Читать книгу: «Die Farbe der guten Geister», страница 3

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Die tätowierte Raucherin mit dem Baby vor der Brust war inzwischen zu ihrem Sohn „Timossi“ zurückgekehrt. Während der unsanft mit einem Holzbaustein auf den Kopf eines kleinen, plärrenden Mädchens schlug, waren die vier jungen Mütter schon wieder eifrig in ihr Gespräch vertieft. Ein schaler Geruch von dünnem Tabakqualm verteilte sich im Wartezimmer. Der freundliche, ältere Herr, der neben Tilda saß, und dem sie bisher kaum Beachtung geschenkt hatte, versuchte sie in ein Gespräch über sein Rheuma zu verwickeln. Tilda blieb einsilbig. Sie wollte sich nicht unterhalten. Sie war bis aufs Äußerste angespannt in Erwartung der Dinge, die sie auf sich zukommen sah. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich plötzlich die Tür zum Sprechzimmer und eine ältere, freundlich um sich blickende Schwester im hellblauen Kittel und mit weißen Schuhen schwebte herein. Sie rief Tilda ins Sprechzimmer.

Dr. Umlauf hatte das sechzigste Lebensjahr sicher schon längst hinter sich gelassen. Er hatte eisgraues Haar und wirkte etwas angespannt, aber wohlwollend. Er war ein sympathischer Mann, auf den die Beschreibung „Hausarzt“ allein von der Optik her schon perfekt passte. Der Arzt war untersetzt und nicht sehr groß. Seine dunkelbraunen Augen blickten gütig unter den buschigen Augenbrauen hervor durch seine randlose Brille. Die schien recht stark zu sein und vergrößerte seine Augen auffallend. Tilda hatte sofort das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Irgendwann, wie auf ein geheimes Signal hin, trippelte später eine junge, blonde Krankenschwester im rosa Kittel lautlos herein und nahm ihr Blut ab. Es war eine ganze Menge Blut, das sie auf verschiedene Röhrchen verteilte.

Etwa eine halbe Stunde später verließ Tilda mit einem Dringlichkeitstermin für die Magnetresonanztomographie am nächsten Tag die Praxis. Sie fühlte sich unsicher, war aber trotz allem irgendwie glücklich, die erste Hürde genommen zu haben. Dr. Umlauf hatte sich mit seiner Diagnose zurückgehalten. Es war nicht viel, was er zu ihren Symptomen gesagt hatte.

Tilda atmete auf, als die Praxistür hinter ihr ins Schloss fiel. Sie ging die drei Treppenstufen zur Straße hinunter. Dort, in der ruhigen Nebenstraße, hatte ebenfalls der Frühling Einzug gehalten. In den Vorgärten waren schon überall hellgrüne Blätter an Sträuchern und Bäumen und eine weiß blühende Hecke verströmte einen leichten, angenehm süßen Duft. Die großen Fliederbüsche im Garten gegenüber trugen bereits kleine Knospen. So etwas wie eine Art Entspannung überkam Tilda. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass keine Diagnose besser war, als eine schlechte. Und doch war da ihr ungutes Bauchgefühl, das trotzdem alles überlagerte. Es gelang ihr nicht, es abzuschütteln, so sehr sie sich auch bemühte und sich zwang, an etwas anderes zu denken. Je länger sie es versuchte, desto unsicherer wurde sie. In ihrem Kopf dachte und dachte es. Ihr Gehirn fühlte sich wie ein Fremdkörper an, auf den sie keinen Zugriff mehr hatte. Die wenigen klaren Gedanken, die sie festhalten konnte, zerplatzten nach kurzer Zeit wie Seifenblasen. Sie fühlte sich, als hätte sie die Orientierung in ihrem eigenen Leben verloren. Ihr Körper war schwer, als würde er durch einen riesigen Magneten nach unten gezogen. Hinab in die Tiefe, in die Dunkelheit, irgendwohin. Es war eine kalte, unbarmherzige Mischung aus Ungewissheit und Angst. Je länger dieser Zustand andauerte, desto furchtbarer fühlte sie sich. Was, wenn das ihr letzter Sommer wäre? Dr. Umlauf hatte sie so merkwürdig angesehen. Hatte sie am Ende vielleicht Krebs? Oder war sie inzwischen überängstlich und bildete sich das alles nur ein?

Ihr war so übel, dass sie sich zusammenreißen musste, um sich nicht augenblicklich zu übergeben. Sie blieb stehen und hielt sich an dem weiß gestrichenen Gartenzaun des Nachbarhauses fest. Irgendwo bellte ein Hund. Sie atmete tief durch. Passanten gingen an ihr vorbei und sahen sie neugierig an, musterten sie von Kopf bis Fuß. Niemand sagte etwas. Manche von ihnen drehten sich noch einmal um. Tilda musste all ihre Kräfte zusammen nehmen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie rang um ihre Fassung. Vor dem Zaun des Nachbarhauses mit der sonnengelben Fassade stand eine Bank aus Holz. Tilda ging langsam und konzentriert darauf zu. Zögernd setzte sie sich. Sie wollte unbedingt vermeiden, einen hilflosen Eindruck zu machen.

Einen Moment lang schloss sie die Augen. Die warme Frühlingssonne wärmte ihr Gesicht. Hinter ihren geschlossenen Lidern wurde es hell, als sie ihr Gesicht der Sonne entgegen streckte. Was wäre wenn? Was wäre, wenn sie richtig schlimm krank wäre? Was wäre, wenn ihre Krankheit vielleicht unheilbar wäre? Wenn sie daran sterben würde? Jetzt? Bald? Schreckliche Gedanken rasten nur so an ihr vorbei. Tilda nahm einige tiefe Atemzüge und versuchte mit aller Kraft, diese schlimmen Gedanken aus ihrem Gehirn zu verbannen. Verzweifelt bemühte sie sich, positiv zu denken. Vielleicht war ja doch alles gar nicht so schlimm? Vielleicht war alles vollkommen harmlos? Blinder Alarm sozusagen? Vielleicht würde sich ihre Krankheit auch einfach im Nichts verlieren? Dann wären alle ihre Sorgen umsonst gewesen. Vermutlich würde sie sich dann darüber ärgern, sich so aufgeregt zu haben. Sie fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Gab es überhaupt etwas, das sie in ihrem Zustand tun konnte? Tilda versuchte, ihre flatternden Gedanken zusammen zu sammeln wie ein Schäfer seine verstreute Herde auf einer großen Wiese. Es war sehr beschwerlich für sie.

Sie hatte das Gefühl, als habe ein riesiger Krake, der seine Fangarme um ihren Körper und ihren Kopf geschlungen hatte, ihr die Luft zum Atmen genommen. Je länger sie allein auf der Bank saß, desto schlimmer wurde das beängstigende Gefühl. Tilda begann zu frösteln. Ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Sie bemühte sich, das Geräusch zu unterdrücken, aber das war schwer. Die Angst hockte trotzig auf ihrer Brust. Tilda gab sich alle Mühe, gleichmäßiger zu atmen und sich nur noch darauf zu konzentrieren. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Es war eine sehr lange halbe Stunde, bis sie sich zutraute, sich endlich auf den Weg nach Hause zu machen.

Während sie auf dem Heimweg war, überlegte sie, ob sie das Rezept von Dr. Umlauf überhaupt in der Apotheke einlösen sollte. Es wäre ein Medikament gegen Übelkeit, das er ihr verschrieben hatte. Wahrscheinlich würde sie es wenig später, spätestens nach dem Lesen des Beipackzettels, im Badezimmerschrank verschwinden lassen. Sie kannte sich. Sie wollte keine Pillen. Sie wollte eine Diagnose. Solange ihr niemand genau sagen konnte, warum ihr ständig übel war und woher das Druckgefühl in ihrem Bauch kam, wollte sie auf keinen Fall irgendetwas einnehmen. Tilda war sich sicher, dass es eine Ursache für ihre Probleme gab. Es gab für alles eine Ursache, die man finden konnte, wenn man nur ausdauernd danach suchte. Sie seufzte. Wenn es ihr besser gegangen wäre, hätte sie keine einzige Sekunde lang auch nur in Erwägung gezogen, jetzt in die Apotheke zu gehen. Doch ihre Angst war inzwischen gewachsen. Instinktiv spürte sie, dass sie jetzt Kompromisse mit sich selbst machen musste.

Also betrat sie kurzentschlossen die nächste Apotheke. Die Apothekerin war eine reserviert wirkende Dame in mittleren Jahren. Sie hatte ihr dunkles Haar kunstvoll zu einem Dutt aufgedreht, der elegant mit einer kupferfarbenen Haarspange festgesteckt war. Ihre Haut war bleich und ihre grauen Augen musterten Tilda kurz, nachdem sie das Rezept gelesen hatte. Wortlos verschwand sie mit dem Stück Papier nach hinten. Tilda blickte um sich. Die große Uhr an der Wand ihr gegenüber tickte leise. Ansonsten war es vollkommen still im Raum. Sie war die einzige Kundin. Ihr Blick glitt über die Auslagen. Der gesamte Verkaufsraum war vollgestopft mit Regalen, Schränken, Ständern, Postern und Werbeaufstellern. Alles war bunt und fröhlich. Fast schon hatte sie das Gefühl, inmitten eines normalen Supermarktes zu stehen.

Ihr Blick fiel auf ihr eigenes Abbild in dem riesigen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand zwischen den beiden großen Fenstern, durch die man die Passanten draußen vorbeieilen sehen konnte. Ein Dreiklang-Gong ertönte. Zwei ältere Damen betraten miteinander tuschelnd die Apotheke. Tildas Blick verfing sich wieder im Spiegel.

Sie musterte sich. Auf den ersten Blick schien es, als wäre das ihr vertrautes Spiegelbild. Eine junge Frau, schlank, mit blondem Haar, blauen Augen und einer sportlichen Kurzhaarfrisur in dunkelblauer Wetterjacke und hellen Jeans. Tildas Haar war links gescheitelt und ein nach rechts gekämmter Pony gab ihr ein mädchenhaftes Aussehen. Die Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster hereinfielen, ließen es goldfarbenen schimmern. Einige Haarsträhnen hatte der Frühlingswind zerzaust. Mit einem verstohlenen Blick auf die beiden alten Damen strich sie mit der Hand unauffällig darüber. Tilda sah sich im Spiegel an, als sähe sie sich zum ersten Mal. Ihre sonst so klaren Augen schauten ihr ungewohnt trüb und tiefliegend entgegen. Darunter zeichneten sich dunkle Ränder ab. Ihre Lidränder wirkten gerötet. Ihre Haut war fahl. Die Helligkeit im Raum unterstrich diesen Eindruck nur noch mehr. Tilda empfand ihre Nase als noch spitzer und noch vorstehender, als gewöhnlich. Sie machte ein bisschen den Eindruck, als wäre sie aus Holz geschnitzt und gehörte gar nicht zu ihrem Gesicht. Ihre sonst vollen Lippen wirkten schmaler als sonst und sehr blass. Sie schienen blutleer und standen kaum noch in einen Kontrast zu ihrer Haut. Die dunkelblaue, winddichte Jacke, die Tilda eigentlich gern mochte, machte im Spiegel den Eindruck, als wäre sie mit ihrem kräftigen Farbton viel zu schwer und viel zu groß für ihren zerbrechlichen Körper. In diesem Moment wirkte sie so massiv an ihr wie eine Rüstung. Tildas Augen wanderten abwärts über die hellen Bluejeans zu ihren in grau-weißen Turnschuhen steckenden Füßen. Sie hatte den Eindruck, als wäre sie insgesamt kleiner geworden, als stünde sie auf eine merkwürdig fremde Art gebeugt. Es war ihr, als trüge sie auf dem Rücken eine unsichtbare Last. Hager sah sie aus, ausgemergelt und übernächtigt. Sie richtete sich unwillkürlich ein wenig auf, bemühte sich, ganz gerade zu stehen. Ihr Spiegelbild veränderte sich dadurch kaum. Sie sah an ihren Oberschenkeln herab, die sichtlich dünner unter ihrer Jacke hervorschauten, als früher. Ihr Blick streifte noch einmal ihre blassen, eingefallenen Wangen. Das blühende Leben sah wahrlich anders aus. Noch fühlte sie sich nicht krankhaft abgemagert. Aber was würde auf sie zukommen, wenn das so weiter ginge? Dieser Gedanke ließ sie nicht los.

In diesem Moment erschien die Apothekerin in dem Durchgang hinter dem Verkaufstresen zurück, der sich in der Wand voller Regale und Schubladen aus dunklem Holz befand. Die Regalreihen über dem Durchgang waren mit alten, dekorativen Salbentöpfen und mit antik anmutenden Aufbewahrungsbehältern aus Porzellan und Glas vollgestopft. Sie trugen verschnörkelte Aufschriften. Links und rechts über der Tür thronten zwei fast identische Mörser aus kupferfarbenem Metall, in denen jeweils ein Pistill steckte wie ein stummer Wachsoldat.

Die Apothekerin notierte schweigend etwas auf dem Rezept und schob Tilda die Packung mit den Tabletten über den gläsernen Ladentisch. „Kennen sie sich damit aus? Dreimal eine Tablette, nicht mehr als maximal fünf am Tag.“, sagte sie eindringlich und ein wenig lispelnd. Tilda nickte stumm, griff nach der Schachtel, zahlte und verabschiedete sich. Die beiden älteren Damen, von denen eine ein fliederfarbenes Filzhütchen keck auf dem weiß gelockten Haar trug, schwatzten derweil munter weiter miteinander und ließen sich gar nicht stören.

Draußen auf der Straße erfasste Tilda eine Art von Erleichterung. Der kühle Frühlingswind fuhr ihr mit seinen kleinen Böen durchs Haar und kühlte ihr Gesicht. Nur ganz langsam fiel die Anspannung des Tages von ihr ab. Eine große Müdigkeit kam. Sie wollte nur noch nach Hause. Morgen Nachmittag würde sie zur MRT gehen. Es war gut, dass der Termin schon so bald war. Sie brauchte endlich Gewissheit darüber, was es war, das ihr die Lebenskräfte raubte. Eigentlich war alles besser, als dieser momentane Zustand der Ungewissheit. Tilda beschleunigte ihre Schritte so gut es ihr möglich war. Sie richtete ihren Blick in die Ferne. Was immer es auch mit ihr nicht stimmte, sie würde es in Kürze wissen. Sie nahm wieder diesen unsichtbaren Sog wahr, der sie scheinbar nach unten, in die Erde zog. Er machte ihre Schritte schwer und drückte ihre Brust zusammen wie ein eisernes Band.

Zwei Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dabei hatte sie sich vorgenommen, nicht zu weinen. Sie wusste, dass Weinen vollkommen nutzlos war. Es würde sie kein Stück weiter bringen. Nichts wurde besser durch weinen. Noch dazu fürchtete sie sich vor den neugierigen Blicken der Leute. Sich gehen zu lassen würde sie nur schwächer und hilfloser machen. Noch schwächer und noch hilfloser, als sie sich ohnehin schon fühlte. Es gab niemanden, der ihr die schwere Last von den Schultern nehmen konnte.

Entschlossen wischte Tilda sich die Tränen mit dem Handrücken fort. Sie blieb einen kleinen Moment lang stehen, um sich zu beruhigen. Währenddessen kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und rief sich ins Gedächtnis, dass sie sich fest vorgenommen hatte, positiv zu bleiben. Ein kleiner, kalter Schauer durchströmte ihre Brust und der Druck im Innern nahm einen Augenblick lang ab, während sie ausatmete. Solange nichts fest stand hatte sie, genau betrachtet, kein Problem. Was sie dachte und was sie befürchtete tat nichts zur Sache. Es war nichts erwiesen, also gab es keinen Grund, sich jetzt verrückt zu machen.

Die Menschen gingen an ihr vorbei und ab und zu spürte Tilda, wie ein neugieriger Blick sie streifte. Sie schämte sich dafür und gleichzeitig war es ihr auch irgendwie egal. Sie kannte die Leute schließlich nicht. Tilda blickte sich um. Die Stadt um sie herum war eigentlich wunderschön. Warum war ihr das seit Monaten überhaupt nicht mehr aufgefallen? Hier, in ihrem Viertel, war sie mitten in Hamburg und gleichzeitig auch irgendwie auf dem Dorf. Jeder kannte hier jeden. Hier gab es kleine Vorgärten und mehrgeschossige Wohnblocks mit Kinderspielplätzen, den kleinen Kiosk um die Ecke und den großen Supermarkt am Ende der Straße. Da waren postmoderne Häuser aus Glas und Beton neben alten Gemäuern, die liebevoll restauriert und saniert waren. Hier gab es Wasser und Wind, Bäume und Beete, Kultur und Unkultur, Intelligenz und Dummheit, Reichtum und Armut, breite Straßen und verträumte, schmale Wege. Alles war hier vorhanden.

Es war später Nachmittag geworden. Tilda blickte nach oben in den blassblauen Himmel, der sich schon auf den Abend vorzubereiten schien. Einige Federwolken zogen schnell vorbei, so als wären sie auf der Durchreise und hätten es eilig. Wolken waren immer auf der Durchreise. Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn und gab sich einen Ruck, steckte das Taschentuch zurück in ihre Handtasche und zog den Reißverschluss zu. Wie auch immer es kommen würde, sie musste jetzt da durch. Es gab keine andere Möglichkeit für sie.

Mit beschleunigtem Schritt bog sie um die Ecke. Drei kleine, etwa sechsjährige Mädchen mit fliegenden Röcken und ein etwa ebenso alter Junge in einer blauen Latzhose und einem orangefarbenen T-Shirt hüpften lachend über die mit bunter Kreide bemalten Platten des Gehweges. Tilda machte einen großen Bogen um sie, um das Kreidekunstwerk nicht zu beschädigen. Eines der Mädchen mit weizenblonden, langen Zöpfchen kicherte halblaut ein „Dankeschön!“ hinter ihr her. Ein Hund kläffte in der Nähe. Sie erkannte ihn sofort. Es war der Hund aus dem Nachbarhaus. Ein rostbrauner, halbhoher Mischling mit weißen und schwarzen Flecken, der ganz offensichtlich aus ungezählten Hunderassen hervorgegangen war. Es war ein Hund mit dickem Körper, kurzen Stummelbeinchen und zwei überdimensionalen Schlappohren. Zwei freundliche, schwarze Knopfaugen und eine schwarze Nase rundeten seine ungewöhnliche Erscheinung ab. Dieser Hund hörte auf den Namen „Struppi“. Der Name stimmte insofern, weil Struppi die meiste Zeit des Jahres unter irgendeiner Hautkrankheit litt. Während dieser Zeit machte Struppi seinem Namen alle Ehre. Am anderen Ende der Leine ging „Struppis Herrchen, Günter Schröder. Tilda kannte den Mann aus dem Nachbarhaus nur vom Sehen. Er war undefinierbaren Alters und hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit seinem Hund, was den dicken Bauch und die kurzen Stummelbeine anging. Bei den Ohren gab es allerdings einige Abweichungen und auch seine Nase hatte eine andere Farbe. Es war kein Wunder, dass alle in der Umgebung Struppis Herrchen hinter vorgehaltener Hand nicht „Herr Schröder“ nannten, sondern „Herr Struppi“. Tilda war sich ziemlich sicher, dass er nichts davon wusste. Sogar ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, jetzt, wo sie daran dachte.

Einen Augenblick später war sie vor dem Haus mit der Nummer 125 in der Wentorfer Straße angekommen, in dem sie gemeinsam mit Ludwig eine Dreizimmerwohnung im vierten Stock bewohnte. Sie blieb einen Moment lang vor der Haustür stehen und suchte in den Abgründen ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. An dieser Stelle stand sie mindestens einmal täglich und wühlte in ihrer Handtasche. Es war schon fast ein Ritual, das zwar nie geplant war, aber trotzdem jeden Tag wieder stattfand.

Während sie den Haustürschlüssel bereits im Schloss drehte, streifte ein kurzer Blick die Fassade des Hauses. Es sah ehrwürdig und gediegen aus mit seiner liebevoll sanierten, roten Backsteinfassade und den gemauerten Zierverbänden darin. Es war ein Schmuckstück aus einem anderen Jahrhundert, das nichts von seinem Glanz verloren hatte. Sie schloss die weiße, hölzerne Tür auf. Im Treppenahaus roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee und einem Putzmittel mit Blütenduft. Tilda nahm den Lift in den vierten Stock. Normalerweise nahm sie immer die Treppe, aber jetzt fühlte sie sich zu schwach dafür.

Ludwig war schon zu Hause, als sie die Tür zur Wohnung aufschloss. Er war gerade damit beschäftigt, seine Sporttasche zu packen und kam ihr sofort entgegen.

Während er seine Arme ausbreitete, um sie zu begrüßen, sagte er vorwurfsvoll: „Na endlich, da bist du ja! Wo warst du denn nur so lange? Warst Du schon bei Dr. Umlauf? Was sagt er?“ Tilda befreite sich aus seiner Umarmung und zuckte mit den Schultern. „Ja, ich war da. Was er sagt? Nichts!“ Tilda hob erneut ihre Schultern. „Er hat nichts gesagt. Aber er hat mich für morgen zum MRT überwiesen.“ Ludwig nahm sie noch einmal in die Arme und drückte sie fester an sich. Er roch nach frischem Kaffee und irgendwie auch nach Schokolade und nach Erdnüssen. Er strich ihr eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und sah sie fragend an. Seine wasserblauen Augen blickten besorgt auf sie herab. „Was soll das heißen, er hat nichts gesagt? Also weißt Du noch gar nichts?“ Er sah sie aufmerksam an. Sofort schossen ihr wieder die Tränen in die Augen, so wie vorhin auf der Straße. Ludwig hielt sie an beiden Schultern fest, verstummte und runzelte besorgt die Stirn, während er weitersprach: „Das sind aber irgendwie keine guten Nachrichten. Leg´ dich erstmal hin. Du siehst müde aus!“ Er ging wortlos ins Schlafzimmer und holte die neue Wolldecke mit dem rot/blau/weißen Schottenkaromuster aus dem großen Kleiderschrank, die seine Eltern ihnen von ihrer Schottlandreise im letzten Herbst mitgebracht hatten. Tilda fröstelte. Die Decke kratzte zwar ein wenig, aber sie wärmte ganz ausgezeichnet. Es war eine großartige Decke, auch wenn Tilda die Eltern von Ludwig wegen ihrer Spießigkeit und wegen ihrer aufgeblasenen Art nicht besonders gern mochte. Jetzt zog sie ihre dunkelblaue Jacke aus. Während Ludwig sie an die Garderobe hängte sagte er: „Ich muss zwar gleich los, bin eigentlich schon weg. Aber soll ich dir noch einen Tee machen bevor ich gehe?“, Tilda nickte langsam, während sie sich wie ein Stein auf die hellgraue Couch im Wohnzimmer fallen ließ. Im Grunde war es ihr ganz recht, dass er jetzt zum Sport gehen wollte, obwohl sie auch irgendwie auf seinen Beistand gehofft hatte und ein wenig enttäuscht war. Bevor Ludwig in die Küche ging, um Tee zu machen, breitete er die Schottenkaro-Decke über ihr aus. Tilda schloss die Augen. Sie war innerlich so unruhig, dass sie unmöglich schlafen konnte. Kalte Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Sie lag ganz still und wartete, bis ihr Atem und ihr Geist sich beruhigt hatten. Sie lag einfach nur so da und öffnete wieder die Augen. Irgendwann begannen die in dem gemütlichen Wohnzimmer umher zu wandern. Ein kleines Lächeln trat auf ihr Gesicht. Das Lächeln war winzig klein, aber es fühlte sich gut an und sah noch besser aus. Leider war da niemand, der es sehen konnte. Es war das erste Lächeln nach den vielen Stunden der Anspannung an diesem Montag.

Tilda war einfach nur glücklich, wieder zu Hause zu sein. Sie liebte ihre gemütliche Wohnung über alle Maßen. Ludwig und sie hatten hier so viel Liebe, Zeit und ihre gesamten Ersparnisse investiert. Das konnte man sehen und auch fühlen. Tilda liebte ihr großes Wohnzimmer. Diesen hellen, sonnendurchfluteten, freundlichen Raum mit den vielen Büchern, dem Holzdielen-Fußboden, den weißen Möbeln und dem Sammelsurium aus bunten Blumentöpfen vor der riesigen Fensterfront, die hinaus auf die Dachterrasse führte. Dort sah sie, wie sich die blau-weiß gestreifte Markise im Wind der frühen Dämmerung wiegte. Offenbar hatte Ludwig sie geöffnet, als er nach Hause gekommen war und die Nachmittagssonne mit Kraft gegen die großen Glasscheiben geschienen hatte. Schnell konnte es auf diese Art unerträglich warm im Raum werden. In Gedanken ging Tilda jetzt weiter durch ihre Wohnung. Sie schloss die Augen und ging hinaus aus der Wohnzimmertür, durch den Flur, hinein in die kleine Küche mit den schicken Einbaumöbeln, den vielen Gewürzen, dem Chaos der vielen Kochutensilien und den großen Dachfenstern, dem gemütlichen Essplatz in der Ecke mit den Familienfotos und dem Gummibaum, der mittlerweile schon bis zur Decke reichte. Nachdem sie in Gedanken einmal den Gummibaum umrundet hatte, spazierte sie wieder durch den Flur zurück, huschte an den eingebauten Schränken aus Lärchenholz vorbei und stand wenig später mitten im Schlafzimmer. Sie konnte in Gedanken alles haargenau vor ihrem geistigen Auge sehen. Hier standen die gediegenen, alten Möbel, die sie gemeinsam mit Ludwig in München auf einem Flohmarkt gekauft hatte und die ein Schulfreund von ihr mit viel Sachkenntnis und Liebe zu einem zweiten Leben erweckt hatte. Den großen Schrank mit den vier Türen und den Verzierungen, das Doppelbett mit dem würdevoll geschwungenen Giebel, die Kommode mit den Schmuckelementen aus Perlmutt und die alte Seefahrertruhe, in der sie ihre Wintersachen aufbewahrte. Einen Moment lang sinnierte Tilda darüber, ob es tatsächlich stimmte, dass an alten Möbeln immer noch die Energien der Vorbesitzer hingen und so Unglück ins Haus gebracht werden konnte. Tatsache war allerdings, dass es wohl in ihrem Falle nette und freundliche Leute gewesen sein mussten, denen die Möbel in ihrem ersten Leben gehört hatten. Von Negativität hatte Tilda noch nie etwas gespürt. Und doch: War sie am Ende vielleicht deshalb krank? Die Frage kam ihr in den Sinn, ob es vielleicht böse Flüche gab.

Nach kurzem, nachdenklichem Innehalten wandten sich ihre Gedanken erneut dem Flur zu und gelangten so ins Badezimmer. Das Badezimmer war der einzige Ort, der Tilda in ihrer Wohnung nicht gefiel. Der Fußboden war mit glänzenden schwarzen und weißen Fliesen ausgestattet, die einem Schachbrett ähnelten. Das wirkte kalt und ungemütlich und schaffte die Atmosphäre einer Bahnhofs-Wartehalle. Der übrige Raum war glänzend weiß gefliest. In Augenhöhe führte eine schwarz-weiße Fliesen-Bordüre mit geometrischen Mustern einmal um den gesamten Raum herum. Das Badezimmer hatte in Tildas Augen den spröden Charme eines Vorstadtkrankenhauses. Es war vermutlich dem entgleisten Geschmack eines jungen Architekten entsprungen, der alles besser, alles schöner, und vor allem alles ganz anders machen wollte. Tilda hatte zwar versucht, die kalte Ausstrahlung des Badezimmers mit ein wenig Dekoration abzumildern, aber bei so viel schwarz und weiß hatte sie nur wenig Erfolg damit gehabt. Es blieb einfach schwarz und weiß und dieser scharfe Kontrast erschlug sie förmlich jedes Mal neu, wenn sie die Tür des Raumes öffnete.

Tilda hörte ganz entfernt an dem Klappern, das aus der Küche drang, dass Ludwig sich offenbar immer noch mit der Zubereitung ihres Tees beschäftigte. Merkwürdigerweise fühlte sie sich plötzlich besser. Genau genommen fühlte sich mit einem Male viel besser. Sie unterdrückte aber das Verlangen, sofort aufzuspringen und wartete auf den Tee. Sie war beinahe eingeschlafen, als er kurz darauf mit einer großen Tasse zur Tür hereinkam. Tilda pustete über das dampfende Getränk und nahm einen kleinen Schluck davon. Es war Kamillentee. Er schmeckte ein bisschen wie eingeschlafene Füße, aber Ludwig hatte es gut gemeint.

Etwa zwei Minuten später fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Tilda hatte ihn nicht zurückgehalten. Vielleicht wäre er geblieben, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Durch das leicht geöffnete Fenster hörte sie, wie Ludwig unten vor dem Haus den Range Rover startete und davonbrauste. Ein Range Rover war schon lange sein Traum gewesen. Er hatte sich so sehr gefreut, als er ihn sich nach langem Hin und Her schließlich doch vor kurzem gekauft hatte. Tilda war richtig ein wenig eifersüchtig gewesen, obwohl es schon verrückt war, auf ein Auto eifersüchtig zu sein. Am liebsten hätte Ludwig sein Auto vermutlich mit nach oben in die Wohnung genommen und hätte es mitten im Wohnzimmer geparkt. Tilda war allerdings von Beginn an gegen den Range Rover gewesen. Sie war auch jetzt noch der Meinung, dass er keine so große Kiste brauchte. Natürlich war das ein schönes Auto. Aber darum ging es nicht.

Was sollten Ludwig und sie in Hamburg mit so einem überdimensionierten Schlitten anfangen? Die meiste Zeit über stand der Kasten auf einem Parkplatz vor dem Haus im Freien, denn Ludwig und sie fuhren normalerweise mit Bus und Bahn zur Arbeit. Nur selten nahm Ludwig das Auto. Und wenn sie seine Eltern in München besuchen wollten, dann waren sie bisher immer geflogen. Das war sogar oft noch billiger und ging schneller. Im Grunde war Tilda überzeugt davon, dass man in einer Stadt wie Hamburg eigentlich überhaupt kein Auto brauchte. Selbstverständlich war es zum Einkaufen nützlich. Aber es war den Dingen wie Wasserflaschen, Waschpulver, Kartoffeln, Äpfeln und Brot vollkommen egal, in welchem Auto sie nach Hause gekarrt wurden. Irgendein Kleinwagen, so wie ihr in die Jahre gekommener, roter Nissan, hätte es auch getan.

Sich wie Ludwig regelrecht in ein Auto zu verlieben, das konnte wahrscheinlich nur ein Mann. Tilda wusste, dass sie sich in dieser Hinsicht mit ihrer Freundin Conny einig war. Männer und ihre Autos, das war immer so eine Sache. Dabei hatte sie vor dem Kauf noch rechtzeitig interveniert. Genau dieses Modell war es, das in letzter Zeit in Deutschland am häufigsten gestohlen wurde. Jede neue Polizeistatistik sagte das aus. Und Ludwigs Wagen stand Tag und Nacht draußen auf der Straße, mitten im Stadtgebiet. Wenn das keine Einladung für Diebe war! Zweifellos tat es der deutschen Wirtschaft gut, wenn es immer wieder Menschen gab wie Ludwig, die die neuesten, teuersten, größten oder schicksten Autos mit allem Schnickschnack haben wollten. Aber musste Ludwig auch zu denen gehören, die ihr Geld auf diese Art und Weise vernichteten? Er, der ansonsten extrem sparsam war, zumindest was die Ausgaben für den gemeinsamen Haushalt anbelangte. Da war er oft regelrecht geizig. Tilda hatte sich schon so manches Mal darüber geärgert. Sie fand Geiz schrecklich unattraktiv. Für sie war das beinahe die schlimmste Eigenschaft, die ein Mensch haben konnte. Das Merkwürdige aber war, dass sich Ludwig im Gegensatz zu seiner sonstigen Sparsamkeit bei Ausgaben für sich selbst wesentlich großzügiger zeigte. Er war im Grunde genommen ein Geizhals, der sich mit einem Range Rover belohnt hatte. Das war schon skurril.

Langsam erhob sich Tilda. Inzwischen fühlte sie sich besser. Sorgfältig legte sie die schottische Wolldecke zusammen. Mit einem kleinen Schwung warf sie das Bündel auf die Lehne der Couch. Sie fühlte sich wieder gut, eigentlich vollkommen beschwerdefrei. Früher, noch vor Wochen, hatte sie jedes Mal in so einer Situation gehofft, sie hätte ihre Krankheit überwunden. Leider hatte das nie gestimmt. Ihre Anfälle von Schwäche und Übelkeit, zu denen sich zuletzt auch noch Durchfall eingestellt hatte, kamen im Laufe der Zeit in immer kürzeren Abständen. Es war keine Besserung in Sicht.

Nachdenklich ging sie in die Küche und brachte ihre leere Tasse zurück. Sie stellte sie in den Geschirrspüler. Wider Erwarten hatte sie es tatsächlich geschafft, den Kamillentee auszutrinken. Er hatte ziemlich fade geschmeckt, doch sie hatte ihn zügig und mit voller Verachtung hinuntergeschluckt. Als er nur noch lauwarm war, gelang ihr das besser. Jetzt hinterließ die Kamille einen merkwürdigen, trockenen Nachgeschmack in ihrem Mund.

Vielleicht war es der Tee, vielleicht war es auch ihr zu Hause, die Geborgenheit in ihren eigenen vier Wänden, die die Besserung herbeigeführt hatten. Tilda wusste es nicht.

Wie ein Blitz durchzuckte sie plötzlich die Erinnerung an ihr letztes Telefonat mit Ludwigs Mutter. Ludwigs Eltern hatten sie beide neulich erst wieder nach München eingeladen. Ein ungutes Gefühl machte sich in Tilda breit. Sie würde mit Ludwig nach München fliegen müssen. Aber würde sie das in ihrem momentanen Zustand überhaupt schaffen? Von Hamburg nach München dauerte die Reise alles in allem gut dreieinhalb Stunden. Tilda spürte eine innere Abwehr in sich, die sich ausbreitete wie gärende Hefe. Ludwigs Eltern waren eigentlich nett, aber sie waren auch sehr konservativ und festgefahren in ihren Gewohnheiten. Sie legten jedes Wort, das gesagt wurde, auf die Goldwaage. Und sie mussten immer sticheln, weil sie es nicht ertragen konnten, dass ihr Sohn so weit entfernt von ihnen in Hamburg lebte. Das gehörte sich in ihren Augen einfach nicht. Am liebsten hätten sie es gesehen, wenn ihr lieber Goldjunge Ludwig direkt in ihre Nähe gezogen wäre. Es wäre ihnen sicher auch egal gewesen, wenn er sich dafür von ihr hätte trennen müssen. Für Tilda war es vollkommen undenkbar, nach München zu ziehen. Sie liebte den Norden und Ludwig wusste, dass ein Umzug für sie nicht in Frage kam.

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