Читать книгу: «In aller Stille», страница 4

Шрифт:

Aatolij Morosow stand an der alten Kohlenstraße, keine 400 Meter vom Ortsrand Benfes entfernt und versuchte zum x-ten Male, Kontakt zu Jegor Solowjow zu bekommen. Nichts! Seit eineinhalb Stunden einfach nichts.

Für Spaziergänger und solche Zeitgenossen, die allzu neugierig hier draußen einfach mal vorbeikamen, hatte er es sich gemütlich gemacht, vor seinem Wohnmobil, das er am Rande des schmalen asphaltierten Weges geparkt hatte. Sonnenschutz ausgefahren, Tisch und Campingstuhl raus, eine Thermoskanne Kaffee samt Geschirr, Gebäck und einen Agenten-Thriller von Len Deighton. ‚French Cooking for Men’ in englischer Originalfassung. Alles wirkte perfekt. Wie auf dem Prospekt eines Campingplatzes.

Aber dem emeritierten Professor für Atomphysik an der staatlich Technischen Universität des Uralgebietes in Jekatarinburg war alles andere als nach Camping. Und auch nicht nach unglaublichen Erlebnissen eines Agenten. Morosow ging es um die nackte Existenz. Wieder bemühte er Solowjows deutsche Handynummer. Doch der Ruf ging ins Leere.

Andere Kontaktwege gab es nicht. Das hatten sie zu Beginn ihrer Odyssee so vereinbart. Keine Mailbox, kein WhatsApp, keine sozialen Netzwerke. Und alle drei Tage Wechsel der Chipcard. Pünktlich 24 Uhr Mitternacht. Mit Prepaid-Nummern, die sie sich, einer vom anderen, in festgelegter Reihenfolge notiert hatten.

Sie hatten den unglaublichsten Coup überhaupt geplant. Und sie hatten ihn auch durchgeführt. Den Diebstahl von 20 Flak-Kanonen MK 20 Zwilling inmitten der tiefsten deutschen Provinz. Einen Coup, der in 25 Minuten hatte über die Bühne gehen müssen. Sonst wäre womöglich alles den Bach runter und sie in den Knast gegangen. Es sei denn, sie hätten scharfe Waffen eingesetzt, wenn sie vom Wachdienst erwischt worden wären. Aber das hatte der Professor von vornherein ausgeschlossen.

Ihr dreister Klau im Industriegebiet Berghausen/Raumland hatte ein Politikum sondergleichen ausgelöst. Vor allem deshalb, weil ein Mitarbeiter der geschädigten Firma schon wenige Stunden nach der Tat die Presse informiert hatte. Sonst wäre die Geschichte womöglich schön unter der Decke einer staatlich verordneten Verschwiegenheit gehalten worden. Und gerade weil die Sache so viel Staub aufgewirbelt hatte, taten die Täter gut daran, schön in der Deckung zu bleiben. Mit ihrem brisanten Diebesgut.

Fieberhaft hatte die Polizei wochenlang intensivst im In- und Ausland nach den Geschützen gefahndet, die sie da geklaut hatten. Aber die Illusion, dass solche „Lieferungen“ irgendwo und irgendwann ruchbar werden, trog sie. Sowohl offizielle, als auch und vor allem suspekte Abnehmer, waren beobachtet und abgeklopft, verdeckte Lieferwege durch ebenso verdeckte Ermittler beobachtet und Erkenntnisse Wissender abgeschöpft worden. Nichts. Die Fahnder fanden nicht eine einzige der Flugabwehrkanonen. Die gebrauchten Waffen für einen Schwarzmarktwert von mindestens 600.000 Euro schienen sich förmlich in Luft aufgelöst zu haben. Schienen. Denn sie existierten sehr wohl. Und zwar hier in Benfe. Direkt vor Morosows Nase. In einer von zwei alten Feldscheunen am Rande der noch viel älteren Kohlenstraße.

Auf dieser geschichtsträchtigen Route hatten einst die Köhler aus den waldreichen Gebieten des Wittgensteiner Landes ihre Holzkohle auch zu den Eisenhütten im benachbarten Siegerland gefahren. Im Gegenzug waren ihnen die Siegerländer mit ihren Eisenwaren auf der alten Eisenstraße entgegengekommen. Nicht mal 800 Meter voneinander entfernt. Und jetzt lag zwischen diesen beiden Straßen die hoch brisante Fracht für deutlich mehr als eine halbe Million. In dieser uralten Bude, die der Professor sehr genau im Blick hatte.

In einer Nacht- und Nebelaktion hatten sie die 100 Kisten hierher geschafft. An einem Wochenende im Februar. Eine Ochsentour, die an so vielen Ecken hätte scheitern können. Aber es hatte geklappt. In nur 25 Minuten, in denen sie weder dem Wachdienst noch der Polizei auch nur den Hauch einer Chance gegeben hatten. Mit vier Mann, einem Sattelzug, einem Abschleppwagen und einem Gabelstapler hinten drauf waren sie rein ins Gelände, hatten ein Tor geknackt und die Kisten rausgeholt und verladen. Das war Präzisionsarbeit vom Feinsten. Zumal die oberen Kisten jeweils einzeln mit Holz unterlegt und verzurrt werden mussten. Sonst wären sie womöglich über die Ladebordwand nach draußen gerutscht. Und dann die Fahrt mit dem richtig voll beladenen Lastzug. Sie durften nicht auffallen. Denn in dem sonst recht lebendigen Industriegebiet gab es in Samstagnächten keinerlei LKW-Verkehr. Und auch auf den Straßen bis nach Benfe waren solche Transporte von Samstag auf Sonntag absolute Seltenheit.

Allerdings waren sie auch zu einer Zeit unterwegs, in der brave Bürger in aller Regel schlafen. Nur nicht in Berghausen. Dort war in dieser Nacht eine Mordsfete gelaufen, die zweimal die Polizei aus Bad Berleburg auf den Plan gerufen hatte. Jedes Mal mussten die Beamten von der Kurstadt aus rüber nach Berghausen fahren, um Frieden zu stiften, unter Streithähnen. Hätten die Jungs bei ihrer ersten Alarmfahrt den Stöppel herunter einmal nur bewusst schräg über die Wittgensteiner Straße hinweg geschaut, dann wäre ihnen womöglich ein Lastzug aufgefallen, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern direkt auf dem Bahnübergang stand. So aber hatten sich die Uniformierten wohl lediglich auf ihren Einsatz konzentriert und dabei das Blaulicht kreisen lassen.

Dessen Schein hatte Jegor Solowjew zum Glück rechtzeitig gesehen und abartig schnell reagiert. Licht aus, voll in die Bremse steigen und damit den LKW-Motor abwürgen, waren eins. Camil Czoch wäre ihm um ein Haar mit dem Abschleppwagen samt Gabelstapler hinten reingefahren.

Erst als sie beim Gasthof Kunze um die Ecke waren und auf dem Weg in Richtung Ederbrücke, fühlten sie sich wieder halbwegs sicher. Hinter der Brücke, beim Gasthof Klinker, waren sie noch kurz Schritt gefahren, damit Morosow abspringen und in sein dort abgestelltes Wohnmobil steigen konnte. Das ging erstaunlich schnell bei diesem älteren Herrn. Noch vor der Leca-Kurve hatte er die beiden anderen Fahrzeuge überholt und konnte so als Scout vorausfahren. Mit Abstand von etwa einem Kilometer. Damit er die anderen bei Gefahr per Mobilfunk hätte warnen können. Aber bis auf wenige Personenwagen und einen offenbar desorientierten Traktor mit Schneepflug und rotierendem Gelblicht war ihnen nichts und niemand entgegengekommen.

Bei der Planung der Strecke hatten sie noch überlegt, ob sie nicht Wege fahren sollten, die durch noch schwächer besiedeltes Gebiet führen. Über Hemschlar, Rinthe und Rohrbach zum Beispiel. Aber sowohl Morosow als auch Solowjew hatten dafür plädiert, auf Bundesstraßen zu bleiben.

Was allerdings dazu führte, dass jeder einzelne von ihnen wenigstens in Weidenhausen, Schameder und besonders in Erndtebrück Schweißausbrüche bekam. In Erndtebrück vor allem, weil der Ort nicht nur bedeutend größer ist. Hier mussten sie auch die Bergstraße hinauf, die bis hinter Kirche und Schulstraße ordentliche Steigungen aufweist. Welche Motorengeräusche ein voll beladener 40-Tonner mit über 400 PS auf solchen Etappen entwickelt, hatten sie zwar alle mit einkalkuliert. Als sie diese aber in dem totenstillen Erndtebrück hörten, standen allen Beteiligten die Haare zu Berge. Sie hatten bewusst ihre Seitenfenster hinuntergelassen. Um auf eventuelle Regungen vielleicht noch rechtzeitig reagieren zu können. Aber das hier jagte ihnen jetzt Serienschauer über den Rücken. Bei Solowjew führte der von den Häusern reflektierte Lärm dazu, dass er die Zehen beider Füße einrollte und verkrampfte.

Letztlich aber war alles glattgegangen. Auch Ludwigseck und Benfe hatten sie durchfahren, ohne dass auch nur ein Licht hinter den geschlossenen Jalousien und Vorhängen angegangen wäre. Und dass sie mit dem Lastzug am Waldheim halbrechts in die Kohlenstraße förmlich hinein gerauscht waren, hatte nicht einmal die aufgeweckt, vor deren Haus selbst bei Tag solch schwerer Verkehr niemals vorkam. Es war eine reine Wohnstraße, die sachte bergauf ging.

Knapp 400 Meter weiter feldeinwärts bog der Geisterzug ohne jede Beleuchtung links ab. Die Fahrer der drei Fahrzeuge trugen jetzt Nachtsichtgeräte. Jedes Scheinwerferlicht in der dunklen Flur hätte sie jämmerlich verraten.

Was ihnen zupass kam in jener Nacht, war die starke Bewölkung. Sonst hätte ihnen womöglich der noch fast volle Mond einen Strich durch die Rechnung gemacht. „Vollidiot“ hatte sich Morosow selbst geheißen, als er begriff, welchen Bock er da bei der Feinplanung gebaut hatte. An alles hatte er gedacht. Sogar an Abkleber für die Kabineninnenbeleuchtung der Fahrzeuge. Kein verdächtiger Lichtschein sollte sie verraten. Und dann vergaß er den Mond.

Doch wer weiß, wofür es gut war, dass sie in dieser Nacht trotzdem zugeschlagen hatten. Wer weiß, ob die Waffen noch längere Zeit bei der Lackierfabrik gelagert hätten, wo sie rein äußerlich wieder in Schuss gebracht worden waren. Sie waren bei der Bundeswehr bereits 1992 ausrangiert worden. Die meisten von ihnen niemals scharf beschossen. Aber das Militär mancher Staaten setzt solche hoch präzisen Waffen noch heute ein. Und daher hatte der Bund beschlossen, die in Depots abgestellten Zwillings-Flaks technisch checken und anschließend neu lackieren zu lassen. Bevor sie ins Ausland verkauft oder gegen entsprechende Gegenleistungen „verbracht“ werden sollten.

Das alles hatte Morosow gewusst. Von einem Gewährsmann. Auch, wo der letzte Schliff stattgefunden hatte und wie die Einzelteile nun verpackt waren. Pro Geschütz fünf Kisten. Die schwersten und breitesten für Lafette und Drehgestell, die beiden längsten für die Geschützrohre. Und noch eine kompakte für Motor, Visiereinrichtung und so weiter. Alles fein sortiert und beschriftet von den WiLaS, den „Wittgensteiner Lackspezialisten.“ Die Firma hatte sich spezialisiert auf Pulverbeschichtungen von Heizanlagen und großen Belüftungseinheiten, wie sie in Industriebauten zur Anwendung kommen.

Von der Revitalisierung der Kanonen hatte sich Roland Grundmann, der Firmengründer und Chef, ein kleines Zusatzgeschäft versprochen. Aber jetzt, wo die ersten 20 Flaks spurlos verschwunden waren, hatte er nur Ärger. Polizei und Militärischer Abschirmdienst gaben sich bei ihm seither die Klinke in die Hand. Und weitere Aufträge des Bundes blieben aus nachvollziehbaren Gründen ebenfalls aus.

„Okay, dann fangen wir mal an. Glauben Sie, wir brauchen einen Dolmetscher?“ Corinna hatte es sich mittlerweile hinter ihrem Schreibtisch so gemütlich wie möglich gemacht. Born gleich auf dem Stuhl nebenan. Und ihnen gegenüber saß, nunmehr relativ entspannt, Wadim Plosicz. Der Mann, der bereit war alles auszusagen und zu bezeugen, was er am Nachmittag erlebt hatte.

„Njet, glaube ich nicht“, hatte der Litauer geantwortet und in ein Graubrot mit Schinken gebissen, das ihm, gemeinsam mit zwei weiteren Wurststullen von der Kantine spendiert worden war. Als Getränk gab’s eine Flasche Cola light dazu. Hungrig kaute der Mann jeden einzelnen Happen durch. Er hatte wohl schon lange nichts mehr bekommen.

Fast 20 Minuten ließen sie den ehemaligen Holzbildhauer erzählen, ohne auch nur einmal zu unterbrechen. Seine Lebensgeschichte und die seiner Familie, die Gründe für seine berufliche Veränderung, den Stress in der Firma, den Betrug mit den Lenkzeiten und seine Entführung. Er erzählte alles haarklein und sprach dabei ein recht gut verständliches Deutsch. So konnte Corinna prima folgen und Obermeister Born jede Menge Notizen machen, ohne nur einmal nachzufragen.

Dann kamen sie zu dem Punkt, an dem versuchter Mord im Spiel war. Natürlich musste er erklären, warum er auf der Ladefläche mitgeholfen hatte, den zusammengeschlagenen Camil Czoch hoch zu heben – auf die Schulter des Russen. Weder Corinna noch Born nahmen an, dass er den Mann aus dem Truck geworfen hatte. Dafür reichten seine Kräfte ganz offensichtlich nicht aus. Aber immerhin hätte er ja geholfen haben können.

„Ich brienge keine Mienschen um. Bitte, glauben Sie mir. … Natürlich, ich chatte Angst, dass mich diese Mann auch schlagt mit Eisen auf Kopf. Dacher chabe gecholfen bei Chochcheben. … Nur …, einfach Mann aus Lastzug werfen, wo chat vorrherr nix getan. Njet. … Nein. Chätte mich erschlagen missen. Bestimmt!“

Er hatte sich wirklich nichts vorzuwerfen, unter diesen Umständen. Aber Plosicz verfluchte nun schon zum x-ten Male den Moment, in dem er in die Dienste dieser Verbrecherfirma getreten war. Nur, hatte die überhaupt mit den Machenschaften dieses furchtbaren Menschen zu tun? Der Mann aus Kaunas würde das nicht mehr klären können. Er wollte es auch nicht mehr klären. Es war einfach alles zuviel. Und zum ersten Mal konnte er nach diesen furchtbaren Erlebnissen fühlen, wie die Anspannung von ihm wich. Er begann haltlos zu weinen. Betretene Stille trat ein im Büro.

Eine Etage tiefer und ein paar Räume weiter hinten im Gebäude der Polizeiwache Bad Berleburg harrte Jegor Solowjow aus Nowosibirsk seiner Vernehmung. Er saß im Verhörzimmer, die Hände auf dem Rücken gefesselt und grinste den Beamten an, der an der Tür Posten bezogen hatte, um ihn zu bewachen. Der Trucker machte sich einen Spaß daraus, den Polizisten förmlich tanzen zu lassen. In unregelmäßigen Abständen sprang er kurz auf. Was dazu führte, dass der Uniformierte sofort in Abwehrstellung ging, um einen eventuellen Angriff abwehren zu können. Dann lachte der Gefesselte laut und setzte sich wieder.

Der Polizist wusste, dass Russen deutsche Polizisten grundsätzlich für Weicheier hielten.

Er war nicht dabei gewesen am Nachmittag in der Limburgstraße. Aber die Kollegen hatten ihm berichtet und beschrieben, welch brutalen Verbrechens dieser Typ bezichtigt wurde und wie sein Opfer aussah. Der arme Hund wurde nun schon seit Stunden in der Uniklinik Gießen notoperiert. Keiner wusste, ob er durchkommen würde. ‚Und der Täter sitzt hier und macht mit mir den dummen August. Nicht zu fassen.’

„Die Zahl seiner Brüche kann ich im Augenblick nur schätzen“, sprach Dr. Kölblin in das ihm hingehaltene Handy. „Aber eines kann ich jetzt schon mit Gewissheit berichten. Er ist mehrere Tode gestorben, wie wir Rechtsmediziner sagen. Sein Genick ist gebrochen, seine Kehle durchschnitten und sein Brustkorb zerquetscht. … Wie bitte?“ Angespannt hörte er in die Muschel und zog dann die Stirn kraus. „Ja, länger schon. Wahrscheinlich schon vier, fünf Monate. Schwer zu sagen im Moment. Die Verwesung ist schon sehr weit fortgeschritten. Aber die Gewebeuntersuchungen laufen bereits.“

Auf der anderen Seite saß Klaus Klaiser, den der schwitzende Pathologe im grünen Wickelkittel zum Glück nicht sehen konnte und griff nach seinem Hefeweizen. „Hören Sie, Doc., es wäre schön, wenn ich etwas Habhafteres haben könnte. Damit wir hier endlich mit konkreteren Ermittlungen anfangen können. Wir wissen ja noch nicht mal seinen Namen.“ „Oh, da kann ich vielleicht weiterhelfen. Der Mann hat eine Art Werksausweis oder so was bei sich. Von einer Firma TruckiTRANS in Frankfurt. Demnach heißt er Istwan Jagow und stammt aus Archangelsk. Die Identität ist noch nicht ganz wasserdicht, aber ziemlich. Sorry, hatte ich ganz vergessen zu sagen. Die Luft und die Gerüche hier machen irgendwie besoffen.“

„Können Sie das noch mal wiederholen. Das ging mir zu schnell“, forderte Klaiser.

„Ach Quatsch, wissen Sie was? Ich lasse meinen Assistenten die Sachen schnell auf den Scanner legen und Ihnen zumailen auf´s Smartphone. Ist das was?“

„Das ist super, danke Doc. Und bitte, wenn’s was Neues gibt … Sie erreichen mich auch noch um Mitternacht.“

„Oh, oh. Der Kerl zum Superbullen wird, wenn das Liebesleben stirbt“, witzelte der Leichenfledderer.

„Nix gestorbenes Liebesleben, mein Guter. Mein mich immer noch heftig liebendes Weib, wenn ich das mal mit dem Ausdruck tiefsten Hoffens zum Besten geben darf, weilt derzeit bei den Eltern im Münsterland. Es steht schlecht um ihren Opa.“

„Na gut. Oder auch nicht gut. Dann werd´ ich’s wagen was zu sagen, wenn die Uhren zwölfe schlagen“, dichtete der Pathologe weiter. „Papperlapapp. Ich ruf’ Sie an, wenn’s was Wichtiges zu berichten gibt. Jetzt müssen wir den Bedauernswerten aber erst einmal sauber auseinanderfalten und reinigen. Machen Sie’s gut.“

Wenig später machte sich Klaisers Smartphone bemerkbar. Und er konnte zwischen Rigatoni al Forno und Weizenbier erstmals das Gesicht des Getöteten sehen. Auf dem Passfoto, das diesen seltsamen Ausweis der Firma TruckiTRANS mit der Nummer 89 zierte. Es zeigte einen gepflegten Mann mit feinen, klugen Gesichtszügen, offenbar gezupften Augenbrauen und einer Frisur, die an einen Künstler erinnerte. Die Haare wirr um die Stirn und hinten zusammengebunden.

„Hier, schau mal“, reichte er Jürgen Winter sein Smartphone über den Tisch. „Das ist der Tote vom ‚Wittgensteiner Hof‘.“ Sie saßen im „Ristorante Roma“ am Marktplatz unter einem Sonnenschirm und erlebten fröhliche Menschen um sich herum. Viele Touristen, manch bekanntes Paar. Alle irgendwie mit Superlaune. Und sie hatten einen der widerwärtigsten Mordfälle auf dem Tisch, den man sich überhaupt nur vorstellen kann. „Leiche in Gelee“ hatte Klaus das Opfer genannt, nachdem er es aus der Nähe hatte sehen und vor allem riechen können.

„Lebendig sah der Mann richtig gut aus“, entgegnete Winter. „Was der wohl beruflich so gemacht hat“, sinnierte er. Für ’n Trucker wirkt der mir zu gepflegt“, fügte er an und hob beide Hände. „LKW-Fahrer aller Länder verzeiht mir dieses Urteil.“

„Genau, zu gepflegt“, sagte Klaus Klaiser. „Ich schick’ Dir die Mail einfach weiter auf Dein Smartphone. Schau Du morgen früh bitte mal, ob Du Kontakt zu dieser ominösen Firma in Frankfurt bekommst und ob es irgendwo eine Vermisstenanzeige für Istwan Jagow gibt, aus Archangelsk oder sonst wo her.“

„Was hat’n der Leichenfledderer gesagt? Woran ist er gestorben?“

„Genickbruch, Gurgel durchschnitten und Brustkorb zerquetscht. Jede Menge Tod.“

„Ach du Scheiße. Oh, entschuldige. Das springt mir manchmal einfach so raus, sorry. Aber das klingt ja, als sei der Mann irgendwo in einen Unfall geraten und dann nicht mehr zu retten gewesen.“

„Bist Du bekloppt? Deswegen schneidet man doch niemandem die Kehle durch. Man versucht doch, ihn irgendwie zu retten, oder so.“ Doch irgendwie wollte Klaus an diese Theorie auch nicht so recht glauben. Denn warum war der Tote wohl in einen Sack gestopft und entsorgt worden? „Vielleicht hast Du aber auch recht. Der Mensch ist ja ganz offensichtlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen oder zumindest unter Verbrechern unterwegs gewesen. Die folgen anderen Gesetzen.“

„Bäääh“, triumphierte Jürgen. „Und dann wird ganz schnell ein Schuh aus dieser Geschichte. Lass’ den Mann zum Beispiel Mitglied einer Gang sein, die irgendeinen Bruch, einen Überfall oder sonst was durchzieht. Und dabei passiert das Ungeplante. Er wird meinetwegen auf der Flucht von einem LKW überfahren. Schwerstverletzt und keine Chance auf Überleben, wenn er nicht sofort in eine Klinik kommt.“

„Ja, prima“, schaltete sich Klaus wieder ein. „Aber das ist sehr …“

„Nee, nee, lass’ bitte mal etwas weiterspinnen. Also: der Mann ist rettungslos verloren, kann aber aus nachvollziehbaren Gründen in kein Krankenhaus, ist jedem weiteren Coup im Weg und hat Schmerzen wie ein Vieh.“

„Aha. Und dann kämst Du und würdest ihm den Schlund durchschneiden. Damit er von seinen Leiden befreit wird. Hör doch auf. Das gibt’s doch gar nicht.“

„Ich käme da bestimmt nicht. Aber jemand anders hat’s doch tatsächlich getan. Siehst Du ja hier.“

„Mann, Mann, Mann“, entglitt es Klaus nach einem Moment des Nachdenkens. „Du hast so was von recht. Anders kann es eigentlich gar nicht gewesen sein. Würde mich nur noch interessieren, wobei er sich dann noch das Genick gebrochen hat.“

„Mich auch“, sinnierte Jürgen Winter. „Was für eine Schweinerei.“

Sie machten keinen sonderlich glücklichen Eindruck unter all den fröhlichen Essern und Feierern an diesem Abend. Aber das Bier schmeckte ganz gut. Und Jürgen Winter war recht glücklich darüber, dass sein Hirn nichts abbekommen hatte, bei dem Sturz am Nachmittag. Die Synapsen, glaubte er sogar, arbeiteten besser als zuvor. ‚Kleiner Schlag auf den Hinterkopf fördert das Denkvermögen’, grinste er in sich hinein. ‚Ist wohl doch was Wahres dran.’

Einen Schlag auf den Hinterkopf hätte Kommissarin Lauber diesem arroganten Russen am Tisch gegenüber auch ganz gerne verpasst. Da war sie nicht sehr weit weg von dem Kollegen, der Wache im Vernehmungszimmer gehalten hatte. Ein Macho durch und durch, der sie fortwährend als „Bullenschlampe“ beschimpfte und nicht einmal ansatzweise bereit war, mehr als seinen Namen und seine Herkunft preiszugeben. Jegor Solowjow aus Nowosibirsk. Nichts zu seinen Gründen hier zu sein, nichts über seinen Familienstand, seinen Arbeitgeber. Einfach nur „Jegor Solowjow aus Nowosibirsk, Bullenschlampe.“

„Pass auf, Du widerwärtiger Mistbock“, murmelte sie. Du fährst dermaßen ein, dass Du noch mal nach Deiner Mutter winseln wirst. Du blöder Hund.“ Um dann deutlich lauter zu dem uniformierten Kollegen zu sagen: „Er bleibt bei uns. Bringen Sie ihn in die Zelle, bitte.“

Solowjow begann zu spucken, als der Beamte ihn unter der Achsel griff und ihn damit zum Aufstehen aufforderte. Instinktiv zuckte der Polizist zurück. Was der Russe zu einem riesigen Satz in den Stand und dann nach seitlich vom Tisch weg nutzte. Allein, sein Versuch, aus dem Verhörzimmer herauszukommen, bevor der Uniformierte wieder bei ihm war, scheiterte kläglich. Zum einen lässt sich schließlich eine Türklinke mit zusammengeschlossenen Händen auf dem Rücken nur ganz schwer aufmachen. Zum anderen war die Tür ohnehin verriegelt.

Corinna, die bei der Spuckattacke beinahe mitsamt ihrem Stuhl umgekippt wäre, sprang nun ebenfalls auf und trat dem Russen gegenüber, der jetzt ein wenig jaulend mit geneigtem Haupt und Rumpfbeuge dastand. Dummerweise hatte hinten der Polizist die Hände mit den Handschellen etwas höher angehoben. „Meinen Sie nicht auch, wir sollten ihn so mal ein bisschen an den anderen russischen Gefangenen vorbeiführen, die hier bei uns sitzen? Das wird denen gefallen.“

Der angesprochene Kollege verstand kein Wort und schaute sie ein wenig schäl an. Das konnte der Russe aber nicht sehen. Und auch nicht wissen, dass es hier sonst gar keine Gefangenen gab. Er stierte in seiner misslichen Lage nur nach unten und malte sich diese, für ihn blamable Szenerie wohl fürchterlich aus. Wieder stöhnte er leise.

„Lassen Sie ihn los, diesen Jammerlappen“, bat Corinna Lauber. „Und bringen Sie ihn weg. Ich kann diesen Fiesling nicht mehr sehen.“

Diesmal klappte der Abmarsch reibungslos und ohne Beleidigungen und Spucke. Die hatte es dem Trucker offenbar verschlagen.

Als Corinna zurück in ihr Büro kam, um für sich den Feierabend einzuläuten, fand sie auf dem Schreibtisch einen Zettel vor. ‚Bitte Klaus Klaiser anrufen’. Wollte sie auch sofort tun. Am besten jetzt alles vom Tisch kriegen und dann zu Simon nach Erndtebrück. Ihr Freund, Offizier bei der Luftwaffe, war nebenbei auch noch erfolgreicher Fußballer beim TUS, der gerade erst in die Regionalliga aufgestiegen war. Der arme Kerl hatte sich geschunden wie der Teufel. Fünfmal die Woche Training, um auch ja dabei zu sein, wenn es so richtig zur Sache ging. In der höchsten Klasse, in der jemals ein Wittgensteiner Club gespielt hatte. Das wollte schon was heißen. Das Team hatte sich gut verstärken können. Doch die Konkurrenz war mächtig. Dortmund, Schalke, Köln, Aachen, Düsseldorf. Zwar meist „nur“ die zweite Garnitur dieser Vereine, aber das waren Profi-Clubs. Hoffentlich würde er zuhause sein, wenn sie käme. Vorsichtshalber sandte sie ihm schon mal eine sehnsüchtige WhatsApp. Doch da kam keine Reaktion. Wo war der Kerl bloß?

Klaus jedoch war schnell am Apparat, als sie ihn anrief. Der Gaststättenlärm im Hintergrund verwunderte sie allerdings ein wenig. ‚Schau an’, dachte sie. ‚Kaum ist Ute mal nicht zuhause, schon scharwenzelt der Kerl anderswo herum.’ Aber sie ließ sich nichts anmerken.

„Hör mal“, machte er sich nach kurzer Pause bemerkbar, „ich habe einen Anruf aus der Uniklinik Gießen bekommen. Dieser Kamil Czoch, Dein schwer verletzter Pole von heute Nachmittag, hat alle Operationen überlebt. Aber es geht ihm ziemlich mies. Kein Wunder bei Schädel-, Jochbein- und Kieferbrüchen und was er sonst noch alles so kaputt hat. Innere Verletzungen en masse. Trotzdem glauben sie, dass sie ihn wieder hinkriegen. Liegt jetzt auf nicht absehbare Zeit im künstlichen Koma.“

„Na, Gott sei Dank. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet – nach all den Beschreibungen von diesem Anschlag.“

„Ja, bist Du denn sicher, dass es ein Anschlag war?“

„Ganz sicher. Wir haben einen Zeugen, der dabei war.“

„Waaaas?“ Klaiser wäre auf der anderen Seite fast das Smartphone aus der Hand gefallen. „Du hast einen unmittelbaren Tatzeugen?“

„Allerdings. Und zwar einen, der redet wie ein Wasserfall. Ein Mann, der von diesem Tatverdächtigen, wie er sagt, hierher entführt worden ist.“

„Das ist ja ’n Ding. Mann oh Mann. Sag mal, willst Du nicht zu uns auf den Marktplatz kommen? Wir sitzen hier im ‚Roma‘ und haben es richtig schön.“

„Nee Du, mach Du mal Deins, ich mach’ meins“, wiegelte sie ab.

„Was soll das denn heißen: ‚mach Du Deins?’“

„Haja“, legte sie grimmig nach, „kaum ist Ute weg, vergnügst Du dich anderweitig.“ Ute war ihre beste Freundin und musste bei diesem Dandy jetzt dringend in Erinnerung gebracht werden.

„Entschuldige mal. Hast Du’n Knall – oder was?“, herrschte er sie an.

Stille auf der anderen Seite.

„Ich sitze hier mit Jürgen Winter, der vor wenigen Stunden noch mit lädiertem Schädel ins Krankenhaus gebracht worden war, wie Du vielleicht noch weißt. Ich bin froh, dass er wieder normal denken, handeln und aufrecht gehen kann. Wir reden über unseren Fall und trinken was. Das haben wir uns verdient. Und Du glaubst, ich …, dass ich … Lieber Gott, ich fasse es nicht! Weißt Du was? Ich glaube, Du hast recht. Es ist wirklich besser, dass Du hier wegbleibst. Sonst könnten wir ernsthaft Krach bekommen. Schönen Abend noch!“

Klaiser hatte die Verbindung getrennt. Und Corinna saß da, als habe sie ein Bus gestreift.

„Du blöde, dämliche Kuh. Wie bescheuert bist Du eigentlich?“, schnauzte sie sich selbst laut an. In Sekundenbruchteilen hatte sich während des Telefonats eben an jedem ihrer Haare ein Schweißtropfen gebildet. Als ihr nämlich offenbar wurde, dass sie sich total vergaloppiert und ihre eigenen Probleme mit Simon auf die Ehe ihrer besten Freunde übertragen hatte. Ihr Lover war es nämlich, dem sie eigentlich nicht so recht traute. Kein Wunder. Solche Sportler werden von der Damenwelt gerne mehr als nur angehimmelt. Erst recht, wenn sie so gut aussehen wie Simon. Und der genoss das. Das wusste Corinna und misstraute ihm bis auf die Knochen. Sie hätte auf der Stelle losheulen können. ‚Das kann ja lustig werden morgen bei der Frühbesprechung’, dachte sie mit Schaudern.

Der Professor versuchte es ein weiteres Mal. Mittlerweile hatte er den Kaffee längst getrunken. Die Thermoskanne war leer und die Flasche Mineralwasser ebenso. Warten macht durstig. Ungeduld noch mehr. Was war bloß mit Solowjow los? Wieder war eine halbe Ewigkeit lang nur der Rufton zu hören. Doch dann endlich knackte es in der Leitung. Endlich! Er war dran. Noch bevor sich Solowjow melden konnte, rief er in den Hörer: „Wo warst Du nur so lange, verdammt noch mal? Ich habe mir hier fast in die Hosen gemacht vor Sorge. Und Du …“

„Ich bin doch hier“, kam es prompt zurück. „Was ist denn los?“

„Was ist los, was ist los?“, äffte er nach. „Du weißt doch ganz genau, dass wir ausgemacht hatten, uns regelmäßig …“ Dann brach er ab. Er biss sich fast auf die Zunge. Wer zum Teufel war das denn? Diese fremde Stimme da am anderen Ende. Erst mit leichter Verzögerung war ihm klar geworden, dass sein Gegenüber sicher alles hätte sein können, nur nicht Jegor Solowjow. Sofort unterbrach er die Verbindung.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, brüllte er, dass es vom Hang gegenüber widerhallte. Solowjow war irgendetwas passiert. Wie sonst konnte sich einfach eine fremde Person an dessen Handy melden? Hatte er einen Unfall? Anatolij Morosow dachte nach. Er war es gewohnt, in Extremsituationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Das war ihm bei den Komsomolzen über Jahre regelrecht eingeprügelt worden. Immer auf der Hut sein vor feindlichen Bedrohungen. Immer jede Veränderung sauber analysieren. Die Jugendorganisation der KPdSU, einst war sie die Kaderschmiede schlechthin, in der ehemaligen Sowjetunion, war argwöhnisch gegenüber allem und jedem. Und er hatte sie durchlaufen. Durchlaufen müssen. Anders hätte er überhaupt nicht studieren dürfen. Atomphysik schon gar nicht.

Der Enkel so genannter Russlanddeutscher, der eigentlich auf den Namen Anton Morlok getauft worden war, hatte sich mehr als sein halbes Leben lang nach der politischen Decke strecken müssen. Hatte immer beweisen müssen, dass er die Lehren des kommunistischen Manifests verinnerlicht hatte. Mehr als jene, deren Familien über Generationen irgendwo in den Pripjetsümpfen oder weit hinter dem Ural gehaust hatten. Und deren Herkunft den Aufsehern der UdSSR daher eindeutig eher „systemkompatibel“ erschien als seine.

Morosow musste stets mehr Russe sein als die anderen. Und als solcher agierte er auch jahrzehntelang überzeugend. Wenngleich auch mit immer weniger innerer Überzeugung. Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ war auch für ihn so etwas wie eine innere Befreiung, die Perestroika eine glückliche, schicksalhafte Fügung, die ihm die Zuversicht zurückgab, sich künftig als freier Mensch, nicht nur mit seinen Kollegen in der westlichen Welt, ohne Vorbehalte und Beschattungen austauschen und mit ihnen gemeinsam forschen zu können. Er hatte jetzt endlich auch die Möglichkeit, nachzuforschen, wo die Wurzeln seiner Familie zu finden waren. Wenn sein Großvater recht hatte, dann stammten die Morloks aus der Nähe von Karlsruhe.

Бесплатный фрагмент закончился.

399
575,65 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
362 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783961360147
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают