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Wolfgang Rauh – Die Alptraum-Beule

1

Ende Mai – diesjährig Beginn der Kurze-Hosen-Zeit – segelte mein Leben aus dem bequemen Binnengewässer der Durchschnittlichkeit hinaus und erlitt irgendwo in dem Meer bizarrer Ereignisse, die folgten, Schiffbruch. Nachträglich ist es verwunderlich wie lange ich mich gegen die Erkenntnis wehren konnte, dass etwas nicht stimmte. Allerdings ist die Geschichte, die Sie gleich hören werden, bis zum Anschlag verstörend – wenn ein gesunder Verstand da die Schotten dicht macht, darf man ihm keinen Vorwurf machen.

Aber von vorn. Es begann mit einem Jucken, knapp unterhalb des Knies. Zuerst war gar nichts zu sehen, dann wurde die Stelle rot, irgendwann schwoll sie an und schließlich … aber dazu kommen wir noch.

In meinem Schlafzimmer stand ein ausladender Spiegel – groß genug um sich als ausgewachsener Mann darin vom Scheitel bis zur Sohle betrachten zu können. Ich gaffte mich darin jeden Tag an! Morgens und abends! Jetzt fragen Sie sich vielleicht, wie man so selbstverliebt und auch noch stolz drauf sein kann, aber so war es nicht. Ich hatte gerade eine schwere Trennung hinter mir, und die täglichen Sitzungen mit meinem Spiegelbild waren eine Art Meditation, die mein zerstörtes Selbstwertgefühl wieder aufpäppeln sollten.

Fakt ist: Ich hätte die Möglichkeit gehabt, zu sehen was da unter meinem Knie wucherte, wenn ich von meinem Gesicht nicht so abgelenkt gewesen wäre. Als ich Anfang Juni dann mit dümmlich gaffender Miene vor meinem Schrankspiegel stand, war der einzige, klare Gedanke, an den ich mich erinnere, dass ich dieses Jahr wohl nicht viel Zeit im Freibad verbringen würde. Zumindest nicht in kurzen Hosen.

2

„Das ist ein Auge.“ Bernd, ein Bekannter aus Kindertagen, der nach der Trennung von meiner Verlobten aus unerfindlichen Gründen zu meinem gesamten sozialen Umfeld geworden war, nannte Dinge gerne beim Namen und hob Offensichtliches auch dann hervor, wenn niemand danach fragte.

„Vielen Dank“, antwortete ich. „Gut, dass du gekommen bist, ich war mir da nicht ganz sicher.“ Natürlich war ich mir sicher. Ein verdammtes Auge wölbte sich unterhalb meines Knies aus dem Schienbein und betrachtete mit der ungetrübten Aufmerksamkeit eines Kleinkinds seine Umgebung. Es gab an der ganzen Sache nichts, bei dem man sich hätte nicht sicher sein können

Abgesehen von Bernds messerscharfer Folge-Deduktion: „Das gehört da nicht hin.“

Kennen Sie das, wenn man Freunde gerne ohrfeigen möchte, weil sie nicht die Hilfe sind, die man vorher in sie hineininterpretierte? Wäre ich ein gewalttätiger Mensch, ich hätte Bernd in diesem Moment auseinandergerissen wie ein Stück faules Obst.

„Siehst du etwas damit?“ Er wedelte vor meinem neuen Auge herum.

„Lass das.“

Ich sah nichts mit dem zusätzlichen Auge. Ob das meine Lage besser oder schlechter machte, wusste ich nicht. Es war eindeutig lebendig, und wenn ich mein Bein entsprechend verdrehte, konnten wir uns gegenseitig in die Pupillen starren. Was wir auch taten. Und ja, das war genauso verstörend, wie es sich anhört.

Ich hatte mir moralische Unterstützung von Bernd erwartet. Irgendwas in der Richtung von: Ach, davon hab ich schon gehört. Ist ein Virus, geht grad um. Haben alle erfolglosen Singles.

Klingt dämlich, ich weiß. Wären Sie mit einem dritten Auge einfach zum Arzt gegangen, ohne zuerst mit engsten Vertrauten zu sprechen?

Bernd nippte an seinem Kaffee, ohne den organischen Albtraum unter meinem Knie aus den Augen zu lassen, und dabei sah er aus wie ein schlecht besetzter Filmbösewicht, der etwas ausheckt. Ich weiß noch, dass ich begann, mich wie ein Stück Fleisch zu fühlen, und augenblicklich taten mir die Tänzerinnen in den Lokalen leid, in die mich die Zeit nach der Trennung manchmal geführt hatte. In den Gentleman-Clubs, in die keine Gentlemen gingen.

Bernd stellte die Tasse ab, kniete sich vor mich und brachte sein Gesicht ganz nah an das Auge da unten.

„Siehst du mich?“, fragte er.

„Ja“, antwortete ich.

„Nicht du, das da.“

„Es hat keinen Mund, wie soll es dir da antworten?“

Das leuchtete selbst Bernd ein. „Vielleicht kommt ja noch einer“, meinte er trocken.

Ich lachte auf – extra gekünstelt, damit selbst er merkte, dass es nicht lustig war.

Er stand auf, aber statt sich wieder hinzusetzen, beugte er sich über mich.

Überrascht – und ein wenig geschockt – wich ich zurück, weil ich dachte, Bernd hätte in mein Single-Dasein irgendwelche Signale hineininterpretiert, die definitiv nicht mitgesandt worden waren. Er wollte mich nicht küssen. Er verglich die Augen.

„Es hat eine andere Farbe“, sagte er, deutete dabei auf mein Knie und setzte sich wieder.

„Echt?“ Tatsächlich – und das meine ich völlig frei von Sarkasmus – war mir das nicht aufgefallen.

„Jap. Grün. Deine sind blau. Also, deine anderen.“

Für ein paar Atemzüge schwiegen wir.

„Macht es das jetzt besser oder schlechter?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht.“

3

Als Bernd ging, sah er etwas blass aus. Typen wie ihm steht Blässe, insofern hielt sich mein schlechtes Gewissen da in Grenzen.

Ich zwang Bernd, mir zu versprechen, dass er die Klappe hielt. Mit Leuten wie ihm war das nicht so einfach. Man sagte nicht bitte und empfing freudig sein kein Problem. Mit Bernd war so was immer ein Eiertanz. Schlussendlich hatte ich sein Versprechen und meine Hoffnung, dass er sich dran halten würde.

Ich stand wieder mal vor dem Spiegel und begaffte das Auge unterm Knie. Es gaffte zurück.

Ich fühlte mich unhöflich, können Sie sich das vorstellen? In etwa so, wie wenn man mit jemand Fremdem allein im Raum ist und sich nicht vorstellt.

Das Auge war aus dem Schneider, es hatte ja keinen Mund um eine Konversation in Gang zu bringen. Ohren aber auch nicht.

Kann vielleicht Lippenlesen, dachte ich. Dann wurd’s mir zu viel und ich wandte mich vom Spiegel ab.

Es hatte auch kein Gehirn, und dennoch war ich davon überzeugt, dass es denken konnte. Kein eigenes Gehirn, sagte eine von da an sehr unbeliebte Stimme in meinem Kopf. Kein eigenes Gehirn zu haben, heißt nicht, dass es nicht früher oder später deins anzapft.

Prost, Mahlzeit. Einschlafen war an diesem Abend von Wunschdenken geschwängerte Sisyphosarbeit.

Als ich wach im Bett lag und an die dunkle Decke starrte, fragte ich mich, ob es nicht doch schlauer gewesen wäre, einen Profi statt Bernd anzurufen. Wen kontaktierte man in einer solchen Lage? Chirurg? Exorzist? Augenarzt?

Ich musste mich wohl damit abfinden, dass ich unversehens in eine Situation geraten war, für die es keinen for dummies Ratgeber zu kaufen gab.

Da dachte ich an die Waffe, die im obersten Fach meines Schranks unter einer Menge nutzloser Platzverschwender wie Papierschlangen, Kartonkronen von Burger King, nicht funktionsfähige Pfeifen, schillernde Clownsperücken mit Halbglatze und ähnlichem begraben war. Wie ein verschollener Schatz.

Ich hatte sie mir vor Jahren zugelegt, nachdem bei unserem Nachbarn eingebrochen wurde und meine damals noch Verlobte die Hosen voll hatte. Die Pistole lag dort oben, seit mir klar gemacht wurde, dass ich einen Einbrecher nicht einfach erschießen konnte – Verhältnismäßigkeit der Gewalt, Notwehr und dergleichen. Offensichtlich musste ich warten, ob er mich erschießen wollte, bevor ich meine Waffe zücken durfte. Naja, ich war ohnehin nie ein guter Schütze gewesen

Ich konnte meinen Körper der Wissenschaft spenden. Dafür musste ich nicht am Leben sein.

Mit der Waffe auf dem Nachtkästchen und der Überlegung, ob Selbstmord ein noch zu früher Ausweg war, schlief ich ein.

4

Das Fenster stand weit offen, die Vorhänge wehten in einer überraschend starken Brise. Nichts daran war ungewöhnlich – ich schlief bei warmem Wetter immer mit frischem Wind im Haar.

Solch ein Licht hatte ich noch nie gesehen.

Ich stand auf. Der Mond leuchtete grün. Kein schönes grün, sondern ein verblichener, kränklicher Farbton, wie verwässertes und erbrochenes Erbsenpüree. Und das war nur die Spitze des Eisbergs. Was auch immer sich da unter meinem Fenster befand – es war nicht die Straße, in der ich lebte.

Nicht mal die Stadt, in der ich lebte.

Alte Gebäude, mit verschnörkelten Fassaden, spitzen Dächern und einer Menge gebogener Brücken. Im ersten Moment erinnerte der Anblick mich an Prag, aber je länger ich hinsah, umso mehr musste ich mir eingestehen, dass es wie kein Ort aussah, den ich je gesehen hatte. Alles war in das ungesunde, grünliche Licht des Mondes getaucht.

Ich lehnte am Fenster und wartete darauf, dass der Traum sich auflöste. Den Gefallen tat er mir nicht.

Als ich mich umdrehte, um resigniert in mein Bett zurückzukehren, war der Raum hinter mir weg. Ich stand vor einer schmucklosen Wand, die mir gerade genug Platz zum Stehen ließ.

Und als ich mich verwirrt wieder zurückdrehte, befand sich das Fenster nicht mehr im vierten Stock, sondern im Erdgeschoss.

Ich sah, dass die Straßen gepflastert waren. Ich sah, dass es keine Plakate, keine Mülleimer, keinen Dreck gab.

Ich sah, dass ich nicht mehr alleine war.

Der Mann, wenn es einer war, stand auf der anderen Straßenseite unter einer gebogenen Straßenlaterne. Ausgezehrte Gliedmaßen, eine verrenkte Körperhaltung und eineinhalb Köpfe – wobei der halbe wie nutzloser, toter Anhang vor seiner Brust baumelte. Die Beine waren unterschiedlich lang. Er trug Lumpen, die vielleicht mal ein Anzug gewesen waren und als er eine Hand zum Gruß hob, sah ich, dass die Finger in verschiedene Richtungen wiesen – als wären sie einzeln gebrochen und nie geschient worden.

Ich hob ebenfalls die Hand zum Gruß, vielleicht weil ich gut erzogen bin, vielleicht weil ich zu verwirrt war, um etwas anderes zu tun.

Er kam auf mich zu – torkelnd und rotierend, als würden sich nicht alle seiner Gelenke in die Richtung bewegen, in die sie sollten. Zu gehen fiel ihm sichtlich schwer, und als ich zurückweichen wollte, hielt mich die Wand davon ab.

Wie eine Marionette, bei der die Hälfte der Fäden gerissen war, stolperte er über die Straße, und während ein Teil in mir Mitleid empfand, wünschte sich ein anderer, dunklerer, dass ein Bus daherkommen und ihn überfahren würde, bevor er mich erreichte.

„Diese Welt stirbt“, sagte er, als er vor mir stand.

Seine Augen. Vielleicht war es nur der Mond, der alles hier grün erscheinen ließ. Es fiel mir dennoch schwer, nicht daran zu denken, dass das dieselbe Farbe wie die vom Auge in meinem Knie war.

„Wir sterben auch“, fuhr er fort.

Ich wollte nicht wissen, wen er mit wir meinte. Trotzdem erfuhr ich es.

Aus den Schatten zwischen den Gebäuden tauchten weitere Stadtbewohner auf. Manche krabbelten auf allen Vieren, andere hatten drei Arme, einige zu viele Köpfe und eine handvoll spottete so sehr allem, was ich bisher gesehen hatte, dass mir beim bloßen Anblick übel wurde.

Und als der Kerl vor meinem Fenster einen seiner deformierten Finger ausstreckte und mir damit gegen die Brust pochte, wachte ich schreiend in meinem Bett auf. Die Wand war weg, ich befand mich nicht mehr im Erdgeschoss, die Nacht glänzte schwarz statt grün und abgesehen von dem offenen Fenster, sah nichts aus wie in dem Traum.

Die Stimme des kaputten Kerls hallte noch in meiner Erinnerung nach, das, was er gesagt hatte, bevor ich endlich aufwachen durfte: „Wir gehen, du bleibst.“

Ein unangenehm zittriges Schütteln ergriff mich, und mit Schlaf war es damit vorbei.

Ich schaltete die Lampe auf meinem Nachtkästchen ein. Mein Blick fiel auf die Pistole.

5

„Da hast du dir selbst ins Knie geschossen.“

Man hätte es nicht besser auf den Punkt bringen können. Dass Bernd ein Sprichwort verwendete, um Offensichtliches auszusprechen, brachte mich schon wieder auf die Palme. Ich schwöre, wenn ich jemals gewalttätig werde, dann gegen Bernd.

Um die Stelle, an der mein unheimliches Auge aus der unteren Hälfte meines Beines getreten war, hatte ich eine Mullbinde gewickelt. Blut und eine Flüssigkeit, die widerlich stank und fast so eine zähe Konsistenz wie Gelatine aufwies, hatten eine ungesunde Spur bis zu meinem Fußgelenk hinterlassen. Ich hatte den Fuß nicht gewaschen und fühlte mich unhöflich, als ich die Sauerei Bernd präsentierte.

„Hast du Schmerzen?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Ein dumpfes Ziehen, mehr spürte ich nicht. Ich hatte das Auge seitlich aus der Welt gepustet. Die Kugel hatte seinen weichen Körper durchbrochen wie nix, eine höllische Sauerei auf dem Teppich hinterlassen und meinen Schlafzimmerspiegel zerfetzt. Um den tat es mir nicht leid. Wenn die Polizei käme, weil die Nachbarn wegen des Schusses vielleicht angerufen hatten, würde ich behaupten, die Waffe sei beim Reinigen losgegangen. Haben durfte ich sie ja.

„Hm“, machte Bernd. „Und jetzt?“

Ja, und jetzt. Das hatte ich mich auch schon gefragt. Abwarten und schaun, ob der Albtraum zurückkehren würde. Ich hatte Bernd nichts davon erzählt, denn in dem Fall brauchte ich keine zweite Meinung. Dass Auge und Traum irgendwie zusammenhingen, stand außer Frage. Und wenn das eine real war, dann war es vielleicht auch diese sonderbare Stadt. Und ihre noch sonderbareren Einwohner.

„Das Auge hast du ja wahrscheinlich nicht mehr, oder?“, fragte Bernd.

Ich starrte ihn völlig entgeistert an. „Nein“, sagte ich, mit einem Unterton, der kein Quäntchen meiner Abscheu ihm gegenüber kaschierte.

Bernd war allerdings immun gegen Untertöne.

„Schade.“

6

Wir tranken noch ein Bier zusammen, bevor er ging. Irgendwie kam kein richtiges Gespräch mehr zustande, und ich war froh als Bernd sich verabschiedete.

Mit der Hoffnung, dass sich die Sache nun erledigt hatte, ging ich ins Badezimmer. Vielleicht hatte sie das ja tatsächlich. Vielleicht war das eine der wenigen Schwierigkeiten, die eine Pistolenkugel aus der Welt schaffen konnte.

Als ich in mein Schlafzimmer kam, sah ich durch das offene Fenster die in grün getauchte Straße von letzter Nacht. In dem offenen Rahmen stand der ausgemergelte Mann und winkte mir mit seiner verkrüppelten Hand fröhlich zu.

Ich wich zurück, stieß gegen eine Wand und spürte Panik in mir aufsteigen.

Aber alles war genauso schnell vorbei, wie es begann. Als mir klar wurde, dass die Wand in meinem Rücken jene war, die dorthin gehörte, sah ich vor dem Fenster auch nichts anderes als den gewöhnlichen Blick auf nachbarliche Häuserfronten mehr.

Am nächsten Morgen hatte ich eine traumlose, erholsame Nacht hinter mir.

Aber als ich mich nach einer ausgiebigen, kalten Dusche im Badezimmer abtrocknete, glitt meine Hand am Schulterblatt über eine Erhebung.

Eine kleine Beule, nicht der Rede wert.

Nur ein Insektenstich, sagte ich mir. Geht vorbei.

Es fiel mir schwer das zu glauben, denn die Stelle juckte bereits..

Und ich hörte die Stimme des kaputten Mannes.

Wir gehen, du bleibst.

Sascha Dinse – Elysion

Meine Lunge brennt wie Feuer, doch ich darf nicht innehalten. Stufe um Stufe hetze ich die Treppe empor und lasse eine Etage nach der anderen hinter mir. Der Fahrstuhl hatte sich geweigert, mich ohne entsprechende Codekarte bis ganz nach oben zu bringen, also laufe ich. Den Schmerz in den Händen spüre ich kaum mehr, auch nicht das Beißen der Wunde im Nacken. Ich muss nach oben, so schnell wie möglich. Adrenalin flutet durch meine Adern und gibt mir Kraft, wie ich sie schon lange nicht mehr spürte.

Ich stoße die Tür auf, trete nach draußen. Ein Hauch kühler Morgenluft schlägt mir entgegen, und die Feuchtigkeit auf meiner Haut fühlt sich an wie Eis. Rot glühend kündet der Horizont vom nahenden Tag, während ein paar Tauben erschrocken das Weite suchen, als sie meiner gewahr werden. Rechts von mir ragt der Dunham Tower in den Himmel, höher noch als das Gebäude, auf dessen Dach ich mich befinde. Dort drüben unbemerkt hineinzugelangen war unmöglich, und so nehme ich, was ich kriegen kann. Ich trete an die Brüstung und schaue hinab. Zweihundert Meter unter mir erwacht die Stadt gerade zu neuem Leben. Ich sehe die Dächer dutzender Taxis, die, aufgereiht wie Perlen auf einer unsichtbaren Schnur, die kleine Seitenstraße direkt zu meinen Füßen durchziehen.

Fünf Minuten bis Sonnenaufgang.

Hannah sitzt am Ende des Stegs, ihre Füße baumeln über dem Wasser, sie hat den Kopf in den Nacken gelegt. Die Morgensonne schleicht sich am Horizont empor, rotgoldene Strahlen lassen den über dem Wasser liegenden Nebel glühen und geben dem Augenblick etwas Mystisches, so wunderschön, dass es unmöglich von dieser Welt sein kann. Ich decke derweil den Tisch auf der Veranda, schneide frisch gebackenes Brot, gieße dampfenden Kaffee in bemalte Tassen und kann es kaum erwarten, diesen Morgen mit einem üppigen Frühstück zu beginnen. Ein paar Minuten später bringe ich zwei Teller mit Rührei aus der Küche nach draußen.

Hannah grinst mich an. „Ich habe heute Nacht etwas geträumt“, sagt sie, greift nach ihrer Gabel und macht sich über das Rührei her.

„Erzählst du mir davon?“, frage ich lächelnd und greife nach meiner Kaffeetasse.

Hannah schüttelt den Kopf. „Lieber nicht“, antwortet sie, „sonst wird es nicht wahr.“

„In Ordnung“, entgegne ich. „Und ich freue mich, dass du wieder träumen kannst.“

Eine halbe Stunde lang sitzen wir, essen, trinken, sehen einander an, niemand sagt etwas. Wäre dies für die meisten anderen Menschen eine sonderbare Situation, so wissen wir beide, dass es manchmal Momente gibt, in denen es nicht nötig ist, Worte zu wechseln. Dann ist es genug, einfach da zu sein, den Sonnenaufgang über einem einsamen See mitten im Nirgendwo zu genießen, und Butter dabei zuzusehen, wie sie auf noch warmem Brot zerläuft.

„Ich werde morgen eines der Boote reparieren“, sage ich irgendwann. „Dann können wir zur Insel fahren.“

Hannah lächelt mich an und nickt. „Ja, das wäre schön“, erwidert sie. „Ich muss sie malen, weißt du? Es ist, als wäre die Insel ein magischer Ort, irgendetwas Außerweltliches. Das ist albern, oder?“ Sie legt den Kopf zur Seite und schaut mich an.

„Keineswegs“, entgegne ich. „Mir geht sie auch nicht aus dem Kopf. Alles, was ich geschrieben habe in den letzten Tagen, dreht sich darum.“

Später, die Sonne steht bereits hoch über dem See, sitze ich in einem der Sessel und beobachte Hannah dabei, wie sie den Blick immer wieder zwischen der Insel und dem entstehenden Gemälde auf der Leinwand wandern lässt. Strich für Strich, Farbtupfer für Farbtupfer, entsteht aus einer weißen Fläche das Abbild eines Ortes. Was ich mit Worten versuche, wofür ich oft Stunde um Stunde brauche, gelingt Hannah binnen weniger Minuten. Irgendwann schaffe ich es, meinen Blick wieder auf den Bildschirm vor mir zu richten und weiter zu schreiben.

Von oben höre ich das Brummen des herabgleitenden Fahrstuhls. An einem weniger heißen Tag nähme ich die Treppe, doch die Gluthitze draußen veranlasst mich, die Kühle des stets wohltemperierten Aufzugs zu suchen. Hinter mir erklingt das typische Tapp-Tapp von Hundepfoten, und ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass Mrs. Henderson und Hazel gerade die Eingangshalle betreten haben. Die Tür des Aufzugs öffnet sich, ich trete ein und sorge dafür, dass sie geöffnet bleibt, bis Mrs. Henderson und ihr treuer Begleiter eingestiegen sind.

„Vielen Dank, Herr Nachbar“, sagt sie freundlich und stellt ihre Einkaufstasche zwischen uns. Hazel sitzt auf dem Boden und starrt mich aus dunklen Augen an, die von jeder Menge schmutziggrauem, struppigem Fell umgeben sind. Ich halte Abstand, so gut es mir in der Enge der Kabine möglich ist. Der Aufzug setzt sich in Bewegung, und legt einige Etagen zurück. Plötzlich rumpelt es und ein dumpfer Schlag lässt den Fußboden erzittern.

Mrs. Henderson wirft mir einen besorgten Blick zu. „Wir werden doch nicht steckenbleiben, oder?“, fragt sie mit einem Anflug von Unsicherheit in der Stimme.

Ich schüttle den Kopf. „Machen Sie sich keine Sorgen, wir sind gleich da.“ Erneut rumpelt es, ruckartige Erschütterungen lassen die Kabine wanken. Es klingt, als wäre der Aufzug kurz davor, den Geist aufzugeben. Der Ausdruck auf Mrs. Hendersons Gesicht wird noch sorgenvoller. Ich schaue auf die Anzeige und drücke dann den Knopf für die nächste Etage.

„Wissen Sie was, Mrs. Henderson?“, setze ich an. „Wir steigen in der nächsten aus und laufen die letzten beiden zu Fuß. Ich trage Ihre Einkäufe. Besser so, als tatsächlich zwischen den Etagen hängenzubleiben, nicht wahr?“

Mrs. Henderson nickt und lächelt mich an. „Das ist eine gute Idee. Ich danke Ihnen.“ Sie sagt irgendetwas zu Hazel, was beinahe wie ein militärisches Kommando klingt. Ich verstehe die Worte nicht, aber der Hund springt auf und bezieht Position neben seiner Besitzerin. In diesem Moment fällt mein Blick auf die silberne Brosche am Revers ihres Blazers. War sie schon die ganze Zeit da? Ich kann nicht genau erkennen, was darauf abgebildet ist, doch das Glitzern des Schmuckstücks irritiert mich. Der Fahrstuhl hält und zu meiner Erleichterung öffnet sich die Tür. Ich greife nach Mrs. Hendersons Einkaufstasche und bin erstaunt, wie schwer sie ist. Kaum vorstellbar, dass die zerbrechliche alte Dame das tragen kann. Hinter mir bewegt sich irgendetwas. Ich schaue mich um, doch außer meinem Ebenbild im Spiegel ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich hat die brennende Sonne mir doch mehr zugesetzt als ich dachte.

Mrs. Henderson hält sich am Geländer fest, während Hazel nicht von ihrer Seite weicht. Ich folge den beiden und frage mich die ganze Zeit über, was Mrs. Henderson wohl eingekauft haben mag. Aus meiner Perspektive ist nichts zu erkennen, die Tasche ist oben mit Druckknöpfen verschlossen. Mir kommt es vor, als wüchse das Gewicht in meiner Hand mit jeder Stufe.

„Gleich sind wir da, Hazel“, murmelt Mrs. Henderson, als wir unsere Etage erreichen. Ich stelle die Einkäufe vor Apartment 12 ab. „Ich danke Ihnen vielmals“, sagt Mrs. Henderson und kramt in der Tasche ihres Mantels nach dem Schlüssel.

„Keine Ursache“, erwidere ich und drehe mich um. Unsere Wohnung liegt direkt gegenüber. Ich schließe auf, trete ein und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Vom Flur höre ich, dass auch Mrs. Henderson zwischenzeitlich ihren Schlüssel gefunden hat.

Hannah taucht aus dem Wohnzimmer auf. „Wenn irgendwann mal nach Tagen ihre Leiche gefunden wird, bin ich sicher, dass der Hund ihr Gesicht gefressen hat“, sagt sie mit zynischem Unterton und wirft mir einen Blick zu, in dem blanke Abscheu liegt. „Ist dir mal aufgefallen, wie sie mich ansieht? Das ist richtig gruselig. Und Hazel“, sie spricht den Namen angewidert aus, „erinnert mich eher an irgendein Monster, denn an einen Hund.“

„Manchmal kannst du richtig fies sein“, erwidere ich und steige aus meinen Schuhen. „Was hast du denn gegen sie?“

Hannah legt die Arme um mich. „Keine Ahnung, ich glaube, mit ihr stimmt irgendwas nicht. Sie gehört einfach nicht hierher. Aber vielleicht habe ich auch nur zu viele deiner Bücher gelesen.“

„Das wird’s sein“, erwidere ich. „Ich bin einfach ein schlechter Einfluss.“

Hannah lacht und zieht mich in ihr Arbeitszimmer. „Komm, ich zeige dir, was ich heute gemalt habe.“ Die Staffelei steht exakt in der Mitte des Raumes, als zentrales Element, wie ein Planet, um den sich ein Ring aus Pinseln, Farbtöpfen, Papierfetzen und Skizzen dreht. „Gefällt es dir?“, fragt sie.

Ich betrachte das Bild. Es zeigt ein Haus an einem kleinen See, umgeben von Bäumen, mit einem Steg davor, an dem ein Ruderboot liegt. Ein Hauch von Morgennebel liegt über dem Wasser. Die Perspektive ist die eines Menschen, der am gegenüberliegenden Ufer des Sees steht. Links an der Waldkante sehe ich einige Rehe, die friedlich grasen. „Es ist traumhaft“, antworte ich nach einer Minute. „So habe ich es mir immer vorgestellt.“ Ich schaue Hannah an. Sie sieht glücklich aus, doch die Müdigkeit in ihren Augen ist nicht zu übersehen. „Wolltest du dich tagsüber nicht ausruhen?“, frage ich.

Hannah seufzt. „Es fing damit an, dass ich nicht mehr träumen konnte“, flüstert sie. „Und jetzt kann ich kaum mehr schlafen. Manchmal nicke ich kurz ein, für ein paar Minuten nur, mehr ist nicht drin.“

Ich lege meine Arme um sie. „Wir fahren dort hin“, sage ich leise, „und dann wirst du auch wieder träumen.“

Hannah hat zwei Gläser in der Hand, in denen bunte Strohhalme stecken und drängt sich durch die Menschenmassen.

„Man könnte meinen, es gibt nur diesen einen Club in der ganzen Stadt“, sagt sie laut, um den Klang der Musik zu übertönen. Sie reicht mir meinen Drink, wir stoßen an und trinken. Harte Gitarrenklänge dröhnen, es ist heiß und furchtbar eng mit all den Menschen um uns. Es muss eine halbe Ewigkeit her sein, dass ich zuletzt hier war, doch alles wirkt, als wäre die Zeit seit damals stehengeblieben, selbst das Personal an der Bar hat sich nicht geändert.

„Liv spielt genau dasselbe Set wie das letzte Mal, als ich hier war“, sage ich in Hannahs Ohr und deute auf die Frau hinter dem DJ-Pult. „Klassiker, wenn du so willst.“

„So wie du“, gibt Hannah zurück und lächelt mich an. „Und jetzt komm.“ Sie greift nach meiner Hand und zieht mich auf die Tanzfläche, zwischen all die anderen schwitzenden, zappelnden Menschen. Hannah, die zu jeder anderen Zeit wie ein zartes Pflänzchen wirkt, lässt ihre Haare fliegen und gibt sich vollständig dem brachialen Stakkato aus Schlagzeug und verzerrten Gitarren hin. Wir tanzen, mal gemeinsam, mal jeder für sich, und ich genieße das Gefühl von Freiheit, während einzig Musik meine Gedanken erfüllt.

Einige Minuten später stehen wir am Rand der Tanzfläche und sehen den anderen dabei zu, wie sie sich im Takt der Musik bewegen.

„Niemand von denen hört dasselbe Lied“, sagt Hannah. „Rhythmus, Melodie und Worte finden sich zu etwas zusammen, das im Kopf eines jeden ein anderes Bild ergibt.“ Ich denke über ihre Worte nach, doch plötzlich fällt mein Blick auf jemanden, der uns von der gegenüberliegenden Seite des Raumes zuwinkt. Ich schaue genauer hin. Unmöglich! Es sind Jonah und Rose. Sie greifen nach ihren Gläsern, schlängeln sich durch die tanzende Menge auf uns zu und stehen wenige Augenblicke später vor uns.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, ruft Jonah und umarmt mich stürmisch. „Jahrelang hört und sieht man nichts von dir, und plötzlich, so mir nichts, dir nichts, stehst du hier.“

Hannah greift nach meiner Hand. Ich wende mich ihr zu. In ihren Augen liegt ein Ausdruck, den ich im Halbdunkel nur schwer deuten kann. „Das sind Jonah und Rose“, sage ich zu ihr. „Alte Freunde.“

Hannah schüttelt den Kopf. „Nein, das sind sie nicht. Schau genau hin, dann siehst du es.“

Ich verstehe nicht. „Wovon sprichst du?“

Hannahs Händedruck wird fester. Sie schließt die Augen, presst die Lider förmlich aufeinander.

Ich wende mich wieder Jonah zu und zucke zusammen. Sein Gesicht! Wo zuvor das freundliche, leicht kantige Antlitz meines alten Freundes zu sehen war, blickt mir nun etwas völlig Anderes entgegen. Seine Augen sind seitlich am Kopf positioniert, die Nase ist weit nach vorn geschoben, statt von Haut ist sein Gesicht mit dunklem Fell bedeckt, aus der Stirn ragen Knochenstücke. Sind das Hörner? „Alles in Ordnung bei euch?“, fragt das Ding, das eben noch ein Mensch war. Ich schaue Rose an. Auch ihr Kopf hat sich verändert, doch der Strohhalm ihres Cocktails steckt noch immer in ihrem nun tierischen Mund. Wäre die Situation nicht so bizarr, würde ich wahrscheinlich darüber lachen.

„Was zum …?“, entfährt es mir und ich taumle rückwärts.

Hannah hält mich fest, bewahrt mich davor, zu Boden zu stürzen. „Mach die Augen zu und denk an etwas Schönes“, sagt sie. „Dann können sie dich nicht sehen.“ Ich tue wie mir geheißen und lasse meine Gedanken schweifen, zu dem Haus am See, über das wir so oft sprechen. „Sie sind fort“, sagt Hannah nach einer Weile. Ich öffne die Augen und schaue argwöhnisch in die Runde der Tanzenden, doch alles scheint normal. Mein Magen zieht sich zusammen, Übelkeit kommt in mir auf.

„Mir ist schlecht“, bringe ich hervor und schleppe mich auf die Toilette. Schwindel umfängt mich, und nur mit Mühe schaffe ich es, die Hände auf eines der Waschbecken zu stützen und auf den Beinen zu bleiben.

„Schau dir das an“, flüstert Hannah und winkt mich heran. Ich verlasse den Schreibtisch und folge ihr in die Küche. Hannah hat das Licht gedämpft und deutet nach draußen durch die offene Verandatür. „Psst“, haucht sie, „sei leise, sonst erschrickst du es.“ Am Ende des Stegs, dort wo heute Morgen Hannah saß und den erwachenden Tag begrüßte, steht ein Reh. Kaum mehr als ein vager Umriss ist zu erkennen, das fahle Mondlicht ist gerade stark genug, um dem Fell des Tiers einen schwachen Schimmer zu verleihen.

„Ist wohl doch nicht so einsam hier draußen, wie wir erwartet hatten“, sage ich mit gespieltem Ernst in der Stimme.

Hannah wirft mir einen überraschten Blick zu. Dann hellt sich ihre Miene auf. „Nun ja, mit dem einen oder anderen Reh werden wir schon klarkommen“, erwidert sie lächelnd. Aus der kleinen Schale neben uns fördert sie ein paar Kirschen zutage. „Hier, die habe ich gerade vorhin geerntet“, flüstert sie und reicht mir eine. „Der Kirschbaum war wirklich eine tolle Idee.“

Das Reh dreht den Kopf in unsere Richtung, als hätte es Hannahs Worte gehört. Langsam trottet es auf uns zu, kommt immer näher und schaut dabei unentwegt in unsere Richtung. Wir weichen zurück, um das Tier nicht zu verjagen. Das Reh verlässt den Steg und hält direkt auf das Haus zu. Hannah greift nach meiner Hand, und ich spüre, dass sie zittert.

„Hey, alles in Ordnung?“, frage ich.

„Ich weiß nicht“, antwortet Hannah. „Aus irgendeinem Grund habe ich gerade schreckliche Angst.“ Sie schaut mich aus weit aufgerissenen Augen an. „Lass es nicht rein, hörst du? Lass es auf gar keinen Fall rein.“ Ihre Stimme bebt, sie klingt völlig außer sich. Ich habe Hannah noch nie so erlebt. Eine Gänsehaut läuft meinen Rücken hinunter. Ich lasse ihre Hand los, gehe zur Tür und trete hinaus. Das Reh erstarrt für einen Moment, legt den Kopf zur Seite und mustert mich einen Atemzug lang. Dann sprengt es davon, schnell wie der Wind und verschwindet im Dunkel der Nacht. Ich schließe die Tür und lege den Riegel vor. Hannah sitzt auf einem Küchenstuhl und starrt mich an, als hätte sie einen Geist gesehen.

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