Читать книгу: «Zwielicht 12», страница 3

Шрифт:

Ralf Kor – Schattensaiten

Mit nachdenklichem Blick betrachtete Pascal die zahlreichen, auf Kopfhöhe hängenden Geigen. Könnte eines dieser sündhaft teuren Instrumente ihm helfen, die Anerkennung seines ständig abwesenden Vaters zu erlangen?

„Diese drei haben wir vor wenigen Tagen erst reinbekommen“, erklärte Vincent Brinkmann, Inhaber von Brinkmanns klassische Instrumente mit bester Lage in der Münsteraner Altstadt, und wies auf drei spiegelnde Violinen aus poliertem Fichtenholz.

Pascal schüttelte den Kopf und sah zu Brinkmann herab. „Nein, die ganzen neuen Instrumente wollen mir nicht zusagen. Weißt du, Vince“, duzte er den Verkäufer geflissentlich, „ich suche etwas wirklich Altes. Es muss nach Geschichte, nach Vergangenheit klingen.“

„Natürlich, das kann ich nachvollziehen“, sagte Brinkmann mit gefalteten Händen. „Die alten Instrumente sind ohne Frage die Besten.“

Pascal sah den Verkäufer geringschätzig an. „Ich denke, es bleibt bei den neuen Saiten und dem Bogen.“

„Gerne, Herr Brauner. Folgen Sie mir bitte zur Kasse.“

Pascal folgte Brinkmann durch den Verkaufsraum. Im Vorbeigehen glitt seine Hand über den schwarzen, polierten Lack eines Klaviers. Vor seinem geistigen Auge sah er die feingliedrigen Finger seines Vaters über die Tasten huschen, um Chopins Trauermarsch zu spielen. Er seufzte leise.

Brinkmann, ein guter Beobachter, entging die Geste nicht. „Ein edles Instrument, nicht wahr? Aber kein Vergleich zu dem Flügel, den Ihr Vater neulich bei mir erwarb. Wie geht es ihm eigentlich? Haben Sie das Weihnachtsfest feierlich begangen?“

„Er wurde über die Feiertage in Dresden gebucht“, antwortete Pascal mit einem bitteren Unterton in der Stimme.

„Oh …“

Der Ladenbesitzer schwieg einen Augenblick und ergänzte dann unsicher: „Immerhin blieb Ihnen ja noch das Neujahr.“

„Da gab er ein Konzert für eine Gesellschaft.“ Pascals Gesicht verdüsterte sich.

Brinkmanns Lippen bildeten ein O und er spielte nervös mit der Spitze der Krawatte, die über seinem runden Bauch hing.

„Wie läuft es denn mit Ihrem Musikstudium?“, versuchte er die Situation zu retten.

„Ich muss üben, daher wäre es hilfreich, wenn du mir alles einpacken und auf die Rechnung meines Vaters setzen könntest.“

Brinkmann lachte übertrieben auf, als hätte Pascal einen Witz zum Besten gegeben. „Selbstverständlich! Ich möchte die angehende Elite unseres Landes nicht unnötig aufhalten.“

Pascal nahm die Ware an sich, zog die Lederhandschuhe über und klappte den Kragen seines Mantels hoch. Brinkmann hielt ihm die Tür auf und entließ ihn mit einem Grinsen in die Kälte.

Die verschneite Januarluft verbiss sich in seinen Augen und den Schleimhäuten, während Pascal den Regenschirm aufspannte. Schneeflocken wehten über die Straße und er konnte nur wenige Meter weit sehen. Mit zusammengekniffenen Augen stemmte Pascal sich gegen die Böen, die an dem Schirm zerrten und rissen.

Er hielt sich dicht an der Häuserwand, den Blick gen Boden gerichtet.

„Entschuldigen Sie bitte …“, krächzte jemand aus einem Häuserspalt.

Pascal zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. Er dachte nicht daran, anzuhalten. Eine Hand zog an seinem Ärmel. Pascal wirbelte herum und riss den Schirm vor die Brust. Die Gelenke des schützenden Nylonstoffs verloren gegen eine Windböe und der Schirm klappte nach außen weg. Pascal hielt den Schirm wie einen Knüppel, um dem Fremdling notfalls einen Hieb zu verpassen. „Was wollen Sie?“, schrie Pascal gegen das Getöse des Schneegestöbers an. Im Licht der Straßenlaternen sah er die Gestalt. Vor ihm stand ein Vagabund. Die schmutzige Kleidung war ausgefranst und zu groß für seine schlanke Statur. Ein grauer Bart ließ ihn älter wirken, als er vermutlich war. Die Hände, die in fleckigen Handschuhen steckten, umklammerten einen Geigenkoffer, dessen rissiges Leder wie die Haut eines Reptils wirkte.

„Hey, nicht schlagen“, raunte er Pascal an.

„Ich wiederhole mich nur ungern: Was wollen Sie von mir und wer sind Sie überhaupt?“, schrie Pascal gegen den Wind an und holte mit dem Schirm aus.

Der Obdachlose streckte ihm eine Hand entgegen. Der Schorf an ihr ließ kaum noch Haut erkennen. Er leckte sich öfter über die Lippen. „Ich bin Martin.“

Pascal beäugte die gelben Fingernägel und rümpfte die Nase. „Pascal“, antwortete er knapp und verzichtete auf einen Händedruck.

„Ich habe vielleicht etwas für Sie.“

Pascal verengte die Augen. „Was könnten Sie besitzen, das für mich von Wert wäre?“

Der Fremde lachte und entblößte eine gelbliche Zahnreihe. „Ich habe gesehen, wie Sie sich die Geigen angesehen haben. Ein paar wirklich exquisite Exemplare, aber offensichtlich nicht Ihre Kragenweite … Habe ich recht?“

„Und Sie besitzen eine, die meinen Ansprüchen genügt?“, fragte Pascal, im Hinblick auf den schäbigen Koffer, höhnisch.

Er nickte eifrig und tätschelte den Koffer. „Das will ich meinen.“

Pascal rümpfte die Nase und der Mann registrierte es. „Lassen Sie sich von dem alten Ding nicht täuschen. Kommen Sie, dort sind wir vor dem Schnee geschützt.“ Der Vagabund eilte winkend zu dem Unterstand einer Bushaltestelle.

Pascal zögerte, doch seine Neugierde siegte und er folgte dem Kauz unter das Häuschen, das Schutz vor den wirbelnden Flocken bot.

Der Mann setzte sich auf einen der Plätze und wog den Koffer auf seinem Schoß. Pascal setzte sich neben ihn und starrte auf den Koffer. Klackend schnappten die Messingschnallen auf. Die Kanten der Verschlüsse erinnerten ihn an die Giftzähne von Schlangen. Unter dem Deckel kam das ungewöhnlichste Instrument zutage, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Tiefschwarz glänzte der Lack; wie reinstes Öl. Pascal spiegelte sich in der Lackierung, die sein Antlitz als Zerrbild wiedergab. Blutrote Lettern zierten das Instrument. Ihre Bedeutung gab ihm Rätsel auf. Pascal befreite seine Hand von dem Handschuh und streichelte mit den Fingerkuppen über den Korpus. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ein Kribbeln durchzog seinen Körper. Er stöhnte und eine Atemwolke bildete sich vor seinem Mund. Hitze stieg in ihm auf.

„Ein wirklich außergewöhnliches Instrument“, hauchte Pascal.

„Sie scheinen ein wahrer Kenner zu sein“, bestätigte der Obdachlose mit einem wissenden Lächeln. „Sie könnte Ihnen gehören. Was sagen Sie?“

Pascal stutzte. „Aus welchem Grund, sollten Sie das Instrument verkaufen wollen?“

Es klirrte, als irgendwo in der Dunkelheit etwas zerbarst. Der Mann zuckte zusammen und sah sich panisch um. „Haben Sie das auch gehört? Bitte sagen Sie mir, dass Sie das auch gehört haben!“

Etwas paranoid, dachte Pascal, und antwortete: „Ja, das habe ich. Das waren sicher ein paar Nachtschwärmer. Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

Seine Augen zuckten umher. „Ich muss sie loswerden, denn ich …“, er stockte und wog seinen Kopf mit der dicken Wollmütze. „Ich werde verfolgt, verstehen Sie? Von Ihm!“

Pascal hatte sich getäuscht, der Mann litt unter einer ausgewachsenen Paranoia. „Wo ist der Haken an der Sache?“, fragte er. „Was soll sie kosten?“

„Was sie kosten soll? Nun …“, er schürzte die Lippen und sog die Luft ein. „Wie viel haben Sie bei sich?“

„Ich habe zweihundert Euro in bar in meiner Brieftasche. Ich weiß, es ist nicht viel, aber ich kann mehr besorgen, ich …“

„Nein, nein. Ich nehme die Zweihundert!“, fuhr ihm der Obdachlose ins Wort. Er streckte Pascal die Hand entgegen und er ergriff sie widerwillig.

Pascal spürte ein Hochgefühl in sich aufsteigen. Die Geige zu einem solchen Preis zu bekommen, die Chance musste er ergreifen. Ein schlechtes Gewissen, den Mann übers Ohr gehauen zu haben, nagte nicht an Pascal. Zweihundert Euro waren für solche Menschen vermutlich wie ein Lottogewinn.

Der Mann sah ihn abschätzend an und fragte: „Werden Sie sie spielen?“

Pascal nickte überrascht. „Selbstverständlich werde ich sie spielen. Aus diesem Grund wurde Sie schließlich gebaut oder etwa nicht?“

Diese nicht …“, nuschelte der Mann.

„Wie bitte?“

„Gar nichts. Nur das Gerede eines Schwachsinnigen“, antwortete der Vagabund.

Pascal überreichte ihm kopfschüttelnd die Scheine. Der Obdachlose hielt ihn am Arm fest und sah ihn mit glasigen Augen eindringlich an. „Pass gut auf dich auf, Junge! Diese Geige ist Gift!“

Pascal fehlten die Worte. Mit einem Ruck riss er seinen Arm los und eilte in das Schneegestöber, auf dem Weg in seine Wohnung. Obwohl nur das Pfeifen des Windes an seine Ohren drang, glaubte Pascal ihn rufen zu hören: Gift!

Pascal erreichte sein Appartement mit Blick über die Dächer der Stadt, unweit von Brinkmanns klassische Instrumente.

Hektisch schloss Pascal die Tür auf und kickte sie mit der Schuhsohle zu. Sein Mantel flog über eine Stuhllehne und rutschte auf den Teppich.

Auf Samtpfoten huschte ein Kater auf ihn zu. Schnurrend schmiegte er sich an Pascals Schienbein und schlängelte seinen Schwanz um Pascals Knöchel. „Lass das, Vivaldi. Ich habe jetzt keine Zeit für dich“, sagte Pascal und schubste das Tier mit der Fußspitze weg. Der Kater gab nicht nach und wuselte um ihn herum und folgte seinem Herrchen ins Wohnzimmer.

Pascal legte den Koffer auf den Couchtisch. Vivaldi schnupperte daran und flüchtete fauchend in die Küche.

Pascal ignorierte das Verhalten und widmete sich seiner Errungenschaft. Er ließ die Schnallen aufschnappen. In roten Samt gebettet lag die Geige vor ihm. „Gift … armer Trinker.“

Pascal strich er über den Schriftzug, der aussah, als wäre er mit Blut geschrieben. L' mgepah'ehy … Er konnte es nicht entziffern. Vorsichtig hob das Instrument an und ein Schauer überkam ihn.

Ausgesprochen leicht, stellte Pascal fest, als er die Geige in seinen Händen wog. Aus welchem Material sie bestehen mag?

Behutsam drehte er die Wirbel und stimmte das Instrument. Mit seiner Rechten nahm er den Bogen aus dem Koffer, legte sich die Geige an den Hals, leckte sich über die Lippen und spielte den ersten Ton.

Eine Vibration ging von dem Instrument aus und durchfloss seinen Körper. Bei jedem Streichen über die Saiten spürte Pascal ein Prickeln, als krabbelten Spinnen seine Wirbelsäule empor. Der Bogen glitt in Schleifen über die Saiten. Die Luft um ihn herum schien elektrisch aufgeladen zu sein, seine Härchen im Nacken stellten sich auf und seine Atmung beschleunigte sich. In seinem Schritt pulsierte es, da stoppte er.

Nun hörte er nur noch das Rauschen seines Blutes in den Ohren. Seine Eichel presste sich schmerzhaft gegen den Stoff seiner Hose. Pascal setzte sich auf und legte den Bogen auf die Saiten. Die ganze Nacht hindurch spielte er das Instrument, wie von fremder Hand gesteuert.

Am nächsten Tag kam Pascal zu spät zur Universität. Er musizierte bis zum Morgengrauen und schlief vor Erschöpfung ein. In seiner rechten Hand trug er den Koffer mit dieser einzigartigen Geige mit sich. Er beschoss, sie seinem Professor zu präsentieren. Wenn jemand mehr über seine neueste Errungenschaft wusste, dann er. Ohne anzuklopfen, stürmte er in das Büro. Professor Osthoff, in ein Buch vertieft, schrak auf. Der Professor sah ihn über den Rand seiner Brille an.

„Pascal“, rief er erstaunt aus. „Ich habe Sie heute in meiner Vorlesung vermisst.“

Unbeirrt knöpfte Pascal seinen Mantel auf und setzte sich.

„Entschuldigen Sie, Professor, aber ich muss Ihnen was Erstaunliches zeigen.“

Der Blick des Mannes wanderte zu dem Geigenkoffer, den Pascal wie ein Baby im Arm hielt. „Wollen Sie mir ein Ständchen bringen?“, scherzte er.

Pascal schüttelte verständnislos den Kopf. „Nein, ich habe gestern eine Geige erstanden, die Ihr Interesse wecken wird.“

Professor Osthoff lehnte sich vor, sodass seine Brille fast von der Nase rutschte und schnalzte mit der Zunge, als Pascal den Koffer öffnete. „Das ist wirklich ein außergewöhnliche Geige, bestätigte Osthoff.

„Können Sie mir vielleicht etwas über die Herkunft verraten?“, drängte Pascal.

Der Professor wog den Kopf. „Dafür müsste ich sie mir genauer ansehen. Darf ich?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, hob er das Instrument aus dessen Bett. Pascal grub seine Fingernägel in seine Oberschenkel, um nicht aufzuspringen und sie ihm zu entreißen.

Professor Osthoff strich über den Lack. Mit seinen Fingernägeln zog er die Einkerbungen der Symbole nach. „Hm, sehr merkwürdig“, nuschelte er.

Pascals Herz schlug schneller. „Was ist Professor? Spüren Sie etwas … Merkwürdiges?“

Osthoff zog die Augenbrauen hoch. „Etwas spüren? Was sollte ich denn Ihrer Ansicht nach spüren?“ Er lachte, als er sagte: „Sie brauchen wohl Urlaub, junger Mann. Sie wirken heute blass. Hatten Sie eine lange Nacht?“

„Jaja“, antwortete Pascal nervös, „die hatte ich, Professor. Was ist Ihnen denn nun aufgefallen?“

„Genau, genau“, besann sich der Gelehrte. „Ich bin mir nicht sicher, aber diese Schrift …“ Osthoff legte die Geige zurück in den Koffer, dann zupfte er sich mit den Fingerspitzen am Bart. „Vergleichbares habe ich noch nie zuvor zu Gesicht bekommen … Dachte ich!“ Er bewegte die Maus und der Bildschirm seines Computers wurde aktiv. Er klickte mit der Maus herum und redete dabei weiter: „Sie erinnern sich an das erste Semester, als ich den Vortrag über die Geschichte der Musik hielt?“

Pascal nickte.

„Da ging es auch um die Erschaffung der Geige. Ein altes Zigeunermärchen, in dem ein Mädchen einen Jäger begehrte, der für sie unnahbar war.“

Pascal zog die Augenbrauen hoch. „Ich erinnere mich. Sie ging einen Pakt mit dem Teufel ein, um den Jäger für sich zu gewinnen. Sie sollte ihre Familie für ihn opfern. Daraufhin formte der Teufel aus dem Vater die Geige, ihre vier Brüder wurden zu den Saiten und die Mutter zum Bogen.“

Der Professor schmunzelte. „Du hast gut aufgepasst. Als das Mädchen den Teufel jedoch nicht anbeten wollte, nahm er sie mit in sein Reich und die Geige wurde im Wald von einem Zigeuner gefunden.“

„Aber das ist nur ein Märchen“, entgegnete Pascal mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Osthoff verzog den Mund. „Sicher. Jedoch steckt in vielen Märchen ein Fünkchen Wahrheit. Mein Kollege, Professor Stroh, glaubte, dass diese Geige tatsächlich existiert haben könnte oder noch existiert.“

„Glaubte?“, unterbrach Pascal ihn.

„Ja“, sagte Professor Osthoff und griff nach einem Bild, das auf seinem Schreibtisch stand, und betrachtete es. Es zeigte ihn in jungen Jahren mit einem anderen Mann. „Er ist … verschwunden.“

„Verschwunden? Wie kann ein Mensch einfach verschwinden?“, fragte Pascal.

„Er sah die letzten Wochen vor seinem Verschwinden schlecht aus, um nicht zu sagen verwahrlost. Ich glaube, er hatte Probleme.“

Osthoff zuckte mit den Schultern. „Aber lassen wir das. Worauf ich hinaus wollte, ist das hier.“ Er drehte den Bildschirm zu ihm und er erkannte die Präsentation, die Professor Osthoff für die Vorlesung der Erstsemester vorbereitet hatte.

Die Entstehung der Geige lautete die Überschrift der Folie, die das Bild eines alten Kupferstichs zeigte.

„Erkennen Sie es?“, fragte Osthoff.

Pascal schüttelte den Kopf. „Was soll ich darauf sehen?“

„Warten Sie, ich vergrößere es.“ Staunend betrachtete Pascal das Bild. „Das glaube ich ja nicht, das ist die gleiche Schrift, wie auf meiner Geige.“

„So ist es“, antwortete Osthoff und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Bedeutet das, dass diese Geige die Teufelsgeige ist?“

Osthoff lachte. „Seien Sie nicht albern, Pascal. Die Teufelsgeige ist eine Legende. Ich glaube nicht, dass sie je existiert hat. Dennoch ist es faszinierend, dass jemand offenbar ein Instrument anhand dieser Abbildung gebaut zu haben scheint. Ich würde die Geige gerne näher untersuchen. Ich könnte einen Kollegen von der Miskatonic-Universität in Massachusetts hinzuziehen. Er ist ein Fachmann, wenn es um alte Schriften geht und …“

„Ich weiß nicht“, unterbrach ihn Pascal, der den Koffer ein Stück zu sich heranzog.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte ihn Osthoff. „Die Geige wird nichts zustoßen. Sie wird Ihnen natürlich eine Weile nicht zur Verfügung stehen. Vielleicht zeigt ein Museum Interesse für das Stück und Sie wären der Entdecker, der …“

„Nein“, sagte Pascal.

„Was?“, fragte Professor Osthoff aus seiner Rede gerissen.

„Nein!“, schrie Pascal, der sah, wie die Finger des Professors über die Geige glitten. Pascal knallte den Koffer zu. Professor Osthoff heulte vor Schmerz auf und legte seinen Kopf in den Nacken.

Pascal erstarrte. „Es … es tut mir leid, aber das geht nicht“, stammelte er, klemmte sich den Koffer unter den Arm und rannte aus dem Büro.

Pascal ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Endlich zu Hause. Er fiel auf die Knie und öffnete den Koffer, als er ein Fauchen hörte. Unter der Kommode funkelten die Augen von Vivaldi.

„Verschwinde!“, zischte Pascal wütend. Als der Kater ein weiteres Mal die Zähne bleckte, warf er einen Schuh nach ihm und Vivaldi flüchtete in die Küche.

Ein Lächeln umspielte Pascals Lippen, als er die Geige betrachtete.

„Ich werde dich niemals hergeben“, säuselte er ihr wie einer Geliebten zu und legte sie an seinen Hals. Der Lack kühlte seine warme Haut. Er schloss seine Augen und spielte das Instrument; genoss die Klänge. Sein Glied schwoll an und … er hielt inne.

Die Geige klang seltsam, als würde ein Ton … schreien.

Pascal verwarf den Gedanken. Die kurze Nacht forderte ihren Tribut und Pascal nahm sich vor, den fehlenden Schlaf nachzuholen. Nur noch ein paar Töne, dann reichte es.

Pascal schloss die Augen und spielte.

Nach einigen Tönen setzte die Vibration ein. Sie durchströmte ihn, gab ihm neue Energie, während er über die Saiten huschte, dann erklang ein Kreischen. Ihm standen die Haare zu Berge, als kratzten Fingernägeln über eine Tafel.

Pascal schloss die Augen und spielte weiter. Schatten flimmerten vor seinen Augenlidern. Der schwere Geruch von Öl brannte ihm in der Nase. Er spürte eine Präsenz im Zimmer. Augen ruhten auf ihm, heißer Atem kitzelte seine Haut, doch er wagte es nicht, hinzusehen. Schweißperlen rannen über seine Stirn. Pascal presste seine Augen zusammen, während die Schatten immer schneller hinter seinen Lidern flimmerten. Angst und Lust rangen in ihm um die Oberhand. Mächte zerrten an ihm und die Pein wurde zum Hochgefühl.

Ein Poltern und Fauchen riss Pascal aus seiner Konzentration. Er öffnete die Augen und erkannte das Hinterteil von Vivaldi. Eine Klaue ragte aus einem Loch in der Wand und bohrte seine Nägel in den Leib des Tieres. Mit jeder Bewegung pulsierte das Loch. Die Klaue zog den Kater mit sich und sie wurden von der Öffnung verschluckt. Pascal hörte auf zu spielen und das Loch wurde kleiner, bis es verschwand. Zurück blieben die Überreste seines Katers, die an der Tapete klebten. Gedärme und Blut quollen dampfend aus dem Kadaver. Sterne blitzten vor Pascals Augen und explodierten, dann verlor er das Bewusstsein.

Die Rollläden ließen kein Tageslicht zu. Seine Augen vertrugen es nicht mehr. Pascal verscharrte Vivaldis Überreste im Park. Seitdem mied er die Außenwelt.

Pascal lag auf dem Bett und versuchte sich auf die Seite zu wälzen, doch jede Bewegung verursachte Schmerzen. Glühende Nadeln bohrten sich in seine Gelenke, während Eiswasser durch seinen Kreislauf pumpte.

Seit wann lag er hier? Stunden? Tage? Wochen? Er wusste es nicht. Seine Finger ließen kaum noch Haut erkennen. Die Saiten rissen immer neue Wunden hinein und die Kruste brach auf. Blut trocknete an seinen Händen.

Ächzend hievte er sich auf und torkelte ins Badezimmer.

Pascal betrachte sein Antlitz im Spiegel. Seine Augen erinnerten ihn an die eines Trinkers, wohingegen die Haut der Farbe von Camembert glich. Mit den Fingern strich er sich durchs Haar. Es hinterließ einen Fettfilm auf seiner Haut. Der Anblick erinnerte ihn an den Obdachlosen. Pascal kicherte bei dem Gedanken an ihn. Gift, hörte er die Stimme.

Sein Herz pumpte in der Brust. Der Drang zu spielen kam auf. Die Hochgefühle befriedigten ihn kaum noch. Der Zwang zur Geige zu greifen, bohrte sich wie ein Wurm in seinen Verstand. Sie höhlte ihn aus wie eine Made die reife Frucht. Doch es war nie wieder so, wie an diesem Tag, dem Tag, als Sie mehr verlangte, sich mehr nahm.

Pascal hatte von den Symptomen gelesen. Er war süchtig. Er würgte bei dem Gedanken. Er würgte bei dem Gedanken an diesen Anderen, an diesen … was war es?

Die Schreie, wenn er die Geige spielte, wurden zu einem Chor. Inzwischen glaubte er, er könne sie sogar hören, wenn er nicht über die Saiten glitt. Sie klopften mit ihren Knöcheln hinter den Wänden. Sie kratzten mit ihren brüchigen Nägeln in den Rohren. Heulten in den Schränken. Sie waren überall.

So durfte es nicht weitergehen, dachte Pascal und fasste einen Plan. Wankend schlurfte er zu der Geige, die in ihrem Koffer gebettet lag, nahm sie und schloss sie in den Kleiderschrank ein. Den Schlüssel, fest in seine Faust gepresst, nahm er mit ins Badezimmer. Er hielt ihn über die Toilette, um ihn in der Schüssel zu versenken, als Zweifel an ihm nagten. Sollte er ein letztes Mal spielen? Nur so, zum Abschied. War er es der Geige nicht schuldig? All die herrlichen Stunden …

Pascal bohrte seinen Fingernagel in die verkrusteten Handflächen und der Schmerz holte seinen ertrinkenden Verstand zurück an die Oberfläche. Der Schlüssel platschte in das Wasser und er betätigte die Spülung. Der Schlüssel drehte im Strudel seine Kreise, bis er verschwand.

Wie ein Fötus lag Pascal auf dem dreckverkrusteten Laken. Wahn und Realität verschwammen. Schatten bewegten sich an den Wänden. Sie schlichen in den Ecken. Lautlos. Er sah sie im Augenwinkel; nur für einen Sekundenbruchteil. Lange Klauen, die nach ihm griffen, um ihn in ihr Reich zu ziehen. Versuchte er, sie direkt anzusehen, verschwanden sie. Stimmen flüsterten unter Tischen, in Schränken und dem Bett. Sie verhöhnten ihn. Riefen nach ihm. Lachten ihn hämisch aus. Seine Arme wiesen Kratzspuren auf und er rätselte, ob er sich das selbst angetan hatte. Vielleicht. Teilweise.

Der Zwang zu spielen ebbte nicht ab, sondern bahnte sich neue Wege. Er schnürte ihm die Luft zum Atmen ab. Mit jeder Stunde, die verging, wurde es unerträglicher.

Pascal vergrub das Gesicht in den Händen und stieß ein Krächzen aus. Was geschah hier?, überlegte Pascal. Feige versteckte er sich, anstatt sich der Sucht zu stellen. Mit den Handflächen rieb er sich durch das Gesicht und schlich zu der Abstellkammer. Er erinnerte sich an das Werkzeug, das vom Vormieter dort lag und bei seinem Einzug beiläufig von Pascal registriert worden war. Unter schmutzigen Kartons kam ein Hammer zum Vorschein. Der Kopf war rostig und das Holz des Griffes spröde. Für sein Vorhaben genügte er.

Mit der Finne hebelte Pascal die Schranktür auf. Knackend gab das Holz nach. Er rutschte mehrmals mit dem Hammer ab. Endlich brach die Tür quietschend auf und ein öliger Geruch wehte ihm entgegen. Er zwang sich, sich nicht naserümpfend wegzudrehen, und sah den Koffer. Dieses alte Leder, wie die abgestoßene Haut eines Reptils. Am Griff zog er ihn über die Schwelle des Schranks und er polterte auf den Fußboden. Die Schnallen klackten auf, diese Mäuler von Schlangen, und Pascal hob den Deckel an. Dort lag sie. Eine eisige Faust umschloss seinen Magen.

Er leckte sich über die Lippen und schmeckte sein blutendes Zahnfleisch. Pascal holte mit dem Hammer weit aus und rief: „Zurück in die Hölle mit dir!“

Mit der Kraft der Verzweiflung zerschnitt das Werkzeug die Luft, sauste nieder und prallte auf den Korpus. Nichts geschah. Die Geige blieb unversehrt. Ungläubig riss Pascal die Augen auf. „Nein“, stammelte er und drosch ein weiteres Mal auf die Geige ein. Wie wild hämmerte er drauf, begleitet von Schreien, bis er schließlich schluchzend auf die Knie fiel und sein Gesicht in den Händen vergrub.

„Pascal!“

Er verstummte und linste durch seine Finger.

„Pascal!“

Wieder die Stimme, aber sie war anders, als die, die sonst zu ihm sprach. Er kannte sie. Es klopfte.

„Pascal, sind Sie da? Hier ist Professor Osthoff.“

Osthoff.

„Mein Sohn, öffne die Tür!“ Sein Vater. Hier?

„Pascal, Sie waren seit Wochen nicht mehr in der Uni, was ist los mit Ihnen?“

„Verschwindet!“, krächzte Pascal.

„Öffne die Tür! Sofort! Ich habe den Hausmeister bei mir und er hat einen Schlüssel dabei, wenn du uns nicht augenblicklich aufmachst, wird er ihn benutzen“, befahl sein Vater.

Pascals Herz pochte in der Brust und der Schweiß brach aus. Sein Vater. Hier. Er schien besorgt.

Seine Gedanken rasten, als er Hilfe suchend über die Geige strich und sie geistesabwesend an sich nahm. Eine Stimme in seinem Kopf flüsterte: ‚Es sind keine Sorgen, die ihn zu dir trieben. Es ist sein Neid. Er weiß, dass du besser bist, als er je sein würde. Hör nur, wie er mit dir spricht, wie er dir immer noch Befehle erteilen will, aber du brauchst ihn nicht mehr. Nie mehr!‘

Aber Professor Osthoff. Er ist hier, um mir zu helfen. Er hat mich stets gefördert. Er …

‚Nein! Er will die Geige. Er will sie seit dem Tag, als er sie das erste Mal in den Händen hielt. Nun will er sie dir nehmen, sie für sich beanspruchen. Glaube ihnen nichts. Du bist der Einzige, der sie spielen darf, du bist der Würdige!‘

L' mgepah'ehye h' l' vulgtmah vulgtmor!

L' mgepah'ehye h' l' vulgtmah vulgtmor!

„Du hast es so gewollt, Junge. Es ist zu deinem eigenen Besten.“

Pascals Blick fiel auf die Geige. Die Schrift leuchtete wie Blut. Vor seinen Augen verschwammen die Lettern. Der Lack, so schwarz wie eine Galaxie, spiegelte sein Gesicht. Pascal las die Worte:

L' mgepah'ehye h' l' vulgtmah vulgtmor.

Er setzte die Geige an sein Kinn, den Schmerz der verletzten Hände spürte er kaum. Er verstand. Er spielte.

Die Vibrationen des Instruments bebten wie nie zuvor. Die Schreie, der Chor der Seelen, kreischte und klagte ohrenbetäubend. Ein Schauer überkam seinen Körper, als kalte Winde ihn umhüllten. Die Schatten tanzten. Energie bahnte sich durch seine Muskeln. Seine Zehen kribbelten.

„Was zum Teufel ist das?“, fragte Professor Osthoff, als jemand brüllte. Der Hausmeister. Dann schrie Osthoff. Schließlich stimmte sein Vater mit einem Gurgeln ein. Ein Knacken, wie von berstenden Ästen und saugende Geräusche mischten sich mit den Schreien. Pascal hatte die Augen geöffnet. Schatten wichen. Dann trat Stille ein.

Pascals öffnete mit seinen zittrigen Händen die Tür und fand einen leeren Flur vor. Nur die Brille von Professor Osthoff lag verlassen auf dem Boden. Das Glas wies einen Sprung auf. Pascal schmeckte Blut, als sich seine rissigen Lippen zu einem Lächeln formten.

Mehr flüsterte eine Stimme.

Mit ihrem reizendsten Lächeln stellte Lili dem Mann den Kaffee und einen Apfelstrudel vor die Nase.

„Vielen Dank …“, er suchte das Namensschild auf dem Poloshirt.

„Lili“, kam sie ihm zuvor.

„Lili. Ein hübscher Name“, entgegnete der einzige Gast und stellte sich als Martin vor.

„Dankeschön“, sagte sie verlegen und zwinkerte ihm in der Drehung zu und verschwand mit schwingenden Hüften hinter den Tresen. Ein hübscher Kerl, gestand sich Lili ein. Falten zeichneten sein Gesicht. Sie machten einen Teil seiner Anziehungskraft aus. Das, und das lange, grau melierte Haar, durch das er sich mit den Fingern strich. Er würde meine Nummer bekommen, wenn er nett fragt.

Das Läuten des Glöckchens an der Tür riss Lili aus ihrem Tagtraum. Ein heruntergekommener Mann betrat das Café. In seiner Hand trug er einen abgewetzten Geigenkoffer. Lili erinnerte er an die alten Gangsterfilme, in denen die Killer immer ein Maschinengewehr in einem solchen bei sich trugen. Vorausgesetzt die Mafia stellte Obdachlose ein. Lili rümpfte die Nase. Solche Typen verirrten sich nie in das Café an der Promenade.

Zu allem Überfluss setzte er sich Martin gegenüber. Dem fiel die Gabel aus der Hand, die klirrend auf den Tisch landete. Er sah den unerwünschten Gast erschrocken an. „Du?“, fragte er. Offensichtlich kannte er den Neuankömmling.

Der Penner stellte den Koffer zwischen sie auf den Tisch. Martins Aufmerksamkeit galt nun diesem Ding.

Mit zielsicherem Schritt lief Lili auf die beiden zu. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie den unerwünschten Kunden.

Er legte den Kopf schief. Seine Augen lagen in ihren Höhlen und jagten Lili einen eisigen Schauer über den Rücken.

„Guten Morgen, Lili“, sagte er mit ruhigerer Stimme, ohne auf ihr Namensschild zu gucken. „Wieso verschwinden Sie nicht kurz nach hinten und rauchen eine? Ich werde Ihnen nicht lange zur Last fallen.“

Lili war überrascht von der Dreistigkeit des Mannes. Und woher weiß er, dass ich rauche? „Nein!“, sagte sie bestimmt und legte ihre Hand auf den Koffer. „Ich denke, Sie nehmen dieses schäbige Ding und verschwinden!“

Martin schüttelte den Kopf.

Der Obdachlose sah sie verärgert an. „Nicht anfassen!“

Lili schlug auf das rissige Leder. „Sie verschwinden, sonst sehe ich mich gezwungen die Polizei …“

Der Mann zog den Koffer weg. Ehe Lili sich versah, griff er sich die Gabel, die auf dem Tisch lag. Er drosch sie in Lilis Handrücken. Die Zinken bohrten sich durch das Fleisch und in das Holz. Lili heulte auf. Sie rüttelte vergeblich an ihrer Hand, die am Tisch fixiert war. Blut floss aus den Wunden. Jammernd sank Lili auf die Knie.

„Ich habe doch gesagt, Sie sollen den Koffer nicht berühren.“ Entschuldigend zuckte der Penner die Schultern. „Heutzutage ist der Kunde scheinbar nicht mehr König.“ Mit einem diabolischen Grinsen widmete er sich wieder Martin. „Nun zu Ihnen, Professor Stroh. Oder darf ich Sie Martin nennen?“

Stroh ignorierte die Frage. „Wie haben Sie mich gefunden, Pascal?“ Seine Stimme bebte. Lili heulte zu ihren Füßen wie ein Schlosshund.

„Das war nicht schwierig.“ Mit seinen Fingern trommelte Pascal auf den Koffer. „Er hat noch eine Rechnung mit dir zu begleichen.“

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
412 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783748522065
Редактор:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают