Читать книгу: «Die Farbe der guten Geister», страница 2

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Sie selbst jedenfalls hielt verbissen an ihrem Entschluss von damals fest. Sie wollte keine Tabletten einnehmen. Irgendwann würde diese lästige Übelkeit schon vergehen, auch ohne Medikamente. Doch Tilda musste zugeben, dass sie das Warten auf eine harte Probe stellte, das es sie zermürbte. Trotzdem war sie nicht bereit, ihren Grundsatz von damals zu opfern. Sie hatte sich entschlossen, die Beschwerden lieber aushalten, auch wenn sie überaus lästig waren. Sie wollte die Krankheit, was auch immer es war, lieber aussitzen, als sich mit Chemie vollzustopfen und alles damit vielleicht noch schlimmer zu machen. Wer wusste denn schon, welche anderen Folgen die Tabletteneinnahme möglicherweise für sie haben würde? Trotz ihrer Entschlossenheit war Tilda sehr gereizt. Auf die Dauer zerrte der schwer erträgliche Zustand an ihren Nerven. Und nun kam auch noch das scheinbar immer drastischer werdende Geschnarche von Ludwig hinzu. Früher hatte sie versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Jetzt hatte sie einfach keine Kraft mehr dafür und war wütend.

Tilda fühlte sich schwindelig an diesem Morgen. Sie saß noch immer im Badezimmer auf dem kleinen Hocker. Sie musste sich dazu zwingen, sich zu erheben. Matt schlich sie sich noch einmal zurück ins Schlafzimmer. Zehn Minuten wollte sie sich noch gönnen. Nach dieser Nacht fühlte sie sich vollkommen ausgelaugt. Jetzt, nachdem sie aufgestanden war, machte sich das noch viel stärker bemerkbar. Einen Moment lang zweifelte sie daran, ob sie in der Lage sein würde, arbeiten zu gehen. Beinahe geräuschlos legte sich dann noch einmal auf ihr Bett. Neben ihr schnarchte Ludwig noch immer. Tilda war sauer auf ihn.

Sie nahm sich vor, ihm ein Ultimatum zu stellen. Er würde die Wahl haben zwischen einem Termin beim Hals-Nasen-Ohrenarzt oder ab sofort allein schlafen. So einfach war das. Wenn er sich nicht zu Maßnahmen durchringen konnte, dann musste sie das tun. Es musste auf jeden Fall etwas geschehen. Möglicherweise war sein Schnarchen krankhaft und hatte Ursachen, die gefährlich waren. Leider war Ludwig das ziemlich egal. Tilda konnte das nicht verstehen. Sie versuchte immer alles, um sich Krankheiten vom Leib zu halten. Bisher hatte das auch gut funktioniert. Nur jetzt, bei dieser merkwürdigen Übelkeit, die kam und ging wann sie wollte, hatte sie mit keinem ihrer vielen Hausmittel Erfolg gehabt. Es war frustrierend. Und gerade sie, die immer so auf ihre Gesundheit und ihre gesunde Ernährung bedacht war, musste sich jetzt mit so etwas herumplagen. Ludwig hatte nur gegrinst. Er aß im Gegensatz zu ihr tonnenweise Fast Food und trank dazu Cola in atemberaubenden Mengen. Ungerechterweise war er, bis auf die Sache mit dem Schnarchen, offenbar auch noch gesund dabei. Sie hingegen hielt sich an alle Gesundheitsregeln und war krank. Das war einfach nur ungerecht. Es war ungerecht und frustrierend.

Tilda erinnerte sich daran, dass ihre Großmutter früher immer gesagt hatte: „Wenn man zu viel über Krankheiten nachdenkt, dann zieht man sie herbei.“ Genau davon war Tilda auch überzeugt. Ihre Großmutter war mit ihren Gesundheitsregeln ziemlich alt geworden. Die meiste Zeit über war sie dabei gesund gewesen. So falsch konnten ihre Ansichten also nicht gewesen sein. Sie war auch immer zutiefst davon überzeugt gewesen, dass das, was von allein kam, auch wieder von allein ging. Bei ihr selbst hatte diese Theorie fast immer funktioniert, bis auf den Schlaganfall, der ihr schließlich ganz plötzlich den Tod gebracht hatte.

