Читать книгу: «Zwielicht 12», страница 2

Шрифт:

Deshalb arbeitete ich auch an jenem Abend die Spätschicht, als Keith fünf Minuten vor Acht aufkreuzte. Er schleppte einen halben Zentner Hundefutter und bis er begriff, an wessen Kasse er stand, war es vermutlich zu spät, um unbemerkt kehrtzumachen.

Ich ließ mir zuerst nicht anmerken, dass ich ihn erkannt hatte. Es wäre im Prinzip nicht verwunderlich gewesen, keine Notiz von ihm zu nehmen – die schwarze Farbe war aus seinen dunkelblonden Haaren herausgewachsen und er sah heute viel älter aus als damals, bevor er und Nat abgehauen waren. Vor nicht ganz einem Jahr. Bisher hatte ich es gedanklich nie mit einem konkreten Datum verknüpft. Die Zeit tickte hier ebenfalls seltsam.

Ich wartete, bis ich das Hundefutter eingescannt und sein Geld genommen hatte, und gab ihm schließlich den Kassenbon mit den Worten: „Was du Nat angetan hast, war echt nicht cool.“ Ich sagte es so leise und ruhig, wie ich konnte. Die Mädchen an den anderen Kassen sollten nicht denken, ich wäre wie Mom und würde eine Szene machen.

Er ließ den Bon fallen und rannte ohne das Futter davon. Ich quälte mich den restlichen Abend mit der Frage, ob Strider jetzt hungern musste. Das hätte Nat nicht gewollt.

Er holte es am Morgen bei der Frühschicht ab und ich rechnete nicht damit, ihm noch einmal zu begegnen. Doch die Woche darauf kam er zurück, als ich wieder die Spätschicht hatte. Er schnappte sich einen dieser Nuss-Karamel-Riegel, die wir an der Kasse verkauften – offensichtlich nur ein Vorwand. Mir war noch nie jemand begegnet, der die Dinger tatsächlich aß.

„Ich hatte nichts damit zu tun“, sagte er, während er mir einen Fünf-Dollar-Schein gab. „Der Typ, der uns die Pillen verkauft hatte, war’s; ich wusste von nichts.“

Ich verstand, dass da Worte aus seinem Mund kamen und dass er den Kopf schüttelte, doch ich hörte nicht wirklich hin. „Aber du hast sie zurückgelassen. Du hättest sie nicht dort draußen lassen sollen.“

Er schüttelte den Kopf heftiger, wobei seine schmierigen Haare gegen seine Wangen flogen. „Ich konnte absolut nichts tun, Mandy. Was hätte ich tun sollen? Keinem tut es mir leid als mir, aber was hätte ich tun sollen? Nichts konnte ich tun, gar nichts.“ Er wiederholte diesen einen Satz in abgewandelter Form, bis ich ihm den Nussriegel in die Hand drückte. Dann schaute er darauf, als hätte er noch nie einen gesehen, und ging hinaus.

Als ich um Neun den Parkplatz betrat, klemmte unter meinem Scheibenwischer die rote Verpackung des Nussriegels, zerrissen in die grobe Form eines Herzens. Ich zog sie heraus und warf sie in einen Mülleimer. Ich verstand schon; ich sollte sie mit nach Hause nehmen und für immer behalten, vielleicht ebenfalls in ein Buch stecken – und nun begriff ich, wieso Mom nichts davon hielt.

Der verrückte Teil von mir fragte sich, ob Nat irgendwie in ihrer nächsten Postkarte darüber Bescheid wusste, aber sie erwähnte nichts dergleichen. Sie kam aus San Francisco und zeigte zwei Männer mit freiem Oberkörper in Sonnenbrillen und Cowboyhüten sowie einen versauten Spruch, den ich in Gesellschaft von Mom vermeintlich nicht kapiert hätte. Ich hab Alejandro genauso einen Hut besorgt, weil er aus Texas kommt. Besorgt, also geklaut und nicht gekauft. Die gute alte Nat. Er meinte zu Beth, sie solle ihm auch ihre Wildlederjacke leihen, aber natürlich denkt sie nicht daran. Ich liebe San Francisco, Mandy. Ich wünschte, wir könnten bleiben. Wir hatten hier nur ein schlechtes Erlebnis, nämlich, dass Tammy vor ein paar Tagen verschwunden ist. Vielleicht hat sie einem Cop ihren Namen verraten? Na, jedenfalls hat das Beth natürlich mitgenommen und sie sagt, mir müssen in Bewegung bleiben, weiter Richtung Norden.

Ich bin mir nicht sicher, wieso. Aber mal Seattle zu sehen, wäre vermutlich schon klasse.

Ich weiß nicht genau, warum gerade das mein Gedächtnis ankurbelte, es war ja nicht so, dass ich die Zeitung las oder Nachrichten schaute. Aber es hatte Schlagzeilen gemacht, also hatte ich es vielleicht im Augenwinkel gesehen oder aus dem Radio eines Autos mit geöffneter Scheibe gehört, oder ein paar Frauen hatten bei McDonald’s in der Schlange darüber getratscht, während ich für meinen Kaffee anstand. Nette alte Damen unterhalten sich beim Shoppen gern über die tragischsten, ekligsten und brutalsten Kriminalfälle. Ich sagte zu mir selbst, okay das war’s, du hast den Verstand verloren, aber ging trotzdem in die Bibliothek und besorgte mir die Buffalo News von Montag vor zwei Wochen.

Noch vor meiner Geburt hatte man die verscharrte Tammy Jordan in einem Feld etwas außerhalb von Honeoye Falls entdeckt, und mein ganzes Leben lang war sie Honey Namenlos gewesen, eine vage Erscheinung, die nur Beachtung fand, wenn ein TV-Reporter gelangweilt zu neuen Hinweisen aufrief. Bis vor zwei Wochen, als sie endlich identifiziert werden konnte – eine alte Frau hatte sich eine vor Ewigkeiten aufgenommene Folge von Unsolved Mysteries angeschaut und erkannte in dem computer-rekonstruierten Bild von Honey Namenlos die schiefen Zähne und das Lieblings-Shirt ihrer ausgerissenen Nichte.

Wir kennen ihren Namen, lautete die Schlagzeile. Ihre sterblichen Überreste sollten nun exhumiert und überführt werden, um sie dort zu beerdigen, wo sie hingehörten, in einem anständigen Grab mit einer anständigen Inschrift. Es ärgerte mich, dass niemand vorhatte sie zu fragen, ob sie überhaupt zurück wollte, bis mir klar wurde, wie dumm sich das anhörte.

Ich saß in der Bibliothek, bis sie schloss, weil ich nicht allein sein wollte. Danach ging ich nach Hause und starrte auf die mittlerweile eingerollten, glanzlosen Bilder von Sleeping Bear Dunes, die noch immer an die Rückseite meiner Tür gepinnt waren. Irgendwo zwischen diesen dunklen Kiefern hatte er Nat einsam und allein zurückgelassen. Und sie hatte einen Weg dort heraus gefunden, um mir trotz allem weiterhin zu schreiben. Sie hatte mich lieb und vermisste mich.

Dieses Mal musste ich nicht einmal meinen Kopf einziehen, um weiterzumachen. Er war bereits eingezogen. Ich kündigte nicht im Tractor Supply, weinte nicht in der Dusche, vergaß nicht zu essen, denn ich hatte all diese Dinge bereits getan. An meinem Verhalten änderte sich eigentlich nur, dass ich Zuhause das Licht nicht mehr anmachte. Ich wusste, wo sich alles befand, und es gab niemanden sonst, der etwas sehen musste. Außerdem wurden die Tage jetzt länger.

Ich hatte ein wenig Angst davor, dass sie aufhören könnte mir zu schreiben, jetzt, da ich dahintergekommen war. In einem Märchen, so schien es mir, würde genau das passieren. Aber so zu denken war verrückt. Und gleich in der nächsten Woche erreichte mich eine weitere Postkarte, diesmal aus Klamath Falls. Darauf ein See, hinter dem sich ein schneebedeckter Berg erhob.

Irgendetwas geht hier vor sich, Mandy. Wir sind auf diese ganze Gruppe von Frauen gestoßen … überwiegend Frauen und junge Mädchen, dazu noch einige Kinder und Kerle. Ein paar von ihnen kannten Beth und verhielten sich so, als hätten sie ihre Ankunft erwartet. Sie stellte mich und Alejandro allen vor. Alle sind aufgeregt. Es ist, als wären wir auf dem Weg zu einem Festival oder so. Wie es scheint, hat hier eine indianische Frau namens Anna das Sagen, die musst du echt erlebt haben – sie kümmert sich um alles und jeden und bringt uns so schnell nach Norden, dass ich kaum Zeit fand, dir das hier zu schicken. Ich werd so schnell ich kann herauskriegen, was hier los ist, und dir dann wieder schreiben; ich wette, das wird großartig! Ich vermisse dich so sehr, Kleine Mandy.

Ich ging weiterhin arbeiten, aber die Leute fragten mich, ob ich geschlafen hatte. Man sah es mir an. Wenn das Telefon klingelte, nahm ich nicht ab. Ich fühlte mich, als bräuchte ich nicht einmal Kaffee, dennoch ertappte ich mich dabei, mehr zu trinken als jemals zuvor, um mich dann, so oft es nur ging, aus dem Tractor Supply an die frische Luft zu stehlen. Ich fing an, Zigaretten zu schnorren und Raucherpausen zu machen, aber Leute in der Raucherpause wollten reden, und das fiel mir schwer, wo ich doch von etwas erfüllt war, über das niemand mit mir reden konnte außer Nat. Von Bedeutung war nur noch eins, und zwar die Tage abzuhaken, bis ich die nächste Postkarte bekam.

Sie erreichte mich gerade rechtzeitig. Sie war aus Seattle und in Schwarz-Weiß, ein sonderbar altmodisches Motiv mit Pferden auf der Straße und Männern, die Hüte trugen, dazu irgendein offiziell aussehendes Gebäude. Alle hellen Bereiche, sowohl der Himmel zwischen den Gebäuden als auch das fahlere Grau der Bürgersteige, waren übersät mit auf dem Kopf stehenden Buchstaben, in einer Schrift schmaler als alles, was ich jemals von Nat gesehen hatte. Der Text quoll von der Rückseite herüber, wo sich von Rand zu Rand winzige – na ja, zumindest für Nats Verhältnisse winzige – Buchstaben drängten, wenn man von dem Kästchen mit meiner Adresse und dem kleinen Feld für die Briefmarke absah. Über einen Teil war ein Sticker mit einem Strichcode geklebt worden, aber es gelang mir, ihn vorsichtig abzuziehen, ohne dass etwas von der Tinte darunter abblätterte.

Wir steigen den Berg hinauf. Es gibt so viele von uns, dass sie uns bald nicht mehr ignorieren können, Mandy. Die indianischen Mädchen allein – nur die aus Vancouver und British Columbia – wären schon eine Armee, und dazu kommen noch so viele aus Kalifornien, so viele aus Ohio, so viele aus Michigan, wir sind von überall her, aus jedem einzelnen Bundesstaat. Jede von uns für sich ignorieren sie, mal war es eine miese Pille oder ein mieser Mann, mal sind wir ins falsche Auto eingestiegen, völlig egal. Aber zusammen, wenn man uns nicht voneinander trennt und isoliert betrachtet, sondern uns alle zusammen, sieht man, dass das nicht stimmt. Es ist viel größer. Bis gerade eben war mir das selbst nicht bewusst, Kleine Mandy. Ich dachte, es wäre mein Fehler. Ich bin so froh, dir das sagen zu können, damit du dich nicht mit diesen Gedanken belasten musst. Also wie gesagt, hier musste ich die Karte umdrehen, wir

steigen

den Berg hinauf. Wenn wir

herabkommen, wird es auf eine Weise sein,

die sie nicht ignorieren können.

Und bis dahin sind wir in Sicherheit.

Ich wünschte, es gäbe einen Weg für dich, hier zu sein, stand über den weitesten Teil des Himmels geschrieben, ohne diese Straße beschreiten zu müssen. Ich hab Dich lieb und vermisse Dich, Kleine Mandy.

Ich hatte sie gerade zu den anderen in meine Ausgabe von Betty und ihre Schwestern gelegt, als es an der Tür klingelte. Hätten sie nur eine halbe Stunde länger gewartet, wären mir die Tränen übers Gesicht geflossen und sie hätten vielleicht gewonnen. Aber als die Polizei draußen stand, konnte ich nur an eines denken: Verrate einem Cop niemals deinen Namen, Kleine Mandy!, und beherrschte mich. Ich nickte und machte sogar das Licht an, damit sie mich nicht für schrullig hielten, aber das ist nicht dasselbe. Und als sie mir den Ring mit der Schildkröte aus Onyxsplittern zeigten und mich nach Nat befragten, sagte ich, nein, meiner Schwester geht’s gut. Ich habe gerade eine Postkarte von ihr bekommen.

Originaltitel: Postcards from Natalie

Erschienen in The Dark 7/16 (Wiederveröffentlicht in The Year’s Best Dark Fantasy and Horror 2017)

Übersetzung: Sebastian Rudolph

Max P. Becker – Strandpoesie

„I was standing outside myself trying to stop those hangings with ghost fingers … I am a ghost wanting what every ghost wants — a body — after the Long Time moving through odorless alleys of space where no life is, only the colorless no smell of death …”

William S. Burroughs: „Naked Lunch“– The Restored Text

Wenn sich auf seinen Wanderungen, die er in Einsamkeit verbrachte, ein herrlicher Anblick auftat, dachte er daran, wie viel Schönes in der Welt unentdeckt verweilte und recht tat er daran. All den Wucherungen und Verästelungen, den Gestrüppen, die die Kunst seit Jahrtausenden unerbittlich durch jedes wahrnehmbare Objekt trieben und die Augen wund machten, war nicht länger zu entkommen und doch –

Er hielt für einen Moment inne und lauschte der gedämpften Melodie eines Plattenspielers, die die Geräusche der Wellen überlagerte. War das die Stimme Eddie Cantors? Jedenfalls strömte die Musik, der Ruf der Zivilisation, getragen vom Ostwind, in den Wald hinein. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, schulterte seinen Rucksack und bewegte sich in die Richtung, aus der die Töne drangen. Obwohl sich seine Neugier in Grenzen hielt und er noch eine weite Strecke vor sich hatte, drehte er sich wie jemand um, der hinter sich unerwartet einen Mann oder eine Frau husten hörte.

In der Luft schwelte eine unergründliche Energie, ähnlich der vor einem Wolkenbruch. Es fühlte sich an, als könnte es jederzeit in Strömen regnen oder schneien oder hageln. Nichts dergleichen geschah: Durch die Baumkronen war keine einzige Unwetterwolke zu sehen – nur Grau. Die Sonne hatte am Tag nicht geschienen. Kein Vogel sang. Das Moos schluckte sämtliche Geräusche seiner Schritte. Über jede Wahrnehmung, jede Empfindung senkte sich eine unbeschreibliche Aura des Widernatürlichen.

Er hätte an dieser Stelle sicherlich merken können, dass etwas nicht stimmte, aber wie es so ist, lassen sich die ärgsten Zweifel hinter dem Schleier von Banalität und Ignoranz verbergen.

Da waren plötzlich Stechmücken neben ihm. Tausende, Zehntausende, vielleicht Hunderttausende – wer hätte sie zählen können? Er spürte sie um sich sausen, seine Haut streifen und seine Ohren mit ihrem Summen füllen, doch war er unfähig dazu, sie zu sehen. Vergeblich fuchtelte er in der Luft herum, dabei war da nichts – nichts Greifbares. Die eigenen Körperfunktionen waren ihm ein Orchester, der taktgebende Dirigent das Gehirn – pochpochpoch. Speichel sammelte sich auf seiner Zunge, sodass er alle paar Sekunden schlucken musste. Das Schmatzen, das er sich selber zuschrieb, war nicht seines (und gleichzeitig gehörte es keiner anderen Kreatur). Vor ihm tauchte ein Haus auf, ein gewöhnliches Ferienhaus, eines von der Sorte, welches sich an eine Düne schmiegte und für Familien gebaut wurden. Eine Schaukel, viel Sand, Rasen, Spielsachen und was sonst dazugehörte. Hinter der Düne ragte der unbestückte Wipfel eines Baumes hervor. Ein Drachen hatte sich darinnen verfangen, die abgerissene Schnur wehte im Seewind. Aus diesem Haus drang die Musik oder wenigstens: aus dieser Szenerie. Was das bedeutet? Beides war eines geworden.

Selbstverständlich schwitzte er am gesamten Körper. Seine Wanderungen waren immer lang und unerbittlich. Für Pausen hatte er meist keine Zeit. Heute jedoch schwitzte er nicht vor Anstrengung; Er schwitzte, weil seine Nerven blank lagen. Sie glichen einem aufgescheuerten Knie oder einer Platzwunde am Kopf. Diese Schmerzen gehörten mittlerweile nicht mehr ihm – nicht seit das Quietschen eingesetzt hatte. Wie all die anderen Geräusche hatte sich das Quietschphänomen verselbstständigt, brauchte keinen Körper, ohne Körper keine Seele, und es klang, wie zwei übereinander reibende reife Früchte. Die Tonhöhe variiert willkürlich. Doch das Scheußlichste daran war wirklich, dass die Quelle nirgends auszumachen war.

Ob er fliehen könnte? Wahrscheinlich nicht. Er folgte der Musik durch die offene Balkontür, um wenigstens diese Geräuschquelle zu eliminieren. Das mochte ihm helfen, um die restlichen Merkwürdigkeiten zu vergessen. Nach allem war das Haus erschreckend gewöhnlich. Bis vor Kurzem hatte eine Familie hier gehaust (oder tat sie es noch immer?). Da waren drei Paar Damenschuhe, ein Paar schlammverkrusteter Herrenschuhe und einige durcheinandergepurzelte Kinderschühchen. Von letzteren fehlte seiner Zählung nach einer, und dieses Detail ließ ihn zum ersten Mal gründlich erschaudern. Er wusste nicht warum, und der Grund lag letztlich auch nicht auf der Hand. Außer dieser Haushülse verwies hier nichts auf menschliches Leben. Im Flur waren einige Blätter in einer Reihe verstreut worden, und er bückte sich und erkannte, dass eine krumme Linie sie miteinander verband. Und irgendwie spürte er, dass die Stiftführung nicht die eines Kindes, sondern die eines Erwachsenen war. Dies war die Intuition eines gläsernen Gehirns, gegen das sein Seelenpendel geschlagen hatte. Weitere Blätter führten die Treppe hinauf. Er ignorierte sie und folgte der Spur ins Esszimmer.

Mittlerweile konnte er nicht mehr auseinanderhalten, ob die Stechmücken, das Schmatzen, das Quietschen oder sogar seine eigenen Körperfunktionen die Akustik beherrschten. Die Musik, ach ja, die Musik fiel ihm ein. Die konnte ebenfalls die Akustik beherrschen.

Das Esszimmer war verwüstet worden. Ohne den geringsten Zweifel hatte hier jemand den Verstand verloren. Dieses Chaos stammte nicht vom Wind, rührte von keinem Streit, nicht von den Kindern, einem Einbrecher und auch keinem Mörder – nur ein Irrer wütete auf diese Weise.

Er hielt sich den Kopf, der nicht länger Teil seines Körpers war, und fiel auf einen Stuhl. Danach zog er sich mit einer immensen Kraftanstrengung hoch, schließlich hörte er nachträglich das Geräusch seines Aufpralls auf die Sitzfläche.

Er lächelte mit offenem Mund; das Lächeln gehörte auch nicht mehr seinem Mund. Aber seine Augen blickten weiter für ihn, alle seine Sinne saugten die kosmischen Empfindungen um ihn herum auf, bis sein Organismus zwangsläufig zusammenbrechen würde. Davon ahnte er nichts, und ohnehin ahnte er kaum noch was. Er griff nach den vollgekritzelten Seiten auf dem Tisch, ohne zu wissen, ob die gewählte Reihenfolge tatsächlich stimmte. Einer geistlosen Eingebung folgend (einem logischen Schluss, wie ihn jedes Kind der Welt in seinem Leben kennengelernt haben wird), sortierte er sie nach der Lesbarkeit – die besser leserlichen vorne und das Gekrakel nach hinten. Einige besonders Unleserliche sparte er aus. Das letzte Blatt mündete in der krummen Linie, die sich auf den Blättern am Boden fortsetzte.

Im Strudel der unirdischen Phänomene begann er zu lesen:

Mir ist hier am Meer zum ersten Mal bewusst geworden, wie wenig ich fühle. Ich weiß zu sagen, was meine Familie sich erhofft, und weiß zu handeln, wie von mir verlangt. Den Augenblick, in dem ich mein Erlebnis am Strand zu Papier bringe, prägt das Bewusstsein, dass sich alles ändern wird. Ich erkenne, wenn ich aus dem Fenster spähe, die Lust, den Rausch, die Poesie, die mir nie zuteil geworden ist. All die HOHEN Gedanken. Mein Leben war profan. Das Tapsen und Kichern von Cat und Tammy beglückt mich nun mehr als meine Eheschließung. Meine reizende Frau Gertrude (die ich sehr, sehr, sehr liebe) küsste mir soeben auf meine beginnende Glatze (sehen wir den Tatsachen ins Auge – oder?) und ist auf dem Dachboden verschwunden. Elektrizität durchfährt all die Nerven und Fasern meines Körpers, damit mein Stift ein Fragment des Glücks auf ein weißes Stück Papier zu bannen fähig ist. Hier also kommt es, mein Stranderlebnis:

Die Fahrt zum Ferienhaus verlief nervenaufreibend. Die Mädchen scheuten sich vor keinem Streit, keiner Rangelei, keinem Ungehorsam, der ihnen über den Weg lief. Ungezogene Gören. Die Sonne prallte mit voller Wucht auf unseren Wagen, der Reifen rebellierte vor unserem Ziel, der Stress rieb uns alle auf. Stickige Luft. Schwüle Luft. Staub in der Luft. Cat schrie bei unserer Ankunft über ihre rotgeschwollene Wange und Gertrude schmollte und Tammy scheute keinen Streit, keine Rangelei – gehorchte jedoch. Ich verließ meinen Hühnerhof (jaha, wir Männer sind verdammt gerissen, was?) und stakste an den Strand. Ich kannte ihn seit meiner Kindheit: die streichelnden Dünen, die peitschenden Sandwehen, das Auf und Ab der Wellen. Ein Strand. Und hier ist, was ich meine: Früher war mir dieser Ort egal gewesen. Ich war Millionen und Millionen Male am Wasser spaziert, mit Schaufel und Eimer, mit Eiscrème und Matrosenanzug, mit Mamma und Pappa. Davon gibt es noch FOTOGRAFIEN! Warum zur Hölle bekam dieser Ort also heute erst seine Bedeutung?

Ich hasse es, wenn Menschen klagen (ich meine, man braucht nur Cats Wange zu sehen), ich hasse es wirklich. Manchmal treiben mich die Umstände zur Weißglut. Arme, arme Cat – wie weh es getan haben muss. Ich war mir verdammt sicher gewesen, richtig gehandelt zu haben, und trotzdem strömen mir Tränen aus den Augen. Was ein Versager, ein herzhafter Bastard, lernt von ihm, wie man im Leben versagt.

ICH HÖRE EURE SCHREIE. Alles in Ordnung. Ich führe dieses Dokument fort, nachdem wir unser Abendessen beendet haben. Sonst hören sie nicht auf – zu schreien.

Alle waren ruhig, yippi, wo war ich? Am Strand suchte ich mir ein Kliff, um eine Zigarette zu rauchen. Sie klebte in meiner schweißfeuchten Hand, und es fiel mir schwer, an ihr zu ziehen. Die salzige Luft nahm mir meinen Spaß. Aber da war noch mehr. In der Luft hing eine ungebündelte Kraft, eine knisternde Energie wie vor einem gewaltigen Sturm. Den Hühnerhof hatte ich vergessen. Niemand suchte nach mir. Ich übersah meine Möglichkeiten und gleichzeitig den Strand nach etwas, das mich aus meiner Not retten könnte.

Plötzlich bemerkte ich etwas Ungewöhnliches. Zehn Fuß vor mir stach ein auffälliger Gegenstand aus dem Sand hervor. Eine hohle Muschelschale, ein abgezogener Reifen, ein halber Picknickkorb – ich stützte mich vom Sandboden ab und verrenkte mir den Kopf, um den Unterschied auszumachen. Sobald ich merkte, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt war, sprang ich auf und näherte mich dem fremden Treibgut. Der Wind blies mir einen durchdringenden Geruch entgegen, der mich an Spargelurin erinnerte. Bei dem Gegenstand handelte sich um ein unförmiges Objekt von dreizehn Zoll Durchmesser, das über und über von einem organischen Film wie Öl bedeckt war. Seine Ausmaße erinnerten an die Innereien einer Auster, durch die jemand schwarze Schläuche gezogen hatte. Die Proportionen waren kaum fassbar.

Weil es mir gefiel, stopfte ich es mir in den Mund und schlang es im Ganzen herunter.

Guten Morgen, Leichtmatrosen und unwillige Matronen, haha, die letzte Nacht hindurch erhitzte sich mein Magen, bis ich zum Fenster getaumelt war, um dort eine Zigarre zu paffen. Gertrude wachte nicht auf. Sie hätte sich gewundert, dass mein Bauch vollends aufgebläht war. Ich schriebe gern nieder, es läge am Pflaumenkuchen, den sie mir zur Entschuldigung gebacken hatte, fürchte jedoch, es könnte an dem Strandding, dieser Auster, liegen. Ich erinnere mich beim besten Willen nicht, weswegen ich es so eifrig verspeist habe. Juni da ist kein R, so sagt man doch, ist das gut oder schlecht? Lest die Buchstaben auf weißem Papier! Die Worte von Gestern beleuchten das Heute; das Wichtigste ist, sie nicht auszuradieren und dem Weiß preiszugeben. Ohnehin grenzt dies an Unmöglichkeit, weil ich den Bleistift mit meinem Füller nachgezogen habe und fortan mit Tinte schreibe. All die prallen Bildlichkeiten, Konstrukte, Aquädukte in Buchstaben repräsentieren meine herrlichen Wonnen. Ohne sie müsste ich mich schämen – was?

Zurück am Schreibpult. Ich habe nicht mehr dermaßen viel geschrieben, seitdem ich Gertrude meine Liebe gestanden habe. Was ein Unterschied dagegen meine jetzige Verfassung darstellt! Ich hing heute ungefähr dreimal über der Toilette und habe all die buschigen Pflaumenstückchen wiedergekäut. Mein Körper verdaut sie nicht. Das ist so eine Sache mit Pflaumenkuchen; man speist und speist und merkt gar nicht, dass man nichts mehr essen will. Die Auster hingegen blieb drinnen. Ich fühle wenig, sehr, sehr wenig. Ich mache einen Strandspaziergang.

Zurück. Unglaublich! Der Strand hat sich verändert. Ich bin bestürzt und muss meine Gedanken in Worte fassen. Obwohl der Himmel matt und grau verhangen war, stahl sich in jedes Sandkorn, jeden Tropfen Gischt, jede Facette eine Pracht, welche einen besseren Künstler als mich auf ewig zum Schweigen brächte. Meine Beine stolperten über die glasigen Dämpfe, unter denen zahllose Farbenspiele flammten. Tupfen, impressionistische Striche, schallende Kontraste erstreckten sich zu meinen Füßen, ein Reich der Sinnlichkeit, erblickt von einer SINNLOSIGKEIT. Ich bin zurückgerannt und habe den Mädchen verboten, zum Strand zu gehen. Sie sind nicht reif genug, um eine solche Pracht zu schauen. Gertrude ist aufgebracht, weil sie wissen will, was los ist. Ich führe sie an den Strand.

Hier bin ich. Jeder Absatz ist eine neue Welt. War ICH das, der schreibt? Ich glaube, die Welt steht Kopf. Cammy und Tat spielten am Baum, hatten ihren Drachen gut geschreddert verheddert. Die Hühner haben eine Leiter gebaut und wären fast in die Dünen gekracht. Pah! Gertrude wäre außer sich gewesen. Sie schläft –! Die Auster hat ihr gemundet. Ich glaube nicht, dass die Polizei kommt oder irgendwer. Was wäre die Welt ohne unerhörte Dinge! Der Drachen ist verloren. Um zu verstehen, dass niemand uns hier schreien hört, müssten wir zwanzig Meilen zur Telefonzelle. Nicht mit mir. Nicht mit mir. Nicht m

Ich habe keinen Schimmer, woher es ursprünglich kam. Ich habe es mich damals nicht gefragt und ich frage es mich heute nicht. Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Körper. Ich wache im Sand auf und realisiere, dass mir der Wind die Haare von den Armen und Beinen weht. Sie gehören mir nicht mehr. Mir ist heiß und schwül und die Kinder essen keinen Bissen. Catty und Tam springen um den Tanzbaum herum, der sie an roten Schnüren hält. Wir stammen allesamt aus Mutter Naturs Bauch, der ganze Hühnerstall, keine Wahl, das zu leugnen. Glaubt ihr mir nicht? Wenn ich fresse, ist das mein gutes Recht. Wen ich fresse

Gertrude nimmt die Kinder mit, ein neuer Morgen, der Strand ist voll von den Austern, Thanksgiving kann kommen. Werte Traditionen, alles viel Ge-

schrei ohne Bewandtnis. Was ist, wenn ich einen Fehler gemacht habe? Wir lesen jeden Abend unsere Tagebücher. Wer das Schönste hat? – Das ist Gertrude! Eine Frau mit Gespür für Poesie! Sie führt die Kinder auf blutroter Seide und ich muss an Cheruben einer Deckenmalerei denken, die um eine Wolke wimmeln. CAPRICCIO! Die Seidenstränge werden fester und ziehen sie näher an den Galgen. Neben den Drachen. Es ist noch nicht soweit. Ich vergesse zu schreiben, Zeit fließt, Gedanken auch, ich bin jemand anderes. Da ist das Haus, die Stühle, die Betten, das Pferd, das Geschirr, diese Blätter, die tropischen Wälder, der Nebel, das Fressen, Worte, Gedanken, Lichter, Ängste, Hoffnungen, Gläser und das, woraus Augen gemacht werden, und alles ist aus DEMSELBEN Material geschaffen. Ich weiß nicht, ob ich heute Nacht schlafen möchte.

Die Kinder schreien seit Mitternacht sie lachen seit dem Morgen sie schweigen seit Mittag. Sie verstehen nicht, aus welchem Stoff Albträume gemacht sind, und deswegen sind sie an den Strand geschickt worden. Warum bläst der wilde Westwind – thou breath of Autumn‘s being – den Geruch von Unzucht in mein Ohr, wenn ich doch weiß, dass ich ihn nicht mehr von meinem eigenen unterscheiden kann? Ich weiß, dass ein Fehler vorliegt ich weiß, dass die Welt voller Fehler ist und

ICH WEIß

Schluchzt ein schwarzgefleckter Tiger, könnte es nicht trauriger klingen als meine liebe Liebste. Zum Abend hin ist mein liebes Kind verstorben. Das Herz hat aufgehört zu schlagen. Ihr Gesicht war purpurn und die anderen VERÄNDERUNGEN zu viel. Ich spüre, wie sich die Organisation meiner Organe die ORGAN-isation verschiebt und dagegen wehre ich mich, ich bin zum Strand geschlichen, um nicht von den körperlosen Mäulern verhöhnt zu werden, ich habe am Strand erst einmal Elliot, den ich über alles verabscheue, Pound, den ich über alles fürchte, und ein eigenes Gedicht vorgetragen und ich weiß, dass mir Ruhm für jedes der Gedichte zusteht die Vereinigung

von Gedanken ist von der Verfasserschaft nicht genügend erwogen worden

Oooooooooooooooooooo ich habe ihnen stattdessen einen Schuh geopfert

Im Grunde ist nichts wirklich Schreckliches geschehen. Die Ferien sind noch nicht vorbei. Meine Frau liegt in den Wehen ich werde an ihnen sterben. Ich bezweifle, dass die Austern für uns gedacht waren. Jemand anderes hat sie weggeschmissen.

Impressionen eines Schundschreibers: Alles zerfließt zu Tinte. Die Tinte schimmert wie Öl. Ich kann keine Möbel mehr verrücken, weil sie festgewachsen sind mit der Szenerie festgewachsen sind. Der Leim in der Tapete schlägt Wellen. Es ist zu heiß geworden. Das Dröhnen raubt uns den Schlaf. Meine Frau ist wütend auf mich. Sie will von hier fort, aber sie kann sich nicht mehr vom Bett fortbewegen. Ich glaube, das Tödliche liegt in der Luft. Das alles ist die Verschwörung unserer Sinne. Ich habe keine Haare mehr. Ich kann sie nicht finden. Ich schlafe manchmal am Strand, manchmal bei ihr. Sie schreibt jetzt mit links. Am Morgen pflücke ich die Austern von meiner Haut. Es tut meinen Nerven nicht weh.

Wie ich aussehe: haarlos, aderndurchzogen, verschoben, purpurn, wohlgenährt haha, Augen Nasen Mund, weiche Knochen, dehnbare Haut, die Stirn eines Dichters! Meine Feuchtigkeit zieht sich nach innen zurück, auch die Haare wachsen nach innen, denn die Luft ist schwül und giftig. Ich weiß nicht, wohin das hier füh

Was frisst sich selber auf? Wenn ich etwas dermaßen Erhebendes sehe, scheint mir, viel Schönes bleibe unerkan unentdeckt schrecklich ist was absichtlich Fehler zeugt meine frau (gertrude die ich sehr liebe) liegt im bett fiebert zunge abgebissen krämpfe husten gesang bei ihr ist es am schlimmsten ich habe mir angewöhnt das Fenster zuzumachen denn

Wie es sich anfühlt ich zu sein:

An dieser Stelle mündeten die Seiten in der krummen Linie. Der Verfasser hatte sich die Mühe gemacht, die Linie sorgfältig über mehrere Blätter weiterzuführen und die Blätter im Anschluss bis zum Flur zu verteilen.

Der Lesende knüllte den Papierstapel zusammen und warf ihn in eine Ecke. Ihm kam eine letzte Idee – über das eigenlebige Tönen der Szenerie – und er wuchtete sich vom Stuhl. Die Schwingungen in der Luft erinnerten ihn an Oboen und Geigensaiten im unsinnigen Widerspiel mit Eddie Cantors Stimme, der klang wie die blecherne Stimme eines Propheten. Dies alles war subjektiv und doch intersubjektiv. Nach seiner Flucht benötigte er einen Beweis, ein Dokument – irgendetwas Stichhaltiges, das ihn an die Strapazen dieses Phänomens erinnern würde. Er kniff das linke Auge zu, welches feucht geworden war, als hätte ihm jemand Salz ins Gesicht gehaucht. Eine seiner Adern, eine derer, die sich durch seinen gesamten Leib zog, brannte. Seine Nerven sandten unter der atmosphärischen Last Notsignale. Weil alles vibrierte, lockerten sich seine Zähne, seine Nägel, aber noch fiel ihm nichts aus. Die Beine bleiern, der Schädel leer, die Finger zittrig, bückte er sich nach den zerknüllten Seiten in der Ecke und schreckte mit einem lautlosen Schrei zurück, sobald er spürte, dass die Ecke sie nicht länger hergab.

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
412 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783748522065
Редактор:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают