Читать книгу: «Zwielicht 12», страница 4

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Stroh schluckte hörbar. „Du hast sie gespielt, oder?“

„Richtig. Genau wie du! Es war ein tolles Gefühl, oder?“ Pascal musterte ihn abschätzend. „Besonders für einen Mann deines Alters.“

Martin schwieg. Seine Kiefer malten unter der Haut.

„War es geil?“, schrie Pascal ihn an und hämmerte auf den Tisch, sodass der Teller schepperte.

„Ja, verdammt!“

Zufrieden lehnte sich Pascal zurück und lächelte süffisant. „Na bitte.“

„Es war ein unglaubliches Gefühl“, stammelte er, „Aber der Preis ist zu hoch, Pascal. Du musst sie loswerden, bevor es zu spät ist.“

„So ist nun einmal das Geschäft. Er fordert seinen Tribut.“

Stroh blieb die Luft weg. „Es ist ein Fehler, sie zu spielen. Du musst damit aufhören!“

„Nein!“, spie ihm Pascal entgegen. Lili jammerte, als wären die Worte zusätzliche Nadelstiche. „Es ist das Beste, was mir jemals passieren konnte. Diese Macht, diese Stärke.“ Pascal ballte seine Hände zu Fäusten und betrachtete sie mit einem Lächeln. „Ich fühle mich vollkommen durch die Geige.“

„Sie saugt dich aus“, entgegnete Stroh, „bis du eine leere Hülle bist. Und dann … dann will Er mehr.“

Er braucht Seelen und Sie wollten sie ihm nicht beschaffen.“ Pascal hob eine Augenbraue. „Für Sie hat er einen Ehrenplatz in seinem Reich.“

„Ich musste es beenden! Versteh doch …“, flehte Stroh und Tränen traten aus seinen Augen.

„Ah, ah“, sagte Pascal kopfschüttelnd. „Die Zeit der Flucht ist vorüber.“

Er öffnete den Koffer und nahm die Geige heraus. Mit den Fingern glitt er über den blutroten Schriftzug.

L' mgepah'ehye h' l' vulgtmah vulgtmor.“

Schwer atmend betrachtete Stroh die Bewegungen. „Ich habe nie herausfinden können, was es bedeutet.“

Pascal schnaubte verächtlich. „Du warst eben nicht der Richtige. Es bedeutet: Auserwählt zu seinen Ehren … zu opfern.“

Ohne eine Reaktion abzuwarten, nahm Pascal die Geige und spielte. Er fixierte Martin mit gebleckten Zähnen. Die Musik tönte durch das gesamte Café. Jaulend klagten die Schreie der Verdammten. Stroh klammerte sich an dem Tisch fest, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Höre!“, jauchzte Pascal. „Das sind die Seelen, unter denen du wandeln wirst. Schöne Grüße an Osthoff und meinen Vater.“

Die Oberfläche des Tisches veränderte sich. Wabernd löste sich die Struktur des Holzes auf und ein schwarzer Abgrund tat sich auf. Zwei langgliedrige Pranken erschienen daraus und krallten sich an in den Rand. Eine packte den Kopf von Stroh, umschloss sein Gesicht und die Krallen bohrten sich in seine Kopfhaut. Blut trat aus den Wunden und lief über die Wange. Zu dem Chor der Seelen, den Pascal mit sichtlicher Befriedigung spielte, gesellte sich das Kreischen von Lili.

Stroh schrie vor Schmerz. Die Pranke glitt wieder zurück in den Tisch und zog den Mann, der sich vergeblich wehrte, mit sich. Fingernägel brachen. Stück für Stück wurde er hineingezogen, bis seine Füße zappelnd in dem Schlund verschwanden.

Pascal hörte auf zu spielen und der Abgrund löste sich auf, bis nur noch der Tisch zu sehen war. Zufrieden legte er die Geige in den Koffer, schloss ihn.

„Das war mein Lieblingsstück“, sagte Pascal und zwinkerte Lili zu. Er formte mit seinen Lippen ein O. „Du hängst da ja immer noch. Lass mich dir helfen.“ Er ruckelte an der Gabel. Lili jaulte vor Schmerzen. Pascal löste sie und Lili krümmte sich auf dem Boden. Zitternd betrachtete sie ihre verletzte Hand.

Pascal gabelte ein Stück Kuchen auf und hielt ihn Lili vor die Nase. „Möchtest du noch einen Happen, Lili? Es wäre doch zu Schade drum.“ Lili schüttelte nur den Kopf und kniff die Augen zusammen. Tränen liefen über ihre Wangen.

„Ein Jammer“, seufzte Pascal. „Dann hast du jetzt Feierabend.“ Er rammte ihr die Gabel samt Kuchenstück ins schreckensweite Auge, es platzte und er stieß sie ihr tief ins Gehirn.

Behutsam legte Pascal die Geige zurück in den Koffer und strich über den Korpus. Das Glöckchen an der Tür verabschiedete Pascal mit einem Klingeln.

Enzo Asui – Lilith

„Die Ursache? Dein missratenes Zungen-Tattoo.“

Ich atmete auf. Endlich eine klare, ungeschönte Ansage, auch wenn mir die inhaltliche Botschaft missfiel. Lobhudelnde Marketingmenschen, die mir auf der Jagd nach Verträgen Honig ums Maul schmierten, und schmachtende Groupies, die mich mit falschen Komplimenten ins Bett locken wollten, schwirrten mehr als genug um mich herum. Ich wollte eine ehrliche Diagnose von einem Menschen, dem ich vertraute.

Ich bekam sie.

„Beim Stechen hat der Tätowierer eine Farbsubstanz mit Parabenen verwandt, auf die dein Körper mit einer Entzündung im Mundraum reagierte“, fuhr Doc Holzmann ungerührt fort. „Trotzdem wäre nichts Gravierendes geschehen, hättest du dich an die Vorgaben des Verhaltensmerkblatts gehalten und in den Folgewochen auf Rauchen und Alkohol verzichtet. So hast du die fatale Infektion geradezu eingeladen, die letztlich zur Lähmung führte.“

Wie stehen meine Chancen auf Heilung? Werde ich wieder Harp spielen können?, tippte ich meine drängendsten Fragen ins Tablet, das notgedrungen zu meinem zentralen Kommunikationsinstrument geworden war.

„Der Nerv ist quasi zerfetzt, eine vollständige Regeneration schließe ich aus. Du wirst nach langem Training vielleicht wieder halbwegs verständlich sprechen können. Das war´s dann aber auch.“ Der Doc fixierte mich. „Was du zu tun hast, um das Mögliche herauszuholen, weißt du; die Therapie hat sich seit damals nicht geändert.“

Doc Holzmann schlug die abgegriffene Ledermappe auf, die er auf der rechten Seite seines Eichenschreibtisches platziert hatte. Immer noch dieselbe wir vor fünfzehn Jahren, erkannte ich. Die dargestellten Übungen hatten sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Als Zweitklässler hatte ich sie bis zum Erbrechen praktiziert, um die Störung des Gleichgewichts der Muskeln von Zunge und Mundraum zu beseitigen, die mich zu einem stammelnden Idioten degradiert hatte. Glossoplegie. Sperriges Fremdwort für mein traumatisches Kindheitsleiden. Nun holte es mich ein.

Damals hatte ich den Kampf gegen die Lähmung gewonnen. Und weit mehr als das. Nie werde ich den Moment vergessen, als mir der Doc zur Belohnung für die erzielten Fortschritte in diesem Zimmer meine erste Blues-Harp überreichte. Voller Stolz blies ich hinein, sog, tastete mit meiner befreiten Zunge die Löcher ab und badete genüsslich in den schrägen Tönen, die ich schon nach wenigen Sekunden erzeugen konnte. Für mich klangen sie wie eine Fanfare des Triumphs.

Dieser Moment legte den Grundstein für meine Verbindung mit der Harp. Kein Tag verging, an dem ich nicht mit ihr spielte. Meine Zunge wurde durch das tägliche Üben und die Mundraum-Akrobatik, die die verschiedenen Harp-Techniken wie Bending und Overblow erforderten, von meinem Schwachpunkt zu meinem geschmeidigsten und austrainiertesten Muskel.

Die Harp öffnete mir den Zugang zur Musik. „Ein Talent für dämonische Klänge“, attestierte mir Rita, die stadtbekannte Rockröhre und Gothic Bride, schon als sie mich das erste Mal im Friedhofspark hörte, wo sie im Sommer nachts gern flanierte und ich mich ab und an beim Üben austobte.

Rita war perfekt für mich. Sie lobte, tadelte, gab meinen musikalischen Gehversuchen ein Ziel und gründete mit mir schon nach wenigen Wochen die Death Rock Angels. Motiviert durch ihr Vertrauen sprengte ich alle Grenzen. Konsequent entriss ich die Harp dem Ghetto von Mundorgel und Blues-Schema und kreierte den mystery style. Ich ließ die Harp wimmern, kreischen und flehen, untermalt von Ritas kraftvollem Gesang, der Banalitäten wie Schlagzeug und Bass mühelos ersetzte. Wir schlugen ein wie eine Bombe. Schon unser erstes YouTube-Video erreichte sechsstellige Download-Zahlen, und binnen weniger Wochen hatten wir in der Szene eine hohe Popularität erreicht. Unaufhaltsam, so schien es uns, bahnten wir uns den Weg in die Spitze der Charts, und nun, gerade ein Jahr später, planten wir voller Vorfreude unsere erste große Tour.

Ein Weg, von dem wir abzurutschen drohten. Verendete unsere musikalische Karriere in dem Raum, in dem sie begann? In diesem logopädischen Behandlungszimmer? Musste ich, der Tongue Wizard, wieder Seifenblasen formen, Pusteblumen entblättern und Ansaugspielchen mit Zitronenlimonade und Strohhalm treiben, um wenigstens sprechen zu lernen? Für den Rest des Lebens auf das Harp-Spiel verzichten? Urplötzlich schwemmte Angst in mir hoch. Ich wollte allein sein. Wortlos erhob ich mich und wankte aus dem Behandlungszimmer.

Der verendende Novembertag tunkte das Teufelsmoor in neblige Feuchtigkeit. Ich bog auf den Trampelpfad zu dem abgelegenen Bauernhaus, das ich mit Rita zu Heim und Tonstudio umgebaut hatte. Adrenalin schwemmte durch meinen Körper. Meine Gedanken rasten schneller als ich laufen konnte. Rita hatte meinen Besuch bei Doc Holzmann genutzt, um bei Rudi, unserem Konzert-Guru, vorbeizuschauen und ihn über meinen Zustand zu informieren. Eigentlich sollte die Tour nächste Woche beginnen. Realistischerweise mussten wir sie wohl canceln, denn wer sollte meinen Part übernehmen? Kein Konzert würde ohne meine Harp funktionieren. Unsere Fans würden uns buchstäblich in der Luft zerreißen, würde ich schlecht spielen oder gar vollständig ausfallen.

In diesen düsteren Gedanken versunken näherte ich mich der Rotbuche, in deren Schatten ich früher so gerne einen Zwischenstopp eingelegt hatte. Ihr Wuchs erinnerte Rita an das Symbol von Lilith, der sumerischen Winddämonin, hatte sie mir einmal erzählt, und im Okkultismus kannte Rita sich aus wie keine zweite. Kerzengerade schraubte sich der Baum zehn Meter empor und spreizte seinen Stamm kurz vor dem Gipfel in zwei breite Äste mit dünnen Zweigen. Irgendwie wirkte das galgenähnliche Gewächs völlig deplatziert in dieser biederen niedersächsischen Landschaft.

Rita behauptete später, nicht ich hätte Lilith gefunden, sondern sie hätte mich gerufen. Mittlerweile glaube ich, dass sie recht hatte. Wie hätte ich den Handflächen breiten schwarzen Körper auch sehen können, tief unter Laub im Schatten der Rotbuche verborgen? Welche Eingebung hätte mich dazu bewegen können, mich zu bücken und die braunen Blätter zur Seite zu schieben? Ein Glitzern, ein Funkeln, eine Lichtreflexion konnte es nicht gewesen sein. Die tiefschwarze Außenhülle, die ich plötzlich in den Händen hielt, saugte jede Helligkeit auf, die die Dämmerung in Richtung des Bodens sandte.

Irritiert drehte ich das seltsame Ding. Federleicht und trotz seiner Starre auf seltsame Art geschmeidig schien es sich an meine Handballen zu schmiegen, als suchte es körperliche Nähe. Und warm fühlte es sich an. Die Form erinnerte mich frappierend an eine Blues-Harp, mit Kanälen auf der einen und zwei parallelen Schlitzen auf der anderen Seite. Wobei die Kanäle nicht aus Rechtecken bestanden wie bei allen Harps, die ich kannte, sondern aus diversen geometrischen Formen. An den Rändern erkannte ich Kreise, dann folgten nach innen Ellipsen, Dreiecke und Rechtecke und in der Mitte zwei Oktagone wie die Krönung einer logischen geometrischen Reihe.

Hielt ich eine skurrile Laune der Natur in der Hand? Das spielerische Schnitzwerk eines gelangweilten Hobby-Handwerkers? Eine experimentelle Harp, einen musikalischen Erlkönig, der den Praxistest nicht bestanden hatte und von seinem Konstrukteur hier am Wegesrand entsorgt worden war? Es bestand aus organischem Material, dessen war ich mir sicher, allerdings aus keiner Holzart, die ich kannte, und ich vermochte kein Metall auszumachen, keine Nieten und keine Schrauben, die Einzelteile miteinander verbanden. Wenn es eine Harp war, wie hätten Kanzellenkörper, Stimmplatten, Stimmzungen und Deckel den Weg ins Innere finden können? Woher bezog es seine Wärme? Warum fühlte es sich trotz seiner festen Hülle so geschmeidig an, fast so als ob es … lebte?

Meine Neugier war geweckt, und außerdem konnte ich Ablenkung gebrauchen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, versuchsweise hineinzublasen, doch da ich nicht wusste, welche heimtückischen Mikroorganismen sich im Inneren dieses Gebildes angesiedelt haben mochten, beschloss ich, es mitzunehmen und zu säubern, bevor ich es an meine Lippen setzte.

Rita würde erst am Folgetag zurückkehren, und so blieb mir der komplette Abend, mich mit meinem Fund zu beschäftigen. Ich beschloss, ihn als Harp zu behandeln und zu taufen, wie ich es mit allen meinen Instrumenten tat.

Welche Bezeichnung würde passen? Ich dachte an den Fundort, an Ritas Assoziation des Baumes mit der sumerischen Winddämonin, und die Entscheidung war gefallen. So schenkte ich Lilith ihren Namen.

Mit einer Flasche schottischen Whiskys in der einen und meiner frischbenannten Lilith in der anderen Hand begab ich mich auf mein Zimmer und bereitete die rituelle Reinigung vor, die ich allen meinen Harps angedeihen ließ, bevor ich mit ihnen übte. Vorsichtig füllte ich den kleinen historischen Kristallkelch mit der Keilschrift, den uns unser Label anlässlich unserer ersten Platin-Auszeichnung geschenkt hatte, zu einem Drittel mit der goldbraunen Flüssigkeit und legte Lilith hinein. Wie erwartet schwamm der leichte Körper auf dem hochprozentigen Alkohol. Immer wieder an der Flasche mit dem Restalkohol nippend setzte ich mich in meinen Ergo-Sessel und beobachtete Lilith wie einen Goldfisch in einem Aquarium.

Ich langte ordentlich zu. Als ich die Flasche zu zwei Dritteln geleert hatte, zeigte der Alkohol die erhoffte Wirkung. Mir war so ziemlich alles egal, und ich konnte meinen Sinnen nicht mehr trauen. Üblicherweise suchten mich in diesen Momenten Ideen heim, Visionen von Klangbildern, die ich oft genug in Stücke für die Angels umzusetzen vermochte.

Dieses Mal musste ich auf eine derartige Inspiration verzichten und mit banaleren Sinneseindrücken vorlieb nehmen. Langsam begann sich das Zimmer zu drehen. Das kannte ich. Neu war, dass sich auch Lilith aktiv in ihrem Glas bewegte, irgendwie rhythmisch, auf seltsame Art geschmeidig, verführerisch wie ein Frauenkörper. Dann sank sie nieder, gemeinsam mit dem Whisky-Pegel. Interessiert beugte ich mich vor. Wohin verschwand der Alkohol? Absorbierte, inhalierte, trank sie das Zeug? Wenn ja, vollbrachte sie dies in einem bewundernswerten Tempo. Nach wenigen Sekunden lag Lilith auf dem Boden, umrahmt nur von einer winzigen Pfütze in der Rille am Rand, die sie mit ihrem Korpus nicht erreichte.

Wenn sie Durst hat, kann ich sie nicht leiden lassen, dachte ich mitfühlend und füllte nach. Wieder senkte sich der Flüssigkeitspegel, doch diese Mal stagnierte er, bevor Lilith den Boden erreichte. Jetzt hat sie wohl genug, erkannte ich amüsiert und hob sie vorsichtig aus dem Glas. Lilith fühlte sich erstaunlich trocken an, schoss es durch mein beschwingtes Hirn, und ihre zehn Öffnungen glitzerten verführerisch wie Ritas Lippen in einer Vollmondnacht. Vorsichtig klopfte ich den Korpus aus. Kein Tropfen fiel auf den hellbraunen Parkettboden. Ich hatte es aufgegeben, mich zu wundern, und führte Lilith an meinen Mund.

Nun wurde es ernst. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, trotz meiner Trunkenheit und der gelähmten Zunge einen wahrnehmbaren Luftzug in Lilith zu befördern. Was konnte mein geschwächter Mundraum leisten? Welche Antwort würde mir der schwarze Korpus geben? Verbarg sich wirklich eine Harp in meinem seltsamen Fund?

Ich wollte blasen und hielt doch inne. Mir war, als tasteten kleine Zungen durch meinen Rachen, schlichen die Innenseite meiner Wange entlang, tänzelten über meine Zungenspitze. Dort hatte ich seit dem verhängnisvollen Tattoo nichts mehr gespürt, dachte ich verwundert. Es fühlte sich gut an. Ich ließ geschehen, was immer Lilith gerade mit mir anstellte. Schauer auf Schauer lief durch meinen Körper, als sich der aufgestaute Druck in meinem Mund löste. Mehr und mehr entspannte ich mich, als eine halb zärtliche, halb fordernde Kraft langsam aber stetig die Fesseln der Lähmung lockerte.

Dann, ohne dass ich mir einer Aktion meinerseits bewusst war, hörte ich die ersten Töne. Hatte ich sie erzeugt, instinktiv in Lilith hineingeblasen, oder raubte sie mir den Atem ohne mein Zutun aus meiner Lunge? Eine sprunghafte Melodie füllte den Raum, einer Struktur folgend, die selbst ich nicht kannte. Nicht europäisch, nicht afrikanisch, nicht asiatisch und doch seltsam vertraut. Mein Rachen reagierte. Wie ein Irrwisch tanzte meine Zungenspitze über Liliths Öffnungen und produzierte Tonsprünge in Umfang und Tempo, die ich mir auch vor der Lähmung niemals zugetraut hätte. Nahtlos folgte das nächste Stück, noch melancholischer, noch düsterer als sein Vorgänger.

Spielte ich mit Lilith?

Spielte Lilith mit mir?

Die Rhythmen und Melodien, die wir erzeugten, zogen mich in ihren Bann. Wir agierten ohne Pause, spielten erst Liliths Stücke, dann das ganze Repertoire der Angels. Wir variierten. Wir veredelten.

Irgendwann, es muss weit nach Mitternacht gewesen sein, versank ich in einen schweren, traumlosen Schlaf.

„Hast du die ganz allein ausgetrunken?“ Ich riss die Augen auf. Rita, die mich mit dieser Frage geweckt hatte, deutete auf die geleerte Whiskyflasche.

Ich zuckte mit den Schultern. Meine Erinnerung an meine Session mit Lilith und mein kaum vorhandener Kopfschmerz sprachen dagegen. Aber konnte das, was ich erlebt zu haben glaubte, Realität gewesen sein? Mühsam versuchte ich, mich zu orientieren. Ich lag im Sessel in meinem Zimmer, fühlte Taubheit in meinem Mund und hielt ein schwarzes, harpähnliches Etwas in der Hand. Zumindest das passte. Was hatte ich geträumt? Was war wirklich geschehen? Wenn mir jemand bei der Deutung meiner Erinnerungen helfen konnte, dann Rita, die mich besser kannte als den Inhalt ihrer Handtasche.

Eine Stunde später, bei Marmeladentoast und einem Becher Espresso, hatte ich ihr via Tablet alles mitgeteilt, an das ich mich zu erinnern glaubte. Belustigt blickte Rita auf meinen Fund. „Sieht wirklich skurril aus, das Teil. Und Kompliment für deinen wilden Traum; so etwas hätte ich auch gerne. Hast du das Ding wirklich nach der sumerischen Winddämonin benannt?“ Ich nickte.

Rita wurde ernst. „Mit deiner geheimnisvollen Lilith können wir uns später noch beschäftigen, Anderes ist wichtiger. Deine Diagnose tut mir sehr leid; hoffentlich wird es nicht so schlimm wie es jetzt aussieht. Wenn Doc Holzmann recht hat und die Zunge mindestens bis auf weiteres gelähmt bleibt, müssen wir so schnell wie möglich die Tour absagen. Rudi habe ich gestern schon über dieses Szenario informiert. Der bekommt das hin, hat aber darauf hingewiesen, dass die Absage eine Menge Geld kosten und unseren Ruf ramponieren würde. Du bist dir sicher, dass du nicht spielen kannst?“

Die Taubheit in meinem Mund gab eine eindeutige Antwort. Ich schwöre, ich wollte nicken. Was veranlasste mich dazu, den Kopf zu schütteln? Zu Lilith zu greifen und sie an meine Lippen zu setzen? Voller Vorfreude, fast begierig den Mund zu öffnen? Warum war ich nicht überrascht, als ich wieder kleine, zungenähnliche Glieder in meinen Mund hineinkriechen fühlte, die Rachen und Zunge betasteten, massierten und binnen weniger Sekunden die Lähmung beseitigten?

Dieses Mal beeinträchtigte kein üppiger Alkoholkonsum meine Wahrnehmung. Dieses Mal erkannte ich ungefiltert, dass ich nicht aktiv blies und sog, sondern dass mir Lilith meinen Atem stahl und in ihren Körper führte.

Wieder spielte Lilith ihr Spiel, molllastig, düster und sprunghaft. Wieder glitten wir in das Repertoire der Angels über. Was mit mir geschah war ein Traum für jeden Musiker. Ich musste nur an einen Ton, einen Lauf, einen Akkord denken, und Lilith lenkte meinen Atem und führte meine Zunge. Sie setzte meine musikalischen Ideen besser um als ich es je zuvor vermocht hatte.

Als ich Lilith absetzte, Stunden später, wie mir schien, euphorisiert, fast ekstatisch, durchzuckte mich die Erkenntnis, dass dieses Zusammenspiel ein Geschenk, eine Offenbarung war. Was hatte es für eine Bedeutung, dass meine Zunge wieder in den gelähmten Zustand verfiel?

Ich hatte ein Wunder erlebt. Ich sah ein noch größeres. Rita bekam vor Erstaunen den Mund nicht zu.

Unsere Tournee übertraf alle unsere Erwartungen. Rudi, geschäftstüchtig wie eh und je, machte aus der Not meiner Stummheit eine Tugend und verpasste mir, dem früher so geschwätzigen Tongue Wizard, das Alter Ego des Silent Horns. Rita bewältigte ihre neue Aufgabe, sämtliche Interviews alleine zu führen, mit der ihr eigenen Souveränität. Den Vogel schossen wir aber ab, wenn wir Lilith am Ende unserer Drei-Stunden-Auftritte die verdiente Belohnung zukommen ließen und ihr ein hochprozentiges Whisky-Bad im Kelch gönnten. Fassungslos registrierte das Publikum, wie der Alkohol aus dem Gefäß verschwand. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer besuchten unsere Auftritte auch deshalb, um dem vermeintlichen Trick auf die Schliche zu kommen. Wir gewannen etliche Wetten gegen professionelle Illusionisten, die sich der Entschlüsselung eines banalen Zaubertricks auf der Spur wähnten und dann klein beigeben mussten. Eine genusssüchtige und durstige Harp lag definitiv außerhalb ihres Erfahrungsschatzes und Vorstellungsvermögens.

Musikalisch versetzten Liliths Stücke die Fachwelt in Erstaunen. Noch nie hatte die Welt eine solche Vielzahl miteinander verwobener Töne aus einer Harp gehört, filigrane Läufe, unterbrochen von protzigen Akkorden, die den Klangteppich veredelten, den Ritas Röhre uns bereitete. Selbst die größten musikalischen Theoretiker scheiterten daran, Liliths Spiel zu entschlüsseln.

Zur Halbzeit der Tournee mussten wir aus den vorgesehenen Hallen in die Stadien ausweichen, um die Nachfrage auch nur ansatzweise befriedigen zu können. Die Verbindung von Lilith und mir war magisch und wurde immer enger. Und problematischer. Mehr und mehr dominierten Liliths Stücke unser Programm, und auch zwischen den Konzerten ertappte ich mich immer öfter dabei, wie schwer es mir fiel, Lilith aus der Hand zu legen. Zu verlockend war der Gedanke, sie an meine Lippen zu führen und darauf zu warten, dass sie meine gelähmte Zunge massierte und deren Spitze Sekunden später über ihre Kanäle tanzen ließ.

Mein fast erotisches Verhältnis zu Lilith entging natürlich auch Rita nicht. Ich konnte erkennen, wie in ihr Eifersucht wuchs. Ich wollte Rita nicht verletzen, doch Lilith lockte. Wie hätte ich auch Distanz zu Lilith aufbauen können, wenn wir jeden Abend auf der Bühne orale Auftritte zelebrierten, die an Intimität kaum zu überbieten waren?

Es kam, was kommen musste: Während das Publikum immer ekstatischer auf uns reagierte, sank die Stimmung zwischen Rita und mir. Unsere Kontakte abseits der Bühne reduzierten sich auf das Notwendigste, und Routine knabberte an der selbstverständlichen und doch so innigen Verbindung, die uns vor der Tournee ausgezeichnet hatte. Bis Rita es nicht mehr aushielt und auf den Punkt brachte. „Dein Verhältnis zu Lilith ist nicht normal. Du bist ihr ja richtig verfallen!“ sprach sie am Vorabend unseres Abschlusskonzertes nüchtern aus. „Das ist auf Dauer nicht gut, weder für dich noch für unsere Beziehung. Du musst dich entscheiden.“

Instinktiv wollte ich aufbrausen, doch abgesehen davon, dass mir dafür die sprachlichen Möglichkeiten abhandengekommen waren, fehlten mir die Argumente. Ich wusste, Rita hatte recht.

Ich horchte in mich hinein. Mit Rita bildete ich eine Einheit, verlässlich, vertrauensvoll, und wir teilten weit mehr als die Liebe zur Musik. Lilith aber versetzte mich Abend für Abend in Ekstase.

Wie hätte ich zögern können? Ich traf meine Entscheidung.

Unser Abschlusskonzert im Seestadion litt unter Windböen, die kein Meteorologe prognostiziert hatte. Mützen und Schals flogen fast in Schwärmen durch die Luft und machten den Möwen Konkurrenz, die den ungewöhnlichen Menschenauflauf in großer Höhe umkreisten. Seltsam, dachte ich, all dieser Wind und kein Regen, aber vielleicht war das die Art, wie eine Winddämonin einen letzten Auftritt beging.

Musikalisch war das letzte Konzert das beste der gesamten Tournee. Vom ersten Ton an schlugen wir das Publikum in unseren Bann. Rita röhrte wie eine nordische Donnergöttin, und Lilith und ich spielten wie in Trance. Besonders Lilith wuchs über sich hinaus. Es war, als sog sie den Wind auf, der über die Bühne fegte. Lilith wimmerte, jubelte, schrie und wisperte wie ich es noch nie von einem Instrument oder einem menschlichen Wesen gehört hatte. Unsere Proben, unsere bisherigen Konzerte schienen nur ein dilettantisches Vorgeplänkel für diesen Abend gewesen zu sein.

Wir gaben alles, saugten uns aus, bis ich schweißgebadet zwischen Monitor und Bassbox taumelte und selbst Liliths Töne an Dynamik verloren. Auch die magischste Nacht musste einmal zu Ende gehen, dachte ich und gönnte Lilith ein letztes Highlight. Mit einem gebeugten, klagenden Jaulton, drei Minuten eingesogen auf dem fünften Kanal, ließen wir die letzte Zugabe verebben. Schweißverklebt standen Rita, Lilith und ich Hand in Hand auf der Bühne und badeten in den nicht enden wollenden Ovationen. Zum krönenden Abschluss, als vollführte ein Priester eine zeremonielle Opferung, senkte ich Lilith in den Kelch mit der goldbraunen Flüssigkeit.

Ob Lilith gespürt hatte, dass dieses Mal nicht Whisky auf sie wartete? Verfügte sie über Instinkt? Geruchssinn? Warnte sie eine höhere Macht? Eine Ausdünstung von mir? Sie schien sich in meiner Hand zu winden, fuhr kleine rote Zungen, Insektenbeinen gleich, aus ihren Kanälen und setzte dazu an, an meinem Unterarm hochzuklettern. Erschrocken, aber auch entschlossen warf ich sie in die Flüssigkeit, der sie zu entrinnen versuchte. Ihr Schrei, der durch das Stadion gellte, übertönte mühelos den Donner, der unvermittelt losgrollte. Lilith krümmte sich im Kelch wie ein in ein Feuer gehaltenes Lebewesen. Ich sah, wie ihr Körper zu dampfen begann, als sich die konzentrierte Salzsäure, die ich anstatt des Whiskys in den Kelch gefüllt hatten, in Richtung von Liliths Mitte arbeitete und ihre Kanäle Loch für Loch zerfraß.

Es ist vorbei, dachte ich halb erleichtert, halb enttäuscht. Wie hatte ich mich geirrt! Als Liliths Ende nur noch eine Frage von Sekunden zu sein schien, schoss ein Blitz aus dem Himmel, mitten in den Kelch hinein. Das Kristallgefäß zerbarst. Ein zweiter Blitz schlug in Ritas Leib ein, so schnell, dass sie nicht einmal schreien konnte. Ihr zerfetztes Gewebe überzog mich mit einem Gemisch aus Blut und einem gewaltigen bläulichen Funkenregen, der meinen Körper zucken und mich in eine barmherzige Ohnmacht sinken ließ.

„Seit sechs Monaten im Koma“, murmelte Doc Holzmann beim Verlassen des Raumes. Ich vermutete, er schüttelte verständnislos den Kopf; sehen konnte ich es nicht. „Vor zwei Monaten haben wir alle lebenserhaltenden Geräte abgeklemmt. Ohne Nahrung, ohne Abscheiden von Körperflüssigkeiten. Und dennoch lebt er weiter …“

Wie konnte er das leben nennen? Ich konnte nicht gehen. Nicht riechen. Noch nicht einmal mit den Augenlidern zucken. War gefangen in einem vollständig gelähmten Leib. Nur das Gehör hatte Lilith mir gelassen. Und ihren Korpus, den der Doc Minuten zuvor in die Nähe der Entlüftungsanlage gelegt hatte. „Ich platziere sie neben Ritas Bild. Vielleicht spürst du irgendwie die Anwesenheit deiner Wunder-Harp; vielleicht hilft dir ihre Nähe, aus deinem Zustand zu erwachen“, hatte er gesagt

Was hätte ich dafür gegeben, wieder meine Augen nutzen zu können. Ein anderes Bild als letzte Erinnerung zu haben als die beiden Kanäle von Lilith, die mein heimtückisches Säureattentat überlebt hatten. Die Oktagone. Kanal Fünf und Kanal Sechs. Als ich auf der Bühne das Bewusstsein verloren hatte, überschüttet von Ritas zerberstendem Körper, hatten mich die schwarzen Löcher angestarrt wie die vorwurfsvollen Augen einer betrogenen Frau, wie der Inbegriff enttäuschter Liebe.

Waren wir uns jemals näher, Lilith und ich? Früher teilten wir die Musik. Jetzt das Los von Betrug und Verkrüppelung.

Töne erklangen. Kaum hörbar, sanft, aber dennoch eindringlich. Wahrscheinlich die einzigen, die Lilith mit den beiden Oktagonen und dem winzigen Luftzug aus der Entlüftungsanlage spielen konnte. Klagend. Eine Melodie, die ich so gut kannte wie keine zweite.

Wieder und wieder hatte ich diese Passage als Kind geübt, um mir das Bending beizubringen, das Beugen eines gezogenen Tons um einen Halbton durch Senken der Zunge im Mundraum.

Kanal Sechs ziehen. Kanal Fünf ziehen. Kanal Sechs ziehen mit Bending des Tons. Kanal Sechs ziehen.

Hätte ich meine Ohren nur schließen können. Die ganze Nacht spielte sie diese Melodie. Immer nur diese.

Die prägnanten zwei Takte aus dem Lied vom Tod.

Ich wollte ja gerne. Doch Lilith ließ mich nicht sterben.

Wie viele Jahre seit jenem Tag vergingen, weiß ich nicht. Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren. Irgendjemand hat mir irgendwann erzählt, Doc Holzmann und Rudi seien verstorben. Ich hörte die Worte, doch sie weckten keine Emotionen mehr in mir. Seither hat mich niemand mehr besucht, und ich vegetiere wie in einer fensterlosen Abstellkammer vor mich hin.

Können sie sich vorstellen, wie das ist, bewegungsunfähig und eingekerkert im eigenen Körper, und immer nur vier Töne zu hören? Ausgerechnet diese vier Töne?

Lilith. Oh wie ich sie hasse.

Oh wie ich sie liebe.

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