Читать книгу: «Die Farbe der guten Geister», страница 4

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Bisher wussten seine Eltern nichts von ihrer mysteriösen Krankheit. Und das war auch gut so. Tilda hatte Ludwig von Anfang an darum gebeten, ihnen nichts darüber zu erzählen. Seine Eltern hatten in München einen recht großen Freundeskreis, dem auch diverse Ärzte angehörten. Ludwigs Eltern umgaben sich gern mit Ärzten. Wahrscheinlich fühlten sie sich dadurch aufgewertet. Sein Vater war vor seinem Ruhestand Pharmavertreter gewesen und er hatte augenscheinlich richtig gut dabei verdient. So viel, dass Ludwigs Mutter nie arbeiten gehen musste. Tilda konnte sich schon vorstellen, wie sie schlimmstenfalls in München von einem der befreundeten Ärzte zum nächsten weitergereicht werden würde, sobald Ludwigs Eltern von ihrer Krankheit erfahren hatten. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Sie wollte nicht nach München. Nicht jetzt und nicht später und noch nicht einmal zu Besuch. Ganz davon abgesehen konnte sie sich auch nicht vorstellen, in ihrem derzeitigen Zustand zu verreisen. Aber wie sollte sie das Ludwig beibringen? Und wie brachte er das wiederum seinen Eltern bei?

Nachdenklich ging sie zum Fenster und sah hinunter auf die hellgrünen Baumkronen, die sie entlang der Wentorfer Straße von oben sehen konnte. Sie blickte auf die Dächer der vorbeifahrenden Autos, von denen einige bereits das Licht eingeschaltet hatten. Sie sah auf die Köpfe der dahineilenden Passanten. Weiter vorn, die Straße hinunter, wurde gerade ein LKW polternd mit Bauschutt beladen. Eine zementgraue Staubwolke erhob sich und zog die Straße entlang. Tilda schloss schnell das Fenster. Sie war schwermütig, fühlte sich unsicher. Obwohl es ihr in diesem Moment gut ging, war es doch möglich, dass sich ihre Krankheit in Kürze wieder verschlimmerte. Ihr Urvertrauen, dass irgendwie im Leben alles wieder gut werden würde, war inzwischen angeschlagen. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals zuvor so hilflos gefühlt zu haben. Sie nahm sich einen Schokoladenriegel aus der Packung, die Ludwig auf dem Tisch im Wohnzimmer liegen lassen hatte. Einen Moment lang hielt sie ihn zwischen den Fingern und legte ihn dann doch zurück. Die Übelkeit überkam sie erneut und plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr.

An diesem Abend ging sie früh zu Bett, konnte jedoch lange keinen Schlaf finden. Die Gedanken an den nächsten Tag belasteten sie. Es würde vermutlich der Tag der Wahrheit werden. Ihr Termin zum MRT stand fest. Sie hatte ihn bestimmt nur deshalb so schnell bekommen, weil Dr. Umlauf vermutlich einen schlimmen Verdacht hatte. Zumindest lag das nahe. Der Arzt hatte sich auf dem Überweisungsschein in handschriftlichen Hieroglyphen wohl auch dazu ausgelassen. Leider war seine Schrift für Tilda unlesbar und sie scheute sich davor, Ludwig zu fragen, ob er die undeutlich hin gekritzelten Worte entziffern konnte. Es würde sich schon zeigen, was mit ihrer Gesundheit nicht stimmte. Tilda fühlte, wie sich alles in ihr zusammenzog und erneut diese merkwürdige Kälte durch sie hindurchströmte. Sie drehte sich zur Seite und schloss fest die Augen. Sie wünschte sich nichts mehr, als sofort fest einzuschlafen und einfach am nächsten Morgen zu erwachen und zu erkennen, dass alles nur einen bösen Traum gewesen war.

Irgendwann hörte sie im Halbschlaf, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und Ludwig nach Hause kam. Dann schlief sie wieder fest ein. Im Laufe der Nacht erwachte sie mehrmals durch eine schreckliche innere Unruhe. Es war bereits nach Mitternacht, als wie wieder einmal auf das Zifferblatt ihres Weckers schaute. Der Tag der Untersuchung war also schon angebrochen. Tilda lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit des Zimmers. Sie hatte keine Chance, auch nur für einen Moment wieder einzuschlafen. Die Angst hockte auf ihrer Decke. Ihr blondes Haar klebte ihr schweißnass am Kopf. Sie war durchgeschwitzt, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Sie hoffte, dass das nur Symptome ihrer Angst waren und keine Zeichen ihrer Krankheit. Sie war in jedem Falle tief beunruhigt. Stumm fragte sie sich, wo eigentlich ihr Leben geblieben war. Ihr schönes, friedliches, entspanntes Leben, das sie bisher immer so selbstverständlich hingenommen hatte. Ihre Augen brannten im Dunkeln. Ihre Lippen und ihr Hals waren trocken. Das Schlucken fiel ihr schwer. Es war, als wenn ein Stöpsel in ihrer Kehle steckte. Auf ihrer Zunge lag ein bitterer Geschmack. Sie fühlte etwas Schreckliches auf sich zukommen, ohne beschreiben zu können, was es war. Ihre Hände lagen zu beiden Seiten ihres Körpers und hielten krampfhaft das Laken fest. Tilda hätte schreien können vor Angst. Sie versuchte, kontrolliert zu atmen, um die Panik zu überwinden, die sich an sie geheftet hatte wie ein schwerer Stein an einen Ertrinkenden. Am Schlimmsten war die Angst vor der Ungewissheit, die sie Stunde für Stunde aus riesigen schwarzen Augen anstarrte und sie nicht wieder einschlafen ließ. Diese Ungewissheit war schlimmer, als alles, was sie bisher kannte. Sie war absolut unerträglich. Möglicherweise war das ihr Instinkt, der eine schlimme Krankheit anzeigte. Oder hatte sie sich da bloß in etwas hineingesteigert?

Eine endlos lang erscheinende Zeit rang Tilda so um ihre Fassung. Irgendwann stand sie auf und ging ins Wohnzimmer, ins Bad, ins Wohnzimmer zurück und wieder ins Bad. Sie wusch sich ihr Gesicht und die Unterarme mit kaltem Wasser. Das half ihr ein wenig, sich abzulenken und für kurze Zeit an etwas anderes zu denken. Nach einer knappen Stunde fühlte sie sich ein wenig ruhiger. Sie schlich ins Schlafzimmer zurück und legte sich leise wieder neben Ludwig. Sie wollte ihn nicht stören. Was hätte er auch für sie tun können? Sie hätte ihm ihre Angst nicht erklären können. Es gab bisher auch gar keinen vernünftigen Grund dafür. Ludwig hätte das nicht verstanden. Sie kannte ihn lange genug, um das zu wissen. „Wegen ungelegter Eier braucht man sich nicht fertig zu machen.“, pflegte er bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen. Tilda kannte seine Sprüche. Sie wollte sie nicht hören.

Nach wie vor waberte in ihrem Kopf ein Gedankenknäuel umher, von dem sie sich bis zum Morgengrauen nicht frei machen konnte. Alle Menschen um sie herum schienen zu atmen und zu leben, gingen zur Arbeit und wieder nach Hause. Sie hatten ihre Familien, ihre Sorgen und Nöte und natürlich auch ihre Freuden. Alle um sie herum schienen gesund zu sein. Die ganze Welt schien voller gesunder Menschen zu sein. Nur bei ihr stimmte etwas nicht. Während Hamburg pulsierte und voller Leben war, lag sie von Panik gequält in der Dunkelheit. Sie wollte doch eigentlich überhaupt nichts mit dem Krankenhaus zu tun haben! Sie wollte noch nie etwas mit Krankenhäusern zu tun haben! Sie wollte die Menschen dort nicht treffen. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. In diesem Moment wünschte sie sich weit weg in ein anderes Leben. Doch all das brachte sie nicht weiter. Sie würde in ein paar Stunden genau dort hingehen müssen, wo sie nicht hin wollte: ins Krankenhaus. Tilda erschien das wie der Weg zum Schafott.

Immer noch lag sie mit weit geöffneten Augen in der Dunkelheit und starrte vor sich hin, ohne etwas Genaues dabei sehen zu können. Nur der mitleidlose Wecker neben ihr tickte leise. Tilda sah erneut auf sein Zifferblatt. Es war erst 4.00 Uhr morgens. Viel zu früh, um aufzustehen. Die Zeit tropfte so langsam wie zäher Honig von einem Löffel herab. Erst in zwei Stunden wollte sie aufstehen. Tilda presste die Lider zusammen. Sie nahm sich ganz fest vor, bis dahin über nichts Schreckliches mehr nachzudenken. Ganz still lag sie so und fühlte sich wie erstarrt. Es war ein Gefühl, für das es keine Worte gab.

Unten auf der Straße fuhren zwei Autos vorbei. Autotüren wurden zugeschlagen. Für manche Anwohner der Straße begann offenbar schon der Tag. Tilda drehte sich um. An Schlaf war an diesem frühen Morgen nicht mehr zu denken.

KAPITEL 2

Der Morgen kam unweigerlich und hüllte die Stadt in ein fahles Licht. Tilda hatte den Wecker ausgeschaltet, als sie weit vor der Zeit aufgestanden war. Sie konnte nicht länger im Bett bleiben. Ihr Körper schmerzte. Beim Frühstück mit Ludwig blieb sie einsilbig. Er bemerkte es entweder nicht oder er ignorierte es. Er verhielt sich an diesem Morgen genau wie immer. Tilda war sich nicht sicher, ob er sich wirklich keine Sorgen machte oder ob er nur so tat, als ob er sich keine machen würde. Vielleicht hatte er auch einfach nicht mehr daran gedacht, dass sie ihren Termin beim MRT hatte. Möglich war das auch. Ludwig war zwar sehr sensibel, allerdings gewöhnlich nur dann, wenn es um ihn selbst ging. Im täglichen Miteinander hatte Tilda sich im Laufe der Zeit schon fast daran gewöhnt. Es war ihr anfangs nicht leicht gefallen, aber nach den Jahren war sie bis zu diesem Zeitpunkt recht sicher gewesen, dass es ihr inzwischen nichts mehr ausmachte. Doch an Tagen wie diesem verletzte es sie viel mehr, als sie erwartet hatte. Sie fühlte sich hilflos und verlassen und ohne jeden Beistand. Mehrmals waren ihr an diesem Morgen schon die Tränen in die Augen geschossen, als sie sich dessen bewusst geworden war. Dann war sie schnell aus dem Zimmer gegangen. Sie hatte sich allein und ausgeliefert gefühlt. Aber sie wollte Ludwig keine Erklärungen geben müssen. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Was hätte sie ihm vorwerfen können? Hätte sie ihm sagen sollen, dass sie der Ansicht war, er wäre emotional unterbelichtet und würde keinen Anteil an ihren Ängsten nehmen? Er hätte sie ganz sicher nicht verstanden. Für ihn war seine Gefühlswelt vollkommen in Ordnung. Er kannte schließlich keine andere. Wenn er bestimmte Gefühle nicht hatte, dann war das eine Tatsache, an der nicht zu rütteln war. Wenn sich Tilda bei ihm darüber beschweren würde, dann würde er sich sicher so fühlen, als würde sie von ihm verlangen, chinesisch mit ihr zu sprechen. Ludwig sprach aber kein chinesisch.

Ziemlich wahrscheinlich war, dass er nicht an ihren Termin gedacht hatte. Tilda fühlte sich elend und kämpfte immer noch still mit den Tränen. Sie ging hinaus ins Badezimmer und wusch sich ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Sie wollte nicht verheult aussehen. Das brachte ihr ein wenig Erleichterung, die aber leider nicht lange anhielt.

Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass Ludwig ihren Termin keineswegs vergessen hatte. Er brachte sie sogar mit dem Auto hin. Auf dem Weg ins Stadtbauamt setzte er Tilda vor der Klinik ab. Inzwischen hatte es zu nieseln begonnen. Der Himmel war eingetrübt. Trotzdem roch es überall nach frischer Erde und nach Frühling. Unter anderen Umständen hätte Tilda diesen Geruch sicher großartig gefunden. Jetzt empfand sie ihn nur noch als unangenehm. Er wirkte auf sie schwer und bedrohlich wie den Geruch der Pflanzen und der Erde auf einem Friedhof. Tildas Stimmung war auf dem Tiefpunkt angekommen, als sie vor der Klinik aus dem Auto stieg. Sie hatte Angst.

Ludwig war hinter dem Steuer sitzengeblieben. Er hatte es eilig, wollte weiter zur Arbeit. Er gab ihr den vertrauten Kuss auf die linke Wange und sagte mit flachem Optimismus: „Viel Glück, Schatz! Wird schon nicht so schlimm sein!“ Tilda sah ihn an, ohne ein Wort hervor zu bringen. Sie hob nur hilflos ihre Schultern, bevor sie schließlich sagte: „Naja, Luddi, irgendwas wird schon sein. Sonst hätte ich nicht so schnell den Termin bekommen…. Befürchte ich zumindest…..“ Tildas Stimme klang unschlüssig und merkwürdig brüchig. So, als würde ein Fremdkörper in ihrem Hals stecken. Sie fühlte sich eingeschüchtert. Sie wollte noch irgendetwas Optimistisches sagen, aber es fiel ihr überhaupt nichts ein. Sie öffnete den Mund und schloss ihn gleich darauf wieder. Wortlos stieg sie aus dem Auto und nahm ihren roten Schirm mit den Sonnenblumen aus dem Kofferraum des Range Rovers. Sie zog die Hülle von ihm ab und spannte ihn auf. Einen kurzen Moment lang stand sie unschlüssig neben dem Auto und schwieg. Als Ludwig den Motor startete wandte Tilda sich zum Gehen. Unerwartet ließ er noch einmal die Scheibe neben ihr herunter und beugte sich ein wenig herab, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte, während er streng sagte: „Schatz, aber wenn´s was Schlimmes ist, dann versprich mir, dass du dir in der Klinik helfen lässt.“ Er zögerte einen Augenblick, bevor er fortfuhr: „Ich weiß, dass Du keine Tabletten magst. Aber versprich mir trotzdem, dass du dann das machst, was sie dir empfehlen!“ Er räusperte sich und seine strahlend blauen Augen schauten Tilda fordernd an: „Versprich es mir!“ Er räusperte sich noch einmal. Er roch nach Aftershave.

Zögernd nickte Tilda ein wenig und versuchte ein Lächeln. „Ja, vermutlich werde ich das dann machen.“ Und einen Moment später fügte etwas leiser hinzu, während plötzlich ein spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht huschte: „Aber verlass´ Dich nicht zu sehr darauf!“ Sie sah Ludwig an. Ihr Lächeln wurde größer, als sie sein verdutztes Gesicht sah. Einen kurzen Moment lang fühlte sie sich besser. Ihr wurde plötzlich ganz leicht zumute. Die Last war von ihren Schultern gewichen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Wie lange hatte sie schon keine Späße mehr gemacht, zu denen sie früher ständig aufgelegt gewesen war? Tilda hatte plötzlich das Gefühl, wieder ein wenig zu sich zu kommen. Einen Wimpernschlag lang glaubte sie sogar, sie hätte etwas von ihrer lange vermissten Energie zurück. Doch das Gefühl war sofort wieder verschwunden, war wie ein Windhauch an ihr vorbeigegangen. Noch nie zuvor hatte sie sich so bedrückt und so elend gefühlt, wie an diesem Morgen.

Sie warf Ludwig einen flüchtigen Kuss zu, indem sie die Lippen spitzte und wandte sich dann unmittelbar dem Haupteingang der Klinik zu. Festen Schrittes ging sie in diese Richtung. Erst als sie am Portal angekommen war drehte sie sich noch einmal um. Ludwig war nicht mehr da.

Die große Eingangshalle des Krankenhauses war freundlich und hell. An den riesigen Fenstern zur linken und rechten Seite rann eine Flut von Regentropfen herab. Direkt vor sich sah Tilda die Türen mehrerer mattsilbern glänzender Aufzüge. Ganz vorn links saßen hinter der Anmeldung eine junge Frau und ein älterer Herr. Die schreiend grell blondierten und am Hinterkopf toupierten Zuckerwatte-Haare der jungen Frau hatten etwas von einem Hinterkopf-Geschwür. Ihre Gesichtszüge wurden von einer dicken Schicht Makeup überdeckt. Als Tilda sich ihr näherte telefonierte sie gerade, wobei man ihre langen, dunkelrot lackierten, künstlichen Fingernägel sah. Sie wirkten ein wenig skurril in dieser Krankenhaus-Umgebung. Graziös kritzelte sie mit der freien Hand etwas auf einen Notizzettel, wobei sie den Stift wegen der langen Nägel merkwürdig verkrampft hielt. Tilda war überrascht, dass sie mit diesen Fingernägeln überhaupt etwas schreiben konnte. In dem rosa Kittel, der sich über ihrer Brust spannte, erinnerte sie ein wenig an Miss Piggy von der Muppets Show. Irgendwie, fand Tilda, war sie zumindest rein optisch eine komplette Fehlbesetzung zwischen all den kranken Leuten. Selbst wenn sie möglicherweise nett war passte sie nicht in dieses Umfeld. Tilda hätte sich nicht an sie gewandt.

Der Mann neben ihr war ein älterer, grauhaariger Herr. Er war ein freundlicher, väterlicher Typ mit kurzem, glatten Haar und einer gepflegter Erscheinung. Er trug bereits einige Knitter in seinem gutmütigen Gesicht und mochte fast schon das Rentenalter erreicht haben. Er schaute Tilda freundlich an und nickte ihr zu. Sein weißer Kittel, den er nur wie eine Jacke übergeworfen hatte, hing locker und mit offener Knopfleiste über seinen Schultern. Darunter sah man eine dunkelgraue Hose und ein hellblaues, langärmliges Oberhemd, das tadellos gebügelt war. Auf seiner Nase klemmte eine Halbbrille mit schmalen Gläsern, die er in Richtung Nasenspitze vorgeschoben hatte und die ihm irgendwie das Aussehen einer Spitzmaus gab. Seine braunen Augen musterten Tilda über den Brillenrand hinweg mit einem Blick, der etwas von einer Mischung aus Profi-Portier und Oberarzt hatte. Ihrem ersten Impuls folgend ging Tilda sofort auf ihn zu und wandte sich nicht an seine rosa Kollegin, die inzwischen das Telefon beiseitegelegt hatte. „Zum MRT? Zweiter Stock links und dann am Ende des Flures“, antwortete der sympathische Herr Tilda freundlich auf ihre Frage, wohin sie sich wenden müsse. Nachdem sie sich kurz bedankt und zum Gehen gewandt hatte, fügte er leise hinzu, als wäre es ein Geheimnis: „Viel Glück für sie!“ Tilda nickte, versuchte ein kleines Lächeln und entfernte sich schnell. Die Tränen schossen ihr erneut in die Augen. Sie wollte nicht, dass er es sah. Sie wollte keinen verweichlichten, hysterischen Eindruck machen, wollte nicht wie ein aufgescheuchtes Hühnchen erscheinen und das schon gar nicht vor diesem unbekannten Mann hinter der Rezeption. „Zweiter Stock links und dann am Ende des Flures“, murmelte sie entschlossen vor sich hin, als müsste sie sich selbst Mut zusprechen. Sie stieg in einen der Aufzüge und fuhr hinauf.

Nachdem sie einen scheinbar endlos langen Flur mit glänzendem, grauem Kunststoff-Belag entlanggegangen war, betrat Tilda den Raum mit der Aufschrift „Wartezimmer MRT“. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Sie war überrascht, wie viele Patienten an diesem Morgen bereits dort saßen. Manche schienen vollkommen gesund zu sein, andere wirkten bleich und krank und dem Tode näher, als dem Leben. Außer ihr selbst waren noch acht weitere Patienten im Wartezimmer. Sie setzte sich neben ein hageres Mädchen mit hervorspringender Nase und dünnen Ärmchen, das einen weißen Jogginganzug mit der Aufschrift „Los Angeles“ trug. Es war vermutlich nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre. Verstohlen musterte Tilda das junge Ding. Das Mädchen wirkte erstaunlich entspannt. Es hatte kupferrot gefärbtes, halblanges Haar, das dünn und ähnlich wie Spaghetti auf ihre Schultern herabhing. Es sah beinahe so aus, als wäre es gebügelt worden. Das Mädchen trug eine etwas überdimensionierte Brille mit einem dunklen Rand, die wohl besser zu einer Professorin gepasst hätte und viel zu groß für ihr schmales Gesicht war. Ihr blasser Nasenrücken war voll mit kleinen, hellbraunen Sommersprossen. Das Mädchen hieß Ana, wie sich bald herausstellte und schien ihrem Akzent nach osteuropäischer Abstammung zu sein. Ana erzählte ihr, dass sie in die 9. Klasse einer Realschule im Stadtzentrum ginge und sie lege besonderen Wert darauf, dass ihr Name nur mit einem „N“ geschrieben werde. Ana wusste bereits, dass sie einen Tumor im Gehirn hatte und tippte mit dem Zeigefinger vage in Richtung ihrer linken Schläfe, um Tilda die Stelle zu zeigen. Sie war nicht zum ersten Male hier und hatte gemäß ihrer Schilderung auch schon einige Chemo-Therapien und Bestrahlungen hinter sich, was den Tumor aber nicht beeindruckt hatte. Im Gegenteil. Er war während der Therapien einfach weiter gewachsen. Tilda hatte Mühe, ihr Entsetzen darüber zu verbergen. Ana winkte nur ab. Für sie schien das alles nicht so schlimm zu sein. Momentan war sie zu Hause und nur ambulant in der Klinik. Aber sie durfte trotzdem nicht zur Schule gehen. Darüber ärgerte sie sich. „Das Leben muss ja schließlich irgendwie weiter gehen, wissen sie?“, kommentierte sie ihre Situation lapidar. Tilda war außerordentlich überrascht, wie wenig Ana ihr Zustand zu beunruhigen schien. Es mochte wohl an ihrem jugendlichen Alter liegen, dass sie das wahre Ausmaß ihres Problems noch nicht erkennen konnte. Vielleicht nahm sie auch irgendwelche Psychopharmaka ein, die sie entspannt hielten. Später bekam Ana, wie einige andere der Wartenden und Tilda selbst auch, ein Kontrastmittel in Vorbereitung der Untersuchung in die Vene gespritzt. Tilda ließ die Prozedur widerstrebend über sich ergehen. Es brannte, als würde Zyankali durch ihre Adern rinnen. Die anderen schienen keine Probleme damit zu haben. Vielleicht lag das auch einfach nur daran, dass sie die falsche Einstellung hatte. Danach dauerte es noch einige Minuten, bevor Tilda endlich von einer forschen Schwester mit mindestens 130 kg Lebendgewicht und einem Stiernacken abgeholt wurde. Sie war riesig groß und steckte in einem überdimensionalen grünen OP- Kittel wie in einem Sack. Mit einem Ruck hatte die grüne Schwester eine Seitentür des Wartezimmers geöffnet, ihre Körperwalze mitten im Türrahmen positioniert und gedröhnt, als müsse sie in einem ganzen Saal für Ordnung sorgen: „Johannsen, Tilda?“ Tilda sprang erschrocken auf und folgte ihr dann. Ana nickte ihr zu. Sie war inzwischen mit ihrem Smartphone beschäftigt und blickte nur ganz kurz auf. Für sie war das hier schließlich Alltag. Kurz darauf fand sich Tilda allein im Untersuchungsraum wieder. Sie lag auf dem Rücken auf einer schmalen, weißen Liege und glitt in den Untersuchungstunnel. Die angebotenen Ohrstöpsel gegen den Lärm hatte sie dankbar angenommen. Es roch nach Desinfektionsmittel, Kunstleder und irgendwie merkwürdig nach Technik und Metall. Über eine Scheibe hatte sie anfangs noch in den Raum nebenan sehen können, wo offensichtlich ein Arzt und eine Krankenschwester das Geschehen überwachten. Tilda schloss ihre Augen und hoffte inbrünstig, ihr Aufenthalt im Tunnel möge schnell vorbei sein. Bereits einige Minuten später war die Untersuchung tatsächlich beendet. Sie kletterte erlöst von der Liege.

Irgendwie hatte sie sich das alles schlimmer vorgestellt. Jetzt fühlte sie sich erst einmal erleichtert. Während sie wieder in ihre Kleider schlüpfte, stellte sie sich vor, dass sie nun nach Hause gehen würde und sich die Angelegenheit damit für sie erledigt hatte. Doch da war auch eine innere Stimme in ihr, die ihr warnend klar machte, dass sie so einfach nicht davonkommen würde, wenn die Maschinerie Krankenhaus erst einmal angelaufen war. Tilda warf einen prüfenden Blick in den Spiegel an der Wand ihrer Umkleidekabine und zupfte sich hastig die Frisur mit den Fingern zurecht. Nach einem letzten prüfenden Blick wandte sie sich zum Gehen. Die riesige grüne Krankenschwester jedoch folgte ihr ungewöhnlich flink und drückte ihr mit tadelndem Blick ein gelbes Bestellkärtchen in die Hand, wobei sie posaunte: „Morgen neun Uhr dreißig, Zimmer 254. Auswertung. Pünktlich sein, bitteschön!“ Sie musterte Tilda durchdringend wie ein Feldwebel. Ihre dunkelbraune Pagenfrisur war derart mit Haarspray fixiert, dass sie aus Beton zu sein schien. Sie hatte einen leichten Oberlippenbart und ein Doppelkinn. Schnaufend verschwand sie in einer Seitentür, auf der „Kein Zutritt“ stand. Tilda starrte auf den kleinen gelben Bestellzettel in ihrer Hand, auf dem ihr Name stand. Er brannte wie Feuer zwischen ihren Fingern. Sie würde also morgen noch einmal hierher kommen müssen. Hatten die da drinnen etwa schon etwas Verdächtiges auf ihren Aufnahmen gesehen? Nervös ließ sie den Zettel in das Außenfach ihrer Handtasche gleiten und verließ hastig das Krankenhaus. Sie fühlte sich wie auf der Flucht.

Der nette, ältere Rezeptionist mit der Spitzmaus-Lesebrille auf der Nase war immer noch da. Er tippte unablässig irgendetwas in seine Computertastatur und sah nicht auf. Erst als Tilda vorbeihuschte, blickte er hoch und nickte ihr freundlich zu. Seine wasserstoffblonde Kollegin mit den spatenartigen Fingernägeln und den Haaren aus Zuckerwatte war indessen verschwunden. Wahrscheinlich saß sie schon beim Mittagessen oder toupierte sich in der Personal-Umkleide den Hinterkopf neu. Tilda beeilte sich, nach draußen zu kommen. Das Auftrittsgeräusch ihrer Schuhe vervielfältigte sich unter ihren hastigen Schritten in der Eingangshalle. Das Geräusch erinnerte an die Übungsstunde einer Stepptänzerin.

Sie verließ das Krankenhaus durch die große, gläserne Drehtür des Haupteinganges. Draußen wehte ihr eine kühle Hamburger Böe wie zur Begrüßung ins Gesicht. Der Nieselregen hatte aufgehört. Die freundliche Frühlingssonne hatte ihn verdrängt. Es war fast Mittag. Tilda kam es vor, als hätte sie einen ganzen Tag lang in diesem schrecklichen Gebäude gehockt. Gierig sog sie die frische Luft ein. Sie hatte nur noch das Bedürfnis, nach Hause zu kommen, fühlte sich getrieben, abgestoßen und voller Eile. Im Krankenhaus starben die Menschen. Sie wollte nur weg von diesem Ort.

Tilda lenkte ihre Schritte durch den nahegelegenen Park, dem kürzesten Weg nach Hause, den sie zu Fuß nehmen konnte. Einige ergraute Pensionäre hatten es sich um diese Zeit schon auf den Bänken bei den kahlen Rosen-Rabatten bequem gemacht und hielten ihre blasse, zerknitterte Winterhaut in die Frühlingssonne. Vom nahen Spielplatz her hörte Tilda eine Mischung aus Kindergeschrei und Lachen. Irgendwoher kam Straßenlärm. Sie hielt nicht inne. Sie wollte nur noch nach Hause, weg von diesem schrecklichen Krankenhauses. Tilda ging schnellen Schrittes. Je schneller sie ging, desto besser fühlte sie sich. Sie verspürte keinerlei Unwohlsein, nur ein wenig Schwäche. Sie erinnerte sich überrascht daran, dass sie überhaupt keine Beschwerden mehr gehabt hatte, seitdem sie das Krankenhaus am Morgen betreten hatte. War das der sogenannte „Vorführeffekt“? Sie kannte dieses Phänomen bereits von ihren Zahnarztbesuchen. Wenn sie lange genug im Wartezimmer gesessen hatte, dann waren ihre Zahnschmerzen weg gewesen.

Den Rest des Tages verbrachte Tilda damit, sich um ihre Wohnung zu kümmern. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, irgendetwas Nützliches zu tun, auch um sich abzulenken. Sie putzte die Fenster und holte den Rest ihrer Sommersachen aus der großen, alten Seefahrer-Truhe im Schlafzimmer. Sorgfältig packte sie dann einen Teil ihrer Wintersachen hinein. Während sie das tat hoffte sie darauf, dass das Wetter gut genug bleiben möge, so dass sie nicht in Kürze wieder in der Truhe wühlen müsste, um die eben eingepackten, dicken Pullover wieder hervor zu holen. Schließlich konnte niemand in Hamburg so genau wissen, was das Wetter mit der Stadt vorhatte. Ganz zum Schluss schob Tilda den Metallriegel der Truhe mit einem Klicken zu und setzte sich einen Moment lang darauf, um sich auszuruhen. Sie fühlte sich nun doch erschöpft. Trotzdem war sie glücklich. Sie hatte dem Tag, der so unschön begonnen hatte, doch noch etwas Nützliches abgerungen. Wenn sie ihr aktuelles Befinden mit dem der letzten Tage und Wochen verglich, dann ging es ihr heute um Quantensprünge besser. Seit der Untersuchung am Vormittag fühlte sie sich irgendwie befreit. Zwar belastete es sie, dass sie bereits nächsten Tag wieder zur Auswertung erscheinen sollte, aber sie entschloss sich, nicht daran zu denken. Während sie mit angezogenen Beinen immer noch auf der großen Truhe im Schlafzimmer hockte, versuchte sie sich bildlich vorzustellen, wie der Arzt zuerst ihre Aufnahmen aus dem MRT betrachtete und sie dann verständnislos ansah. Sie stellte sich vor, wie er dann mit den Schultern zucken und sagen würde: „Frau Johannsen, wer hat sie eigentlich zu uns überwiesen? Es ist doch alles in bester Ordnung bei ihnen. Sie sind gesund. Das muss wohl ein Irrtum gewesen sein.“ Zumindest in ihrer Vorstellung klappte das ganz gut.

Tilda dachte an das Mädchen Ana, die mit ihrem Tumor im Kopf so gelassen umging, als wäre er ein aufgeschlagenes Knie. So einfach war das offenbar, wenn man sich keine Sorgen machte. Was würde wohl aus ihr und den anderen Patienten im Wartezimmer werden? Was würde aus ihr werden? Die anderen hatten alle viel entspannter gewirkt, als sie selbst. Vielleicht kannten sie sich schon besser mit dem emotionalen Druck aus, den solche Untersuchungen mit sich brachten. Oder die Ursache lag darin, dass es außerordentlich schwierig war, den Gemütszustand fremder Menschen einzuschätzen. Vielleicht hatte sie selbst auf die Mitwartenden auch gar nicht so aufgewühlt gewirkt.

Langsam rutschte Tilda von der Truhe. Sie schob die Ärmel ihres roten Hausanzuges hoch und betrachtete aufmerksam ihr Bild im Spiegel an der Tür des Kleiderschrankes. Eigentlich war das in der Tat ein nicht mehr ganz neuer Hausanzug. Oder anders ausgedrückt war er schon etwas in die Jahre gekommen. Ludwig hatte neulich nicht ganz Unrecht gehabt, als er ihn abschätzig betrachtet hatte. Aber er hatte in diesem Zusammenhang verletzende Dinge gesagt. Das war unfair gewesen. Tilda wusste nicht so genau, wie lange sie diesen Anzug schon besaß. Seine besten Tage hatte er möglicherweise tatsächlich hinter sich. Doch das war ihr vollkommen egal. Sie liebte ihn. Sie wollte ihn einfach nicht wegwerfen, solange sie ihn noch tragen konnte. Für sie war er wie ein Stück zu Hause. Er war weich und wirklich bequem und sie fand es überhaupt nicht schlimm, dass er bereits etwas die Form und die Farbe verloren hatte. Vor allem in Zeiten, in denen sie sich nicht wohlfühlte, und das war häufig gewesen in der letzten Monaten, hatte er ihr irgendwie immer sehr geholfen. Es mochte sein, dass sie sich das alles nur einbildete und der Anzug in Wahrheit wie ein Placebo wirkte. Ludwig jedenfalls war überzeugt davon. Doch Tilda war das vollkommen gleichgültig. Dass der Anzug hässlich sein sollte, weil er inzwischen nicht mehr neu war, lag allein im Auge des Betrachters. Ludwig hatte sie neulich darin gemustert und geringschätzig behauptet, sie hätte einen dicken Hintern darin. Tilda hatte sich durch seine Worte sehr verletzt gefühlt. Es hatte ihr wehgetan, dass Ludwig sie so wenig kannte, dass er nicht einmal wusste, dass ihr das „dicke-Hintern-Ding“, über das sich die meisten Frauen geärgert hätten, vollkommen am selbigen vorbeiging. Solange sie nicht in Wirklichkeit einen dicken Hintern hatte, sondern nur in diesem ausgebeulten Anzug, interessierte sie das überhaupt nicht. Ludwig hatte sogar ein Zitat von Karl Lagerfeld angeführt, dem Modezaren, von dem jeder halten konnte, was er wollte. Laut Ludwig sollte Lagerfeld angeblich gesagt haben: „Wer eine Jogginghose trägt hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Tilda wusste nicht genau, ob sie sich über seine Worte ärgern sollte oder ob sie einfach nur enttäuscht von ihm war. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Wie konnte Ludwig behaupten, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr ärgerte sie sich über seine taktlose Art. Sie hatte sich wirklich oft genug entsetzlich gefühlt in den letzten Monaten. Sie hatte Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Appetitlosigkeit und Schwäche klaglos ertragen. Sie war trotzdem ihrer Arbeit in der Schule nachgegangen, hatte den Haushalt in Schuss gehalten und war fast immer optimistisch gewesen. Sie hatte sich nie beklagt. War es tatsächlich so schlimm, wenn sie abends ab und zu das rote Ungetüm trug, so wie neulich? Hatte Ludwig überhaupt jemals versucht, sich in ihre Lage zu versetzen? Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, wie sie sich wirklich fühlte. Er sah immer nur sich selbst, ging immer nur von sich aus. Und er bemerkte das noch nicht einmal.

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9783742761583
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