachte und öffnete eine Tür, die in einer hohen Mauer verborgen war, und meine Eltern blickten auf einen riesigen Obstgarten. Sie konnten es kaum fassen und dann zählten sie nach. Es waren exakt 45 Obstbäume.

932 – ein Jahr nachdem meine Eltern eingezogen waren, wurde meine Schwester Gabriele geboren.

Die Schule war in einem moorigen feuchten Gebiet erbaut worden. Johannes war Wünschelrutengänger und konnte Wasseradern erspüren.


Johanna mit Geschwistern Roth und Karl im Garten mit den 45 Obstbäumen

Oft waren ihm die Bauern sehr dankbar dafür. Mit seiner Hilfe konnten sie auf ihren Weiden Brunnen für ihr Vieh bauen. Jahre später waren die Brunnen immer noch in Betrieb.

Auf diese Weise lernte er auch einen Schäfer kennen.

Dieser hatte eine Tochter, die sich anbot, Erledigungen für meine Eltern zu übernehmen. Irgendwann kam diese nicht mehr. Stutzig geworden erkundigte sich meine Mutter nach ihr. Der Schäfer erklärte daraufhin traurig, dass seine Tochter an Tuberkulose erkrankt und sehr schwach sei.

Meiner Mutter fiel gleich ein wundersames Kräuterpulver ein. Es stammte von einem ungarischen Magier, der im 18. Jahrhundert in einem sehr kalten Winter von Ungarn nach Deutschland reiste. Während eines Schneesturms brach die Achse seiner Kutsche und er blieb im Schnee stecken. Halb erfroren saß er am Straßenrand, als ihn ein vorbeifahrender Landwirt entdeckte, ihn mit nach Hause nahm und ihn gesund pflegte.

Zum Dank schenkte der Ungar ihm ein Kräuterpulver, das wahre Wunder bewirken sollte. Eingenommen wurde es mit den abnehmenden Mondphasen, ohne Wasser, es war sehr bitter und das trockene Pulver war sehr schwer zu schlucken. Vor und auch nach der Einnahme musste man mehrere Stunden fasten.

Meine Eltern hatten durch Freunde von diesem Pulver gehört und es selbst getestet. Es machte sich die Heilkraft des Wiesengamanders aus der Theiß in Ungarn zunutze. Meine Mutter hatte ein Geschwür im Kiefer, an dem sie bereits mehrfach operiert worden war. Das Mittel ersparte ihr eine erneute Operation, das Geschwür heilte ab und sie hatte zeitlebens nie wieder Probleme damit.

Johanna war also von dessen Wirkung überzeugt und gab das Pulver an den Schäfer weiter. Seine Tochter nahm es genau den Anleitungen folgend ein und in kürzester Zeit verschwand der Husten und sie wurde wieder vollkommen gesund.

Leider verschwand auch das wunderbare Pulver nach einiger Zeit wie so manch anderes Heilmittel aus dieser Zeit alsbald aus dem Handel. Irgendwann musste der Gastwirt eine Analyse machen lassen, die zu kostspielig für ihn war.

Langsam wurden meine Eltern heimisch und wieder einmal erwies sich das Schulgelände als ein Ort mit übernatürlichen Präsenzen. Es war fast schon so, als ob meine Mutter all die ruhesuchenden Geister dieser Welt magisch anziehen würde.

Es spukte wieder.

Einer der Lehrer der Schule war depressiv gewesen und hatte sich im Klassenzimmer erschossen.

Jeden Abend, Punkt 19:00 Uhr, knarrte die Küchentür und öffnete sich – wie von Zauberhand – von ganz alleine. Johanna hatte in unmittelbarer Umgebung einen geflochtenen Korbhocker mit rundem Kissen positioniert. Das Kissen senkte sich und eine unsichtbare Gestalt nahm Platz.

Jeder wollte das Phänomen sehen.

Auf diese Weise hatten meine Eltern viel Besuch, denn das Schauspiel wiederholte sich mit hoher Zuverlässigkeit jeden Abend.

Die Mutter von Johannes, eine gebürtige Ostpreußin, kam oft zu Besuch und sagte dann immer: „Herrjott, jibt der Kerl denn jar keine Ruhe.“

Natürlich sprachen meine Eltern auch mit dem Geist und baten ihn, ins Licht zu gehen.

Einmal, als Johanna abends noch Stifte aus der Schulstube holen wollte, stand er plötzlich vor ihr. Im ersten Moment war sie sehr erschrocken. Ein anderes Mal passierte dies mit Gabriele, die laut aufschrie. Sie hustete dann sehr eigenartig, als wäre sie gewürgt worden. Ab da wurde es meinen Eltern zu viel. Sie baten um Versetzung – und die kam glücklicherweise auch sehr schnell.

Der Zweite Weltkrieg begann und auf dem Lande klopften pro Tag bis zu 23 Bettler an die Tür. Man konnte nicht allen etwas geben, dennoch versuchten Johanna und Johannes das wenige, das sie hatten, zu teilen. Obwohl die Spannungen im Land zunahmen, verbrachten sie viele lustige Stunden in der Schule. Irgendwann – fast schon über Nacht – zog der Fortschritt ein. Das erste Versandhaus eröffnete in Dresden. Plötzlich konnte man alles bestellen. Kleider, extravagante Hüte, Spitzenunterwäsche.

Johannesʼ Kollege Kurt war bereits sehr von den Nationalsozialisten angetan. Überall gärte es.

Der Umschwung war spürbar, rasend nahm er die Gemüter in Beschlag. Jeder steckte jeden an. Es war wie eine große Welle, die alles und jeden erfasste.


Johannes vor der Schule

Mitgerissen von einem großen Versprechen nach diesem letzten Krieg, der so viel von allen gefordert hatte. Auch meine Mutter war anfangs von den neuen politischen Parolen begeistert. Liebte sie doch das Nordische: die Edda, die Runen, die ganze Mythologie, die der Nationalsozialismus geschickt eingebettet hatte.

Ein Lügengespinst nach dem anderen wurde gewoben.

Ein neues Zeitalter begann – und meine Eltern zogen um.

Endlich wohnten sie nicht mehr weit von der Stadt entfernt. Man konnte die Konzerte in Dresden besuchen, ohne lange Wegstrecken zurücklegen zu müssen.

Kulturell betrachtet war das eine Offenbarung. Meine Eltern waren sehr kontaktfreudig, knüpften schnell Freundschaften und meine Mutter war wieder schwanger. Doch plötzlich wendete sich das Blatt: Johannes wurde an die Front einberufen.

Johanna und die Vorhersehung

Endlich war es so weit. Nach langem Warten bekam mein Vater Johannes ein paar Tage Heimaturlaub. Meine Mutter ging zum Friseur. Dies war der Ort, an dem nichts geheim blieb. Alle Geschichten, die sich im Ort ereigneten. machten hier die Runde. Die Friseuse, eine hübsche Blondine, erzählte eifrig drauflos.

„Ach, wie schön für Sie. Mein Mann hat keinen einzigen Tag frei, die haben Urlaubssperre im Moment.“

Doch kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, entgegnete meine Mutter spontan: „Nein, da irren Sie sich, Ihr Mann hat Sonderurlaub. Jetzt machen Sie mal ganz schnell. Der steht schon mit einem Blumenstrauß vor Ihrer Tür.“

Solche Geschichten ereigneten sich ständig. Ungläubig starrten die Frauen dann meine Mutter an. In diesem Fall musste Johanna heftig insistierten, erst dann erwog die Friseuse, meiner Mutter Glauben zu schenken, und bat ihre Chefin darum, nach Hause gehen zu dürfen.

Diese schaute zwar etwas zweifelnd, sagte dann aber: „Na ja, jetzt bin ich aber gespannt, ob das stimmt. Also lauf mal schnell nach Hause, und falls dein Mann wirklich zu Hause ist, dann kannst du dir heute freinehmen.“

Als alles so passierte, wie Johanna es vorausgesagt hatte, sprach sich das wie ein Lauffeuer herum.

Das nächste Mal, als Johanna zum Friseur ging, standen da viele wissbegierige Frauen, die sie befragten, wie es ihren Männern ginge. Ob sie verletzt seien, in Gefangenschaft geraten waren und wann sie nach Hause kämen. Zu ihrem eigenen Erstaunen konnte sie all diese Fragen beantworten und sogar deren Heimkunft exakt auf die Stunde vorausprophezeien.

Mehr und mehr warfen aber auch die unangenehmen Dinge wie Krankheit und Tod ihren Schatten voraus.

Meine Schwester Gabriele war zu dieser Zeit die ganze Stütze meiner Mutter. Als sie acht Jahre alt war, wurde sie sehr krank. Scharlach mit Rückfall. Das war damals oftmals tödlich.


Danach bekam sie Nierenversagen und Wassersucht.

Es dauerte lange, bis sie wieder gesund war – und irgendwie schien es so, als ob sie sich nie mehr ganz von dieser Krankheit erholte.

Als sie älter war, studierte Gabriele Musik, um wie ihr Vater Pianist zu werden. Der Plan war, nach Italien zu gehen und dort Klavierkonzerte zu geben, doch dann bekam sie Beschwerden mit der Sehne ihres kleinen Fingers.


Schwester Gabriele

Der Traum platzte, sie sattelte auf die Malerei um und besuchte die Zeichenschule der Meißner Porzellanmanufaktur. Nicht um Porzellanmalerin zu werden, sondern um das Zeichnen zu erlernen.

Egal auf welche Kunstschule sie später ging, immer behielt man ihre Arbeiten.

1940 – mitten in den Kriegswirren – wurde dann ich geboren. Meine Mutter ließ mich auf den in diese Zeit passenden und seltsam gottesfürchtigen Namen Gottlinde taufen. Ich sollte eine ganz besondere Bindung zu meiner Schwester Gabriele haben – lange über ihren Tod hinaus. Doch dazu komme ich noch.

An meinen Vater Johannes kann ich mich eigentlich erst ab meinem vierten Lebensjahr erinnern. Alle Erlebnisse basieren auf den Erzählungen meiner Mutter oder Schwester.

In den kurzen Zeitspannen, in denen er auf Heimaturlaub war, war es kaum möglich, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Ich glaube, er war sehr unglücklich darüber – irgendwie blieben wir uns immer ein bisschen fremd.

1944 hatte man Johannes todkrank nach Hause transportiert. Viele Monate verbrachte er in einem Wehrmachtslazarett, ehe man ihn als unheilbar krank entließ.

Mein Vater war bei der Luftwaffe. Dort war er für den Nachschub der Waffen nach Russland verantwortlich. Als Teil von Hitlers teuflischer Mission, dem Russlandfeldzug „Barbarossa“, diente er an der „Rollbahn“, der Hauptverkehrsader zwischen der weißrussischen Grenze und Moskau. Konvoi für Konvoi transportierte man dort unablässig Munition und Waffen bis nach Stalingrad.

Alle Straßen waren vermint. Der Zug fuhr in einer Kolonne.

Plötzlich ging eine Mine los und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Nur zwei Fahrzeuge des gesamten Konvois erreichten ihren Bestimmungsort. Alle anderen waren entweder den Partisanen zum Opfer gefallen oder durch die Minen gestorben.

Johannes, der ein musischer und äußerst feinsinniger Mensch war, konnte die Schrecken des Krieges nie verwinden. Er wurde schwer magenkrank, depressiv und war zeitlebens gezeichnet. Aufgrund ihrer seherischen Fähigkeiten erlebte meine Mutter den Krieg besonders intensiv mit.

Eines Nachts, erzählte sie, sei sie schweißgebadet aufgewacht. Sie habe gefühlt, dass sich ihr Mann in großer Gefahr befand.

Sie setzte sich an den Bettrand und betete bis zum Morgengrauen unablässig. Erst nach vielen Stunden wich das Gefühl der Angst einer inneren Ruhe und Gewissheit, dass die Gefahr vorüber sei. Als mein Vater zurückkam, erzählte er, dass sein Bataillon in dieser Nacht nur knapp dem Tod entronnen war.

Er berichtete Folgendes: Wenn die Truppen nachts eine Pause einlegten, formatierten sie alle Fahrzeuge im Kreis. Auf diese Weise wollte man verhindern, ein allzu offenes Ziel für die Partisanen darzustellen, von denen es in den russischen Wäldern nur so wimmelte.

Eine Zeit lang ging alles gut, doch eines Nachts wurden sie dann doch von den Partisanen überrascht. Am nächsten Morgen fand Johannes die Hälfte seiner Kameraden mit durchgeschnittenen Kehlen in ihren Wagen. Gerade mal zwei hatten überlebt. Von diesem Tag an ging das Kommando an einen neuen Oberbefehlshaber, der anordnete, dass die Fahrzeuge von nun an in einer anderen Formation aufgestellt werden sollten.

Daraufhin kam es in einer der darauffolgenden Nächte zu folgender Begebenheit:

Der Soldat, der Wache halten sollte, war bekannt dafür, gerne einzuschlafen. Also bot sich mein Vater freiwillig als zusätzliche Wache an.

Es war stockfinster, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen, als er gegen Mitternacht plötzlich Stimmen vernahm. Die Zweige knackten, ringsherum brach die Hölle los. Die neu angeordnete Position erwies sich als folgenschwerer Fehler – die Fahrzeuge waren zu weit voneinander entfernt, um sich gegenseitig Schutz zu bieten.

„Wie viele sind es? Sind sie in der Übermacht?“

All diese Fragen gingen meinem Vater durch den Kopf. Er weckte den schlafenden Soldaten neben sich, der eigentlich Wache schieben sollte, und wies ihn an, sich absolut still zu verhalten. Irgendetwas sagte ihm, dass sie alle keinen Laut von sich geben durften.

Die ganze Nacht war erfüllt von dieser Stille, die einer Todesstarre glich. Keiner griff an. Von keiner Seite vernahm man einen Ton. So ging das bis zum Morgengrauen. Im Licht der Scheinwerfer brach ein neuer Tag an und der Feind war verschwunden.

Mein Vater wusste, dass er von einer höheren Macht behütet worden war. Meine Mutter wusste, dass ihre Gebete erhört worden waren.

Eines Tages kam Johannes von der Front zurück und sagte: „Hannel, Hitler wird diesen Krieg nicht gewinnen.“

Er hatte gesehen, was mit den Juden gemacht wurde, wie sie deportiert wurden, um dann den Tod zu finden.

„Das ist Völkermord und die Tat eines Wahnsinnigen.“

Im Krieg war Johannes spontan zum Fotografen ernannt worden und musste Fotos von den in Russland erbauten Straflagern der Deutschen anfertigen.

Anfangs waren diese Lager noch leer. Später, als die Russen einmarschierten, hat meine Mutter all die Fotos von den Straflagern drei Tage lang in unserem Kachelofen verbrannt. Man hätte Johannes sofort erschossen, hätte man diese Bilder gefunden.

Meinem Vater ging es zwischenzeitlich sehr schlecht, seine Magenprobleme wurden immer schlimmer, oft konnte er die wenige Nahrung, die er zu sich nahm, kaum bei sich behalten. Also setzte meine Mutter Himmel und Erde in Bewegung, um ihm zu helfen. Über Bekannte hatte sie einen alten Professor ausfindig gemacht. Er war Gastroenterologe in der Charité in Berlin und empfahl, dass Johannes Vulkanasche und frisch ausgepressten Kartoffelsaft zu sich nehmen sollte.

Meine Mutter presste Unmengen an Kartoffelsaft. Die Vulkanasche, die nur sehr schwer erhältlich war, sollte sich anscheinend wie ein Film über die Magenwand legen. Ich habe keine Ahnung, wie meine Mutter an dieses exotische Heilmittel herangekommen war.

Wie auch immer, der Zustand meines Vaters besserte sich von Tag zu Tag. Johannes war nun nicht mehr kriegstauglich, eine Wendung, der er bestimmt nicht nachtrauerte. Endlich konnte er stundenweise wieder Unterricht geben. Er war ein sehr einfühlsamer Lehrer. Noch Jahre später besuchten ihn seine Schüler, um sich bei ihm zu bedanken. Doch so gern Johannes seinen Beruf auch ausübte, seine wahre Passion blieb die Musik. Parallel zum Lehramt war er Kapellmeister, Dirigent und gab Konzerte.

1 731,78 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
356 стр. 111 иллюстраций
ISBN:
9783946959793
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