Verunsichert war Tilda inzwischen trotzdem. Trotz ihrer optimistischen Einstellung wollten sich ihre lästigen Beschwerden durch nichts vertreiben lassen. Noch nicht einmal durch ihre zuversichtliche Einstellung, die sonst immer geholfen hatte. Diesmal funktionierte einfach gar nichts. Immer, wenn es ihr ein wenig besser ging und sie sich darüber freute, ging es ihr am nächsten Tag wieder schlechter. Es war wie verhext. Fünf Kilo hatte sie deshalb schon abgenommen. Ganz allein wegen dieser blöden Sache. Sie trauerte den Kilos zwar nicht hinterher, denn es waren an den Hüften und Oberschenkeln durchaus noch einige übrig, von denen sie sich gern getrennt hätte. Aber Tilda fand, dass es einen großen Unterschied machte, ob sie den Gewichtsverlust gewollt herbeigeführt hatte oder ob sich ihr Körpergewicht von allein immer weiter verringerte. So, wie es momentan war, machte es ihr Angst.

War möglicherweise tatsächlich etwas Schwerwiegendes mit ihr nicht in Ordnung? Dr. Pfeifer hatte zwar Entwarnung gegeben, aber was wäre, wenn er sich geirrt hätte? Bei diesem Gedanken fühlte sie sich sehr unwohl. Ein Anflug von Panik kam in ihr auf. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. In ihrem Kopf entstand ein Druck, der ihr die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Ganz so entspannt, wie noch vor einigen Wochen, konnte sie das alles inzwischen nicht mehr sehen.

Aus dem nahen Fliederbaum kam plötzlich lautes, hektisches Vogelgeschrei. Eine Art von unartikuliertem Gekreische war zu hören, das sich langsam entfernte. Draußen wurde es grün. Der Mai war tatsächlich gekommen. Tilda freute sich. Sie erhob sich erneut und blickte einen Moment lang aus dem Fenster in den bereits grünen Innenhof. Alles war noch so hell, so neu und so sauber. Der lange, graue Winter schien endgültig vorbei zu sein. Und auch das nasskalte Frühjahr, das in diesem Jahr überhaupt nicht einladend gewesen war, lag hinter ihr. Tilda mochte den Sommer mehr. Das war wahrlich kein Wunder. Schließlich mochten fast alle Menschen den Sommer mehr. Doch in diesem Jahr war ihre Freude gedämpft. Sie war bedrückt. Irgendetwas war mit ihr geschehen. Es war ein schreckliches Gefühl, das zu spüren und nicht zu wissen, was der Grund dafür war. Schon wieder machte sich Angst in ihr breit. Diese Angst machte alles nur noch schlimmer. Tilda wollte das nicht. Alles in ihr sträubte sich dagegen. Sie wollte diese Angst nicht mehr, die in ihr ständig neue Spannungen produzierte, die sie verunsicherte und die sie nachts nicht schlafen ließ. Sie wollte endlich wieder unbeschwert leben. Sie wollte einfach wieder ohne diese Übelkeit sein, ohne den drückenden Schmerz in ihrem Oberbauch und ohne diese Durchfälle, die ihr neuerdings immer öfter zu schaffen machten. Das Unheil schien sich schleichend auszubreiten und jeden Morgen biss es wieder einen Teil von ihrem Urvertrauen ab. Tildas Verunsicherung wuchs von Tag zu Tag. Was wäre, wenn Dr. Pfeifer sich geirrt hatte? Wenn es in Wahrheit etwas Schwerwiegendes war, das sie seit Monaten mit sich herumschleppte?

Müde betrachtete sich Tilda nach dieser unruhigen Nacht im Spiegel des Badezimmers. Ihr blondes, kurzes Haar stand eigensinnig kreuz und quer nach allen Seiten von ihrem Kopf ab. Ihre blauen Augen waren ein wenig verquollen. Es war noch nicht lange her, da hatte sie sich morgens um so vieles frischer gefühlt, nachdem sie aufgewacht war und sie hatte auch so ausgesehen. Jetzt war sie nur noch schwach. Sie fühlte sich überhaupt nicht so, als wenn sie gerade ein entspanntes Wochenende hinter sich hatte. War es denn normal, dass man mit dreißig Jahren schon so ein Wrack war? War es am Ende vielleicht ihr Alter, das Schuld an allem war? Hatte sie mit ihrem dreißigsten Geburtstag vielleicht eine Art magische Schwelle überschritten? Aber wenn das so war, wie kamen dann all die anderen Leute damit zurecht und wieso wusste sie nichts davon?

Ihre Gedanken gingen noch einmal zurück zu ihrem letzten Besuch bei Dr. Pfeifer. Ihr alter Hausarzt hatte sie erneut beruhigt. Es sei nichts. Allerdings hatte er auch keine Anstrengungen unternommen, um etwas zu finden. Bisher hatte Tilda ihm immer vertraut. Jetzt, wo sie an ihn dachte, stieg ihr unwillkürlich wieder der strenge Geruch nach Desinfektionsmittel in die Nase, der immer durch die Räume seiner Praxis waberte und der von allen Gegenständen dort auszugehen schien.

Sie konnte sich genau erinnern. Der alte Arzt hatte sie durchdringend durch seine Brille mit den dicken Gläsern angesehen. Er hatte ein paarmal auf ihrem Bauch herumgedrückt und dann den Kopf geschüttelt. Sonst nichts. „Es ist nichts, Frau Johannsen“, hatte er gebrummt. „Das kommt vor. Wahrscheinlich ein Reizdarm. Sie sind doch Lehrerin.“ Er machte eine Pause und schaute sie vielsagend an. Tilda nickte. „Das ist ein anstrengender Beruf, nicht wahr?“, fuhr er fort. Eine weitere Diagnose hatte er nicht gestellt. Vielleicht hatte er am Ende sogar Recht. Vielleicht aber hatte er ihre Beschwerden auch gar nicht ernst genommen, weil sie bisher nie krank gewesen war.

Tilda versuchte sich zu erinnern. Sie war am Anfang des Jahres bei ihm gewesen und vor kurzem, im April, ein weiteres Mal. Genau wegen der Probleme, die sie immer noch plagten und die immer schlimmer zu werden schienen. Dr. Pfeifer hatte auch beim letzten Mal keine weiteren Untersuchungen veranlasst. Er hatte ihr nur den Blutdruck gemessen, hatte Lunge und Herz abgehört, kurz auf ihrem Bauch herum gedrückt, die Lymphknoten am Hals befühlt - und nichts gefunden. Er hatte sie nach Fieber gefragt. Fieber hatte sie nicht. Das war alles. Aus seiner Sicht war damit alles mit ihr in bester Ordnung. Noch nicht einmal ihr Blut hatte er untersuchen lassen. Natürlich war sie nicht übermäßig traurig darüber gewesen, als sie die Praxis verlassen hatte.

Sie erinnerte sich auch noch daran, dass Dr. Pfeifer sie für zwei Wochen krankschreiben wollte. Er war der Meinung gewesen, sie solle sich einfach mal ein paar Tage lang ausspannen. „So als Lehrerin hat man es doch schwer“, hatte er vage gesagt. Das war nichts Neues. Sie kannte seine Einstellung zu ihrem Beruf. Offenbar neigte er dazu, vieles damit in Verbindung zu bringen. Aber Tilda wollte sich nicht krankschreiben lassen. Sie fühlte sich auch nicht von ihrem Beruf gestresst. Wozu also vom Unterricht ausruhen? Sie wollte ihren Kollegen nicht die Arbeit mit ihren Schülern aufzwingen, während sie sich zu Hause auf die Couch legte und deshalb ein schlechtes Gewissen hatte. Vielleicht hätten sie sich am Ende noch das Maul über sie zerrissen, weil sie ja sooo krank gar nicht ausgesehen hatte…. Nein, so krank fühlte sie sich nun auch wieder nicht.

Und doch: In der größten Verunsicherung beruhigte sie dann Dr. Pfeifers Urteil schon irgendwie. Wenn er ihre merkwürdige Krankheit so entspannt sah, warum sollte sie sich dann so große Sorgen machen? Er war schließlich Arzt und er hatte ein ganzes Berufsleben lang nichts anderes getan, als in diesem Beruf zu arbeiten. Und solange es ihr phasenweise auch immer wieder gut ging, konnte es wirklich nicht so schlimm sein. Fieber hatte sie schließlich auch keins. Fieber bekam sie ohnehin sehr selten.

Tildas Blick fiel auf die in schwarz-weiß gehaltene Uhr an der Badezimmerwand. Ludwig hatte sie im letzten Winter dort angebracht, weil er wusste, dass er morgens im Bad immer viel zu lange brauchte. Die schwarzen, klobigen Zeiger der Uhr standen bereits auf 6.15 Uhr und der rote, schlanke Sekundenzeiger rannte unaufhörlich im Kreis. Die Uhr tickte leise und ungerührt vor sich hin, als wollte sie sagen: „Zu spät! Zu spät! Zu spät!….“

Tilda hasste Unpünktlichkeit. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: heute war sie einfach zu spät dran. Sie kam einfach nicht in Schwung an diesem Morgen. Ihr fehlte auch jeder Appetit. Fünf Kilo weniger in nur drei Monaten ohne das geringste Zutun. Langsam wurde ihr das unheimlich.

Eine halbe Stunde später kam Ludwig zu ihr in die Küche. Er sah zwar auch noch ein wenig verschlafen aus, aber man konnte selbst in diesem Zustand sehen, dass er ein schöner Mann war. Er war groß, breitschultrig und athletisch. Letzteres war nicht verwunderlich, denn er ging dreimal wöchentlich in sein Fitness-Studio. Es war ein Fitness-Studio, in dem hauptsächlich Männer trainierten, die sich an diversen Kraftmaschinen austobten. Tilda fand, dass es dort nach Männerschweiß und nach Käsefüßen roch. Einmal war sie dorthin mitgegangen, hatte sich aber dann gar nicht erst umgezogen. Ludwig allerdings schien es in seiner Muckibude gut zu gefallen. Es war noch nicht lange her, da war Tilda noch richtig stolz darauf gewesen, so einen gut aussehenden Mann an ihrer Seite zu haben. Sein dunkelbraunes Haar war perfekt geschnitten, was auch für seinen kurz gestylten Bart galt. Seine blauen Augen strahlten. Sie hatten dieses helle, fast schon eisige Blau, das in dieser Klarheit selten zu finden war und in auffallendem Kontrast zu seinem dunklen Haar stand. Wenn er Tilda mit diesen Augen ansah, dann fühlte sie sich jedes Mal sofort durchschaut wie ein kleines Mädchen. Ludwig wusste das und von Zeit zu Zeit nutzte er das natürlich für sich aus. Jetzt drückte er ihr einen leichten Guten-Morgen- Kuss auf die Wange und lächelte: „Alles gut, Schatz?“

Tilda sah ihn einen kurzen Moment lang an und lächelte gequält: „Mmmm, naja. Geht so!“

Ludwig ließ sich auf einen der vier Küchenstühle mit den schreiend bunt gemusterten Stuhlkissen in pink und orange fallen, die ein Geschenk seiner Eltern waren und murmelte halblaut: „Geh halt nochmal zum Arzt, wenn das immer noch nicht besser ist bei dir. Das ist doch nicht mehr normal!“ Ohne eine Antwort abzuwarten schaltete er das Radio ein und begann seine Cornflakes zu essen, über die er sich einen halben Liter Milch gegossen hatte. Tilda schob ihm eine Banane hin. Er griff quer über den Tisch nach der Zeitung und vertiefte sich in den Artikel von der ersten Seite. Tilda schaute ihm dabei zu und schwieg. Ihr war übel. Sie quälte sich damit, ihre Banane zu essen. Außerdem musste sie sich beeilen, wenn sie nicht zu spät in die Schule kommen wollte.

Kurz vor 8.00 Uhr stieß sie mit beiden Händen und eiligen Schrittes die doppelflügelige Eingangstür der Stadtteilschule in Bergedorf auf und schlüpfte hindurch, noch bevor sie sich richtig öffnete. Unzählige Male schon hatte sie sich bei dieser Form des schnellen Zutritts bereits einen Ellenbogen gestoßen oder ein Knie. Dann hatte sie die Lippen fest aufeinander gepresst und den Schmerz lautlos ertragen. Heute war aber glücklicherweise alles gut gegangen. Sie befand sich im großen Hauptkorridor. Einige ihrer Kollegen eilten an ihr vorbei, ihren Unterrichtsräumen entgegen. Sie grüßten je nach morgendlicher Verfassung an diesem Montag mehr oder weniger deutlich. Brigitte, die Sportlehrerin, marschierte elastischen Schrittes und in einem grellroten Trainingsanzug an ihr vorbei. Die silberne Trillerpfeife hing wie eine Trophäe an ihrem Hals und schwang rhythmisch bald nach links und bald nach rechts. Brigitte nickte freundlich und militärisch knapp. „Moin moin! Na, alles fit bei dir?“, tönte sie laut durch den Flur. Tilda nickte pflichtschuldig. Sie hatte noch nie verstanden, wie Brigitte es machte, dass sie mit Ende fünfzig immer so erschreckend fit und sportlich war. Wenn Tilda ihr begegnete, dann hatte sie jedes Mal sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie sich eigentlich schon längst entschlossen hatte, sich mehr zu bewegen. Leider setzte sie diesen Vorsatz nur sehr schleppend in die Tat um. Das war umso bedauerlicher, da Ludwig ihr zu diesem Zweck eigens einen Crosstrainer zum Geburtstag geschenkt hatte. Selbstverständlich war dieser das Produkt einer bekannten Markenfirma, deren Logo unübersehbar in riesigen Lettern darauf prangte. Ludwig kaufte nie billig und das sollte auch jeder sehen. Er hatte seine Grundsätze. Nun stand das sperrige Teil im Arbeitszimmer und verstaubte vor sich hin. Leider hockte bei Tildas Rückkehr aus der Schule meist schon einer von ihren inneren Schweinehunden darauf und rief in sehr überzeugendem Ton: “Ach was, Tilda! Heute brauchst Du nicht. Hast Dich doch in der Schule genug bewegt! Mach dir keine Sorgen und entspann dich erstmal.“ Meistens widersprach sie dem Schweinehund dann nicht und tat, was er ihr empfohlen hatte.

Natürlich wäre etwas mehr Bewegung für sie von Vorteil gewesen. Umso mehr, als ihr wie zur Bestätigung ihrer Gedanken auch noch die dicke Christel aus dem Sekretariat entgegenkam. Sie schien seit letzter Woche schon wieder dicker geworden zu sein und schnaufte beim Gehen vor sich hin. Es hörte sich fast so an, als sei das nicht der Schulkorridor, sondern der Mount Everest. Nebenbei kaute sie auch schon wieder auf etwas Undefinierbarem herum, hörte aber geflissentlich damit auf, als sie sich Tilda näherte. Zielstrebig stampfte sie in Eile vorbei. Sie grüßte freundlich und lächelte. Augenblicklich hatte Tilda ein furchtbar schlechtes Gewissen wegen ihrer hässlichen Gedanken. Tilda nickte überfreundlich zurück und als sie sich noch einmal nach ihr umdrehte, sah sie Christels riesiges Hinterteil im Takt ihrer Schritte unter dem Stoff ihres dunkelblauen Rockes wippen. Sie fragte sich unwillkürlich, wie sie mit diesem Hinterteil eigentlich immer noch die Balance halten konnte. Dennoch: selbst die Sekretärin Christel mit ihren Massen schien gesund zu sein. Nur sie war krank. Tilda fand das ungerecht.

Unmittelbar darauf kam ihr ihre Freundin und Kollegin Conny lachend und mit schnellem Schritt auf furchterregend grünen Pumps entgegengeeilt. Kermit der Frosch hatte die gleiche Farbe. Conny lachte nur. Sie schien Tildas Gedanken erraten zu haben. Doch Conny konnte solche Schuhe tragen. Ihr standen sogar diese auffällig grünen Füße. Und wahrscheinlich hätte sie auch in einem Froschkostüm noch zauberhaft ausgesehen. Conny hatte schon immer einen Hang zum Schrillen und sie machte sich nichts daraus, wenn die Kollegen deshalb stichelten. Sie war immun gegen Kritik an ihrem Äußeren. Für Tilda war das ein Grund mehr, mit ihr befreundet zu sein. Und außerdem war sie eine tolle Lehrerin, von der sie noch einiges lernen konnte. Auch die Schüler liebten sie. Vielleicht auch deshalb, weil sie immer ein bisschen zu schrill und zu unangepasst war. Und vielleicht auch, weil ihr Rock immer ein wenig zu kurz war. Aber bei der guten Laune, die Conny verbreitete, sah man ihr letztendlich in der Schule einiges nach. Conny war zwei Jahre älter als Tilda und eine der besten Freundinnen, die sie haben konnte. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht voller Optimismus und Fröhlichkeit gewesen wäre. Was Tilda besonders an ihr schätzte war auch ihre Eigenschaft, niemals nachtragend zu sein. Conny war im Grunde wie ein großer Teenager: für jeden Spaß zu haben und immer gut gelaunt. Dabei durfte man das Wort „groß“ bei ihr tatsächlich wörtlich nehmen. Conny war mit ihren 1,85 m mindestens einen halben Kopf größer als Tilda. Und sie hatte die Gabe, sich sogar schwierige Schüler zu Freunden zu machen. Von Conny ließen die sich so manches sagen, was sie von anderen Lehrern niemals hingenommen hätten.

Jetzt blieb Conny mit einer Vollbremsung direkt von ihr stehen und lachte: „Na, Schätzchen, alles schick bei Dir?“ Tilda lächelte ein wenig müde. „Jaaaa. Nööö. Ich weiß nicht. Aber geht so.“ Conny hielt einen kurzen Moment lang inne. Ihr langes braunes Haar fiel dicht und glänzend auf ihre Schultern herab. Zwei lange Ohrringe baumelten glitzernd an ihren Ohrläppchen, wenn sie sich bewegte. Irgendwie erinnerten sie Tilda an Weihnachtsbaum-Schmuck. Conny legte den Kopf schief und musterte Tilda aufmerksam mit ihren rehbraunen Augen. Dann runzelte sie nachdenklich die Stirn und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Wie in Sekundenschnelle war es fortgewischt. „Du hast irgendwie ganz gelbe Augen, Schätzchen. Genau! Gelbe Augen hast du! Hat dir das heute schon jemand gesagt?“ Conny starrte der Freundin unverwandt in die Augen. „Zeig mal!“ Während sie das sagte beugte sie sich vor und zog mit ihrem Zeigefinger eins von Tildas Unterlidern etwas nach unten. Erschrocken rief sie: „Meine Güte, Tilda, ich glaub Du hast echt Gelbsucht!“ Horst Söter, der dickliche Chemielehrer kurz vor dem wohlverdienten Ruhestand, der in der Schule praktisch schon zum Inventar gehörte, kam behäbig in einem längs-gestreiften Hemd von undefinierbarer Farbe den Korridor entlang. Seine Uralt-Aktentasche, die er wahrscheinlich schon während seines Studiums besessen hatte und von der niemand so genau wusste, was sie enthielt, hing wie immer festgewachsen an seiner rechten Hand. Die Knopfleiste seines Hemdes spannte über seinem Bauch, der einer großen Birne ähnelte. Jetzt, als er auf ihrer Höhe war, schnaufte er ein verwaschenes „Guten Morgen!“. Als er gerade vorbei gehen wollte, rief Conny ihn zu sich heran.

„Horst, jetzt guck mal hier! Tilda hat ganz gelbe Augen. Hast du nicht irgendwann mal so einen Sanitäter-Schein gemacht?“ Horst nickte wichtig und schnaufte näher heran. Conny fuhr aufgeregt fort: „Was sagst Du denn dazu? Gelb? Oder bild´ ich mir das bloß ein?“ Horst murmelte etwas Undefinierbares in seinen stoppeligen, grauen Bart und beäugte kritisch die Farbe von Tildas Augenweiß in dem heruntergezogenen Unterlid. Dann schnaufte er erneut ratlos und brummte freundlich: „Bissel gelb is das schon! Aber das is doch nix. Man darf auch nicht alles überbewerten!“ Conny nickte reflexartig und bedankte sich artig für seinen fachmännisch geschnauften Rat. Horst und sein Wohlstandsbäuchlein entfernten sich gemächlich in Richtung Lehrerzimmer. Die Aktentasche baumelte noch immer festgewachsen an seiner rechten Hand.

Die beiden Frauen blieben allein zurück und Conny flüsterte leise: „Horst Söter – halb Mensch, halb Kö…..!“ Sie grinste. Sogar Tilda verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln. Doch kurz darauf erstarb es schon wieder. Sie sah Conny erneut ratlos an, fühlte sich furchtbar unwohl in dieser bedrohlichen Ungewissheit. Jetzt wusste sie gar nicht mehr, woran sie eigentlich war. Ein kalter Schauer kroch ihr ins Genick und blieb dort sitzen. Jetzt war sie noch viel mehr verunsichert, als vorher. Eine eiserne Hand schien derweil wieder ihren Magen zusammen zu pressen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr altes Leben zurück zu bekommen. Sie wünschte sich ihre Unbefangenheit, ihre Sorglosigkeit, ihre Freude auf den nächsten Tag, das Vertrauen in das Leben und all das zurück. Plötzlich war alles so bedrohlich. Diese Veränderung war beängstigend. Ein ungutes Gefühl hockte schwer auf Tildas Schultern. Sie biss die Zähne zusammen und schwieg.

Noch einen Moment lang standen Tilda und Conny sich schweigend gegenüber. Ratlos suchte Conny nach Worten, um etwas zu sagen, vielleicht auch um ihre Freundin etwas zu beruhigen. Im selben Moment ertönte der durchdringende Gong der Schulglocke. Die verstreut stehenden Schüler in den Gängen verschwanden schwatzend, lärmend und schubsend in ihre Klassenräume. Die Flure leerten sich eilig. Ein paar Nachzügler rannten wie aufgescheuchte Hühner an ihnen vorbei. Nur einige ältere Schüler standen noch wie angewurzelt da und starrten demonstrativ auf die Displays ihrer Smartphones, wohl um damit kund zu tun, wie wenig sie der Unterricht interessierte.

Ein wenig hilflos berührte Conny Tildas Schulter mit der Hand. Sie lächelte aufmunternd. Tilda´ s Blick glitt ratlos über das Gesicht der Freundin. Sie brachte es nicht fertig, auch nur eine Miene zu verziehen. Sie war noch eine Spur blasser geworden, als vordem. Nach einer schnellen Verabschiedung eilten die beiden Frauen in entgegengesetzte Richtungen davon. Tilda war bedrückt. Kurz bevor sie um die Ecke bog, sah sie noch einmal zurück, den langen, leeren Flur entlang. Conny war nicht mehr zu sehen. Ein lähmendes Gefühl von Hilflosigkeit überkam sie. Während alle um sie herum weiter ihr ganz normales Leben lebten, war bei ihr plötzlich nichts mehr, wie vorher. Tilda fühlte sich wie in einer Parallelwelt. Sie spürte, dass irgendetwas Schreckliches auf sie zukam. Sie konnte es förmlich mit Händen greifen. Es fühlte sich so an, als stünde sie mutterseelenallein in einem Tal und hörte von Ferne das Grollen einer Lawine immer näher auf sich zukommen, ohne zu wissen, aus welcher Richtung das Unheil sich näherte, geschweige denn, wohin sie fliehen konnte. Sie war überwältigt von diesem Gefühl innerer Hilflosigkeit und Leere. Es fiel ihr ungeheuer schwer, die Gedanken daran abzuschütteln, während sie langsam auf das Klassenzimmer am Ende des Flures zuging.

In diesem Moment war Tilda klar, dass es so nicht bleiben konnte. Sie würde noch einmal zum Arzt gehen müssen. Am besten zu einem anderen, der gar nichts über sie und ihre Vorgeschichte wusste. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr flau im Magen. Sie hatte Angst davor. Was, um Himmels Willen, würde dabei wohl herauskommen? Doch es musste sein. Aussitzen war keine Lösung mehr. Sie musste jetzt irgendwie reagieren, ob sie wollte oder nicht. Aber da war auch diese andere Stimme in ihr, die sich weigerte, sich überhaupt mit irgendeiner Krankheit auseinanderzusetzen. Tilda versuchte, über sie hinweg zu hören oder sie zum Schweigen zu bringen. Wie auch immer ihre Situation sein mochte und was auch immer sie erfahren würde. Es gab jetzt wirklich keinen anderen Weg mehr. Sie musste sich stellen. Sie würde diesmal einfach zu Ludwigs Hausarzt gehen. Ludwig hatte ihr das schon mehrmals vorgeschlagen. Bisher hatte sie die Idee immer wieder verworfen. In der Tat war sie aber doch nicht so übel.

Ludwigs Hausarzt war ebenfalls ein älterer Herr, dessen Name Dr. Hubertus Umlauf war. In der Vergangenheit war Ludwig immer voll des Lobes über ihn gewesen. Er kannte ihn bereits seit damals, als er noch Student war. Natürlich war klar, dass Ludwig in der ganzen Zeit kaum mehr als Grippe gehabt hatte. Und selbst das war selten gewesen. Insofern sagte sein Lob über die Fähigkeiten seines Hausarztes nicht allzu viel aus. Tilda hoffte trotzdem inständig, dass er herausfinden möge, unter welcher merkwürdigen Krankheit sie litt.

Aber im Grunde genommen war es ihr inzwischen ziemlich egal, wohin sie sich wenden würde. Irgendwie hatte sie nach Connys spontaner Feststellung im Schulkorridor das Gefühl, jetzt sofort handeln zu müssen. Sie spürte plötzlich eine ungeheure Unruhe in sich. Angst beschlich sie. Es kam ihr plötzlich so vor, als liefe ihr die Zeit davon. Es stimmte schon. Sie brauchte dringend die unabhängige Diagnose eines fremden Arztes. Eines Arztes, der nichts über sie wusste. Es mochte schon sein, dass die Krankheiten der Pädagogen oft psychische Ursachen hatten. Sie war sich aber ziemlich sicher, dass das bei ihr nicht der Fall war.

Einerseits war Tilda bei dem Gedanken an eine Diagnose für sich voller Hoffnung. Andererseits wiederum war da auch ganz viel Angst. Sie hatte keine Ahnung, wie es für sie weitergehen sollte. Nur eines stand fest: Der Alptraum mit ihrer merkwürdigen Krankheit musste endlich ein Ende haben. Die Ungewissheit war das Allerschlimmste für sie. In diesem Moment entschloss sich Tilda dazu, sofort nach ihrem Unterricht in die Sprechstunde zu diesem Dr. Umlauf zu fahren. Alle anderen Termine waren nicht so wichtig.

Mit diesem Entschluss schlüpfte sie in die Klasse und schloss die Tür geräuschvoll hinter sich. Ihre Schüler trotteten langsam auf ihre Plätze und die Geräuschkulisse ebbte ab. Der Physik-Unterricht in der 8. Klasse erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit und lenkte sie ab. Tilda empfand diese andere Art von Anspannung, die sie erfasste, wenn sie unterrichtete, jetzt als wohltuend. Sollte ihre Krankheit am Ende tatsächlich psychisch sein?

Bereits am frühen Nachmittag saß sie weder in der anberaumten Lehrerkonferenz, noch korrigierte sie Hefte, so wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Stattdessen saß sie im Wartezimmer der Hausarztpraxis von Dr. Umlauf. Mehrere weinerliche, kreischende und hustende Kleinkinder turnten um sie herum. Deren Mütter waren zwar anwesend, taten aber mehrheitlich so, als würde es sich keineswegs um ihren eigenen, quengelnden Nachwuchs handeln. Sie unterhielten sich vollkommen entspannt miteinander. Die Wartezeit schien Tilda zur Ewigkeit zu werden. Ihr Blick ging hinüber zu den Frauen, die fast alle deutlich jünger zu sein schienen, als sie selbst es war. Je länger sie sie beobachtete, desto mehr fiel ihr deren Mangel an Intelligenz auf, der unübersehbar war. Tilda war ein wenig entsetzt über ihre eigenen Gedanken, wusste aber gleichzeitig auch, dass sie ihrer Wahrnehmung vertrauen konnte.

Unkonzentriert blätterte sie in einer Illustrierten herum, die sie sich von dem kleinen Tischchen in der Ecke des Wartezimmers geholt hatte. Sie dachte darüber nach, warum gerade solche Mädchen so früh Kinder bekommen mussten. Unauffällig sah sie von einer zur anderen. Eine von ihnen, die ihr genau gegenüber saß, war eine wohl knapp Zwanzigjährige, mit pechschwarz gefärbtem Haar und auffällig ungesundem Teint. Sie präsentierte ungeniert einen unter ihrem T-Shirt hervorquellenden Bauch, bunt tätowierte Unterarme und krude Umgangsformen. Gerade in diesem Moment bat sie die neben ihr sitzende darum, mal kurz auf ihren „Timossi“ aufzupassen. Sie wollte offenbar rauchen gehen. Bei der Ansage seiner Mutter plärrte „Timossi“ augenblicklich los, was die junge Mutter aber ignorierte. Sie verließ trotzdem ungerührt das Wartezimmer. Ihr zweites Kind, einen Säugling in einer Babytrage vor ihrer Brust, nahm sie zum Rauchen mit nach draußen. Tilda war entsetzt. Der Mikrokosmos Wartezimmer schockierte sie. Sah so die Realität an der Basis der Gesellschaft aus? Bei Dr. Pfeifer hatte sie nie lange warten müssen. Jetzt fragte sie sich, ob das hier die Errungenschaften der modernen Wohlstandsgesellschaft waren, die keinen fallen ließ. Waren diese jungen Mütter nicht die Kinder von gestern, über die sie selbst gemeinsam mit ihren Pädagogen-Kollegen immer gesagt hatten, man müsste ihnen noch mehr Angebote machen? War sie nicht selbst auch immer eine derjenigen gewesen, die diese Strategie für die Beste gehalten hatte? Das Ergebnis dieser vielen Angebote machte einen ernüchternden Eindruck. Es sah so aus, als hätten diese Mädels schon viel zu viele Angebote bekommen. Angebote, die offensichtlich zu nichts geführt hatten. Vermutlich wäre es besser gewesen, stattdessen etwas von ihnen zu fordern.

Tilda schauderte bei dem Gedanken daran, dass diese Kinder mit ihren Müttern in einigen Jahren auch an ihrer Schule erscheinen würden. Obwohl sie sich schwach und elend fühlte, stieg bei diesem Gedanken so etwas wie Ärger in ihr auf. Die deutsche Solidargemeinschaft fing alle auf und auch diese jungen Mütter fühlten sich sicher überaus wohl bei dem Gedanken daran, dass sie möglicherweise bei einem cleveren Management ihrer Schwangerschaften fast lebenslang ohne zu arbeiten in der sozialen Hängematte dieses Landes liegen konnten. Trotzdem würde unweigerlich der Tag kommen, an dem sie sich über ihre Situation beschweren würden. Tilda kannte dieses Phänomen bereits. Wer würde ihnen dann die Angebote machen, an die sie sich so gewöhnt hatten?

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9783742761583
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