Читать книгу: «In aller Stille», страница 3

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Als der eine mitsamt den Papieren zum Streifenwagen gegangen war, rückte der andere etwas näher an den Truck heran. Frank Drescher wollte aussteigen. Aber der Polizist erhob die Hand und rief: „Bleiben Sie bitte sitzen.“

„Oh wei, was wird das denn?“, entfuhr es dem Trucker. „Was habe ich denn angestellt? War ich zu schnell – oder was?“

„Warten Sie´s ab“, kam die lapidare Antwort aus dem langen Gesicht.

„Na, das kann ja heiter werden“, bemerkte Drescher und fügte in Gedanken noch ‚Du bist vielleicht ein Blödmann’ an, während er sein Radio ausschaltete, um so vielleicht etwas von dem Funkverkehr aus dem Polizeiwagen mitzubekommen. Aber Fehlanzeige.

Sein Gegenüber, mit der Hand auf der „Wumme“, blieb weiter ungerührt und ließ ihn nicht aus den Augen. Das konnte gar kein Spaß sein, so bei dieser Hitze auf der Straße zu stehen und Brummifahrer in Schach zu halten, dachte sich Drescher. Viel mehr aber marterte ihn der Gedanke, welcher Untat er jetzt bezichtigt werden würde. Überladen hatte er auf gar keinen Fall, der Zug war gerade erst ohne Mängel durch den TÜV, die Bereifung einwandfrei. Und wenn er tatsächlich geblitzt worden wäre, hätte er das doch sehen müssen. Er wusste doch, wo sie die Radarfalle immer aufstellten. „Scheiße Mann, Scheiße“, fluchte er leise vor sich hin. Doch jede weitere Gewissenserforschung brachte ihn keinen Schritt weiter. Er konnte sich einfach nicht erklären, was die Polizei von ihm wollte.

Bis ihm plötzlich klar wurde, dass das hier mit Stoppen nach einer Geschwindigkeitskontrolle nichts zu tun haben konnte. Da waren sie in der Regel nämlich mindestens zu viert und mit zwei Fahrzeugen. Und überhaupt, die anderen Autos, die das Laasphetal durch die Wasserstraße herunterkamen, durften unbehelligt weiterfahren. Nein, da war was anderes im Busch.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Polizist Nummer eins wieder zurück, reichte ihm seine Papiere hoch und fragte ihn: „Kennen Sie einen Mann namens Kamil Czoch?“

Frank Drescher überlegte einen Augenblick – ziemlich angestrengt sogar. Denn er war ja nun häufig in Polen. Und der Name hörte sich schon ziemlich polnisch an. Aber an gerade diesen konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. „Nein, kenne ich nicht.“

„Sind Sie sicher?“

„Ja, ganz sicher!“

„Seltsam, Sie haben heute Nachmittag noch mit ihm geredet“, ereiferte sich der Bulle und schaute Drescher tief in die Augen.

„Wo?“, wollte der Fernfahrer wissen.

„Das müssten Sie doch am besten wissen.“

„Verdammt noch mal, jetzt wird mir das Ganze hier zu blöd. Ich weiß es nicht. Und wenn Sie behaupten, ich hätte es doch getan, dann sagen Sie mir …“ Drescher unterbrach sich. „Oh, Kacke. War das etwa der durchgeknallte Typ, der vor der Pommesbude mit dem Messer auf mich los ist?“

„Das sagten zumindest Zeugen, wie wir hörten.“

„Ja, aber den kannte ich doch gar nicht. Der wurde nur auf einmal aggressiv, weil ich ihn aufgefordert habe, seine Rechnung bei Hannes, dem Budenbesitzer, zu bezahlen.“

„Allerdings in polnischer Sprache. Woher wussten Sie, dass er Pole ist, wenn Sie ihn nicht kannten?“

„Weil er auf dem Display seines Smartphones, mit dem er ständig rumhantierte, in großen Lettern den Namen seines polnischen Providers stehen hatte. ‚Polkomtel’. Den würden Sie hier in Deutschland sicher auch nicht als Ihren Netzbetreiber wählen. Und weil der Vogel auf die Zahlungsaufforderung von Hannes einfach nicht reagiert hat, habe ich ihn am Hemdkragen festgehalten und es einfach mal auf polnisch probiert. Wissen Sie, der Hannes is´n prima Kerl. Den bescheißt man nicht.“

„Aha. Und woher können Sie so gut polnisch?“, wollte der Polizist wissen.

„Kann ich gar nicht. Aber wenn Sie, wie ich, mehrfach im Jahr nach Polen fahren müssten, dann würden selbst Sie zumindest die Floskeln kennen, die mit Bezahlen zu tun haben“, meinte Drescher nett lächelnd. „Denn Einkaufen und Essen müssen Sie unterwegs ja auch gelegentlich. Ach so, nee, Sie haben da ja eher Glück“, fügte er eine Spur zu süffisant an, „bei Ihnen ist ja immer Deutschland.“

„Wir machen auch nur unseren Job, Herrrrr Drescher“, überbetonte der Beamte. „Warum haben Sie den Mann eigentlich nicht angezeigt?“

„Weil ich mir genau diesen Zinnober hier ersparen wollte, Herrrrr Wachtmeister“, gab der Angesprochene angefressen zurück. „Ich glaube, das war ’ne Reflexhandlung bei dem, als ich ihn von hinten angefasst habe. Sie wissen doch, dass es Menschen gibt, die schnell mal überdrehen. Und das war bei dem genauso. Aber als der sich umdrehte und mich sah, ist dem aus Angst fast die Klinge aus der Hand gefallen. Diese halbe Portion hätte ich beim tief Luft holen quer unter der Nase hängen gehabt, verstehen Sie.“ Drescher fühlte sich obenauf.

„Mag ja sein, aber eine Anzeige wäre absolut richtig gewesen.“ Der Polizist wollte offenbar partout das letzte Wort haben.

„Hören Sie“, begann Drescher wieder und jetzt eine Spur eindringlicher, „ich bin auf dem Weg nach Krakau in Polen. Das sind rund 980 Kilometer und etwa 13 Stunden reine Fahrzeit bis dort hin. Wenn alles gut geht. Dazu meine Rast- und Ruhezeiten. Morgen spätestens um 17.30 Uhr muss ich dort sein, habe einen festen Abladetermin und vorher mindestens fünf bis sechs Staus. Meinen Sie, da könnte ich mir noch große Anzeigen- und Protokollarien bei der Polizei leisten? Ich muss los, Mensch! Kommen Sie, hier haben Sie meine Karte, da stehen meine Mobil- und meine Festnetznummer drauf und meine E-Mail-Adresse.“

Wie ein Gentleman überreichte er dem reichlich baff dreinschauenden Polizisten die Visitenkarte aus seinem Truckfenster von oben herunter. „Ich bin in spätestens drei Tagen mit einer Rückladung wieder zuhause. Ich wohne in Hemschlar, haben Sie ja gesehen in den Papieren. Dann komme ich gerne auf die Wache in Berleburg und gebe alles zu Protokoll. Und wenn noch was unklar ist, rufen Sie mich einfach auf dem Handy an. Ich hab‘ ’ne Freisprecheinrichtung auf meinem Bock. Da verrutscht nix.“

Der eine Polizist schaute den anderen an. Irgendwie schien beiden diese ganze Geschichte einzuleuchten. Und irgendwie hatten beide auch keine Lust, hier noch den großen Larry raushängen zu lassen. War bald Schichtwechsel. Irgendwann musste es ja gut sein.

„Okay, Herr Drescher. Sie können fahren. Wenn noch Fragen sind, werden sich die Kollegen von der Wache in Berleburg an Sie wenden. Gute Fahrt.“

„Danke, schönen Abend noch“, entgegnete der und startete den Truck. Da fiel ihm etwas siedendheiß ein. „Ääh, Moment, Herr Wachtmeister. Moment bitte noch. Was war denn jetzt eigentlich? Hat mich jetzt etwa der Pole angezeigt? Oder warum wollten Sie das alles so genau wissen? Aber woher hätten Sie sonst seinen Namen. Falls der überhaupt stimmt.“

„Der Mann war in einen schweren Unfall verwickelt. Da waren Sie wohl gerade erst ein paar Minuten weg. Die Kollegen konnten ihn über seine Papiere identifizieren.“

„Das gibt´s doch gar nicht. Das ist ja der Hammer. Hat der sich mit seinem Truck auf die Fresse gelegt?“

„Nein, er ist vor einer Imbissbude von einem PKW erfasst und schwer verletzt worden. Mehr wissen wir auch nicht. Tschüß.“ Die beiden wendeten sich ihrem Dienstwagen zu und ließen Drescher verdattert stehen.

„Mann, Mann, Mann, das ist ja ´n Ding.“ Drescher setzte den Blinker links, legte den ersten Gang ein und löste die Bremsen. Langsam zog er mit seinem Gespann hinter den abfahrenden Polizeiwagen und fuhr gesittet runter in die Laaspher Innenstadt. Um dort links auf die B 62 in Richtung Marburg einzubiegen. Die Rushhour hatte eingesetzt. Der Mist hier hatte einfach elend lange gedauert.

Jetzt konnte er sich den geplanten Halt bei der Metzgerei Reuter in der Bahnhofstraße getrost abschminken, musste erstmal raus aus dem Schlamassel hier. ‚Vielleicht klappt´s ja bei Kalender in Sterzhausen’, überlegte er. Er wollte unbedingt noch einen Kringel Fleischwurst für unterwegs mit in seine Kühlkiste nehmen. Als Proviant. Wenn´s zu eng für Essenspausen würde. Brötchen und geschmierte Butterbrote hatte er dabei. Alleine fahren ließ einfach keine Alternativen offen. Und einen zweiten Fahrer auf dem Truck gab es schon lange nicht mehr.

Corinna Lauber war am Ort des Geschehens in der Limburgstraße eingetroffen. Um den Tatort in Augenschein zu nehmen. Eine ganz wichtige Komponente für Ermittler, die sich von allen Abläufen ein möglichst plastisches Bild machen wollen. Nur war das nun nicht mehr so ganz möglich. Weil der Lastzug nicht mehr dort stand, wo er zur Zeit der Tat geparkt war und auch das BMW-Cabriolet jetzt auf der Seite stand. Nur Kreidemarkierungen auf der Fahrbahn ließen auf den Punkt des Aufpralls und auf den Punkt nach der Vollbremsung schließen. Dazu gab es einige Polizeifotos.

Corinna war fassungslos. Zumindest die Endpositionen nach der Attacke des LKW-Fahrers hätten sie einhalten müssen. „Wer hat das denn veranlasst? Seid Ihr alle verrückt? Nichts am Tatort verändern, heißt es immer. Ich fasse es nicht! Wie kann man nur so“ … ‚blöd sein’, wollte sie eigentlich sagen. Aber die hübsche junge Frau verkniff es sich. Gar nicht so einfach bei einem so dicken Hals. Es war schließlich ihr erster Fall eines eventuellen Mordversuchs, den sie in Eigenverantwortung übertragen bekommen hatte.

„Also pass mal auf, Corinna“, mischte sich mal wieder Pommesdealer Hannes ein. „Der LKW stand da hinten, hinter den beiden Trucks da.“ Er schob die verdatterte Kriminalistin in die Straßenmitte und zeigte mit seiner Linken in die angegebene Richtung. „Der Mann, der auf den BMW geflogen ist, wurde von dessen Sattelauflieger einfach heruntergeworfen und ist auf Motorhaube und Frontscheibe des Cabrios geknallt.“

„Interessante Theorie“, sagte Corinna. „Aber Du solltest mich erst mal mit den Kollegen reden lassen. Okay!?“

„Schon gut, schon gut“, zog der leicht beleidigte Hannes mit erhobenen Händen von dannen, hielt sich aber weiter am Straßenrand auf. Das Ding war genau so gelaufen. Das war für ihn so klar wie Kloßbrühe. Da brachte ihn niemand von ab. Anders konnte es gar nicht gewesen sein. Und spätestens, nachdem er den Fahrer gesehen und ihn mit Polizeigriff festgehalten hatte, war ihm klar, dass der auch die Kräfte dazu hatte, den dürren Polen einfach so aus dem Lastzug zu schmeißen.

Pattrick Born kletterte gerade aus einem der Polizeibusse, in dem sie den Fahrer des Lastzugs mit Handschellen festgesetzt hatten, als Corinna auf den Wagen zusteuerte. Er grüßte freundlich und wollte an ihr vorbei. „Wo is´n der Klaiser?“

„Nix Klaiser. Mein Fall“, lächelte die Kommissarin ein wenig unsicher und bat Born um ein kurzes aber sauberes Lagebild.

„Ach so, wusste ich nicht, sorry“, bemühte sich Born, seinen Fehler – aus purer Gewohnheit entstanden – mit roten Ohren wieder auszubügeln. Und dann beschrieb er ein Szenario, das nahezu passgleich das Bild von Imbissstandbesitzer Hannes Schöler widerspiegelte. „Der Kollege Winter und ich haben das alles inspiziert und durchgespielt.“

„Hatte der Curry-Hannes also doch recht“, sinnierte sie und bemühte dabei einen der fast unzähligen Spitznamen von Hannes Schöler. Den sie natürlich alle kannten. Denn es gab nur noch zwei ernst zu nehmende Pommesbuden in der Stadt. Und Polizei ohne Imbiss … Das geht gar nicht!

„Was, meinst Du, hat sich da auf dem Lastzug abgespielt?“, wollte Corinna von Pattrick Born wissen.

„Keine Ahnung. Wirklich. Absolut null Ahnung. Dein Part, das rauszukriegen. Der Typ da drin sagt kein Wort. Nur seinen Namen. Jegor Solowjow aus Nowosibirsk, ganz weit hinten in Russland.“

„Na klasse. Wo ist der Verletzte? Wo ist die BMW-Fahrerin?“

„Der Verletzte, wirklich ganz schwer Verletzte, wurde gerade da drüben beim Getränkemarkt in den Rettungshubschrauber verladen und drinnen offenbar noch versorgt. Hoffentlich überlebt er das, der arme Hund. Und die BMW-Fahrerin sitzt drüben in dem anderen Rettungswagen. Sie soll aus Sicherheitsgründen in die Klinik, sagen die Sanis, weigert sich aber noch.“

Corinna ging rüber, klopfte kurz an die Seitentür des DRK-Fahrzeugs und öffnete. „Darf ich kurz?“, fragte sie und zeigte ihren Ausweis vor. Sie durfte. Jule Homrighausen saß aufrecht in einem gepolsterten Sitz, hatte eine Infusion im Arm und schaute zur Polizistin herüber. „Der ist mir einfach vorne auf die Haube geflogen. Aus dem Lastzug heraus. Das ist alles. Mehr kann ich nicht sagen. Es war fürchterlich.“

„Das glaube ich Ihnen sofort. Mit so etwas rechnet man ja nicht“, antwortete Corinna und zog die Stirn kraus. „Sind Sie tatsächlich ganz sicher, dass der Mann aus dem Lastzug heraus auf Ihren Wagen geflogen ist?“

„Absolut sicher.“

„Haben Sie eventuell jemanden auf dem Lastzug gesehen?“

„Nein, das ging einfach viel zu schnell. Da rechnet doch wirklich niemand mit, dass da Menschen durch die Luft fliegen. Gut, ich war vielleicht etwas sehr nahe an den parkenden LKW. Aber immer noch mitten auf der Fahrbahn. Wenn der Mann vom Lastzug gestürzt wäre, wäre der locker neben meinen Wagen gefallen.“ Plötzlich begann die Frau wieder zu zittern. Offenbar konnte sie nur schwer mit den Gedanken an diese fatalen Bruchteile von Sekunden zurechtkommen.

„Man sieht´s an Ihrer Bremsspur. Sie müssen sich wirklich keinen Vorwurf machen“, redete Corinna beruhigend auf ihr Gegenüber ein. „Danke für das Gespräch. Sie fahren jetzt am besten mit den Herrschaften hier ins Krankenhaus und erholen sich dort erst einmal. Autofahren können Sie in dem Zustand ohnehin nicht. Außerdem brauchen wir Ihren Wagen für die Spurensicherung. Das kann einen Moment dauern. Wir sehen uns sicher in den nächsten Tagen mal wieder. Machen Sie´s gut.“

Reichlich ermattet hob Jule Homrighausen die von Nadel und Schlauch verschonte Hand zum Gruß und ergab sich in ihr sanitäterbestimmtes Schicksal, derweil die Kommissarin wieder ausstieg. Gerade in diesem Moment liefen die Turbinen des Helikopters an. Wenig später erhob sich der „Gelbe Engel“ in die Luft und verschwand nach einer Schleife über der Limburgstraße in Richtung Westen. Mindestens nach Siegen würden sie den Mann bringen, womöglich sogar in eine der Unikliniken in Gießen oder Marburg.

Wadim Plosicz war aufgestanden, als der Helikopter davonflog. Sichernd schaute er sich um. Starker Verkehr auf dieser Straße in der fremden Stadt. Die Mitarbeiter der umliegenden Firmen hatten offenbar Feierabend und fuhren nach Hause. Beim Supermarkt da vorne füllten sich die Parkplätze. Alles vorbei an Wadim. Denn noch immer war die Parallelstraße gesperrt. Die, auf der er das Unvorstellbare mit angesehen hatte. Mit ansehen musste. Gezwungen durch einen der fiesesten Typen, die er je gesehen hatte. Ihm war schlecht beim Gedanken daran.

Dieser unglaubliche Dreckskerl war von der Polizei festgenommen worden. Das hatte Wadim vorhin durch puren Zufall gesehen. Als er zurückgelaufen war und nach dem Helikopter geschaut hatte. In der Hoffnung, dass dem Mann noch geholfen werden konnte, der vor seinen Augen ermordet werden sollte. Mit gefesselten Händen war der Barbar von zwei Uniformierten in einen Polizeibus gesetzt worden. Hoffentlich würden sie ihn nie wieder laufen lassen. Dieser Mann war ein eiskalter Killer.

Plosicz entschloss sich, zur Polizei zu gehen. Denn vor wem sollte er jetzt noch flüchten? Und, vor allem, wegen was? Er hatte sich ja nichts zuschulden kommen lassen und auf dem Lastzug unter Zwang gehandelt. Das konnte er beweisen. Hoffentlich glaubte man ihm. Blaue Flecken in der Magengrube und auf den Rippen müsste es reichlich geben. Und vielleicht könnte man sogar noch die K.-o.-Tropfen in seinem Blut nachweisen.

Die Polizei könnte, ja sie müsste, ihm auf jeden Fall helfen. Denn er konnte zur Aufklärung einer schweren Straftat beitragen. Quasi als eine Art Kronzeuge. Außerdem war er weder im Besitz seiner Personalpapiere, noch hatte er einen roten Cent in der Tasche. Das hatten sie ihm wohl schon in Frankfurt alles abgenommen. Als diese Typen ihn „schlafen legten“. Vielleicht waren die Sachen ja sogar da vorne im Lastzug. Das wäre ideal. Nur so recht glauben wollte er nicht daran.

Aber egal. Zur Polizei würde er so oder so gehen. Denn er hatte die Schnauze voll von diesen Kräfte raubenden Trips nach Spanien und zurück, auf denen er grundsätzlich zum Betrug gezwungen war. Und dann war es wahrscheinlich auch noch diese Scheißfirma selbst, die ihn in eine solche Sache hineingezogen hatte. Eine Geschichte, in der es ganz offensichtlich um wesentlich üblere Dinge ging, als nur um das Überziehen der Fahrzeiten bei ziemlich mieser Bezahlung.

Sollten die Fahnder diesen Sauladen in Vilnius doch ausheben. Dann würden sie hinter unglaubliche Schweinereien kommen. Da war er sicher. Wer Typen wie diesen Russen da im Polizeiwagen beschäftigt, der hat richtig Dreck am Stecken.

TruckiTRANS. Wenn er das schon hörte. Das Unternehmen war ihm schon bei seinem ersten Besuch in der vermeintlichen Firmenzentrale suspekt gewesen. Eine Hinterhofklitsche, die sich „Spedition und Transport International“ in die zweite Zeile des Firmensignets geschrieben hatte. Aber ihm blieb keine Wahl. Arbeitslos, verheiratet und drei schulpflichtige Kinder. Seine Frau und er hatten wirklich alles getan, um ihrem Nachwuchs eine glänzende Zukunft zu geben. Aber in dem politisch nicht immer stabilen Litauen, in dem die Wirtschaft nur ganz allmählich in die Puschen kam, gab es für den gelernten Holzbildhauer und Möbelbauer keine lukrativen Perspektiven. Und da er seit seiner Militärzeit einen LKW-Führerschein besaß, war es für ihn nur naheliegend, sich als Trucker zu verdingen.

Dass er dabei bei einer Firma landete, die nach westeuropäischen Tarifen zahlt, wie sie in der „Respublika“ inserierte, hatte ihm, rein nach Inhalt der Zeitungsanzeige, richtig Geschmack gemacht. Nur war der Haken daran, dass sie ihre Fahrer auch alle auf Trucks in Westeuropa einsetzte. Und das wiederum bedeutete für ihn von Anfang an, Papa und Ehemann auf Distanz zu sein. Einer, der sein Geld regelmäßig in die Heimat überweist, aber nur einmal alle zwei Monate dort auch präsent ist.

Doch er biss in den sauren Apfel, nachdem er sich ausführlich mit seiner Frau Sabina beraten hatte. Sie wollten es probieren. Seit knapp zweieinhalb Jahren währte dieser Versuch nun schon. Nur auf den versprochenen westeuropäischen Tarif für Fahrer war er in dieser Zeit nie gekommen. Schon allein, weil ihm dieser 25-jährige Rotzbock von Geschäftsführer in der Niederlassung Frankfurt allein 400 Euro für eine Art „Schrankzimmer“ abknöpfte, in dem er immer dann schlief, wenn er von einer der Spanien-Touren zurückkam und 36 Stunden Zeit hatte. Bad und Toilette musste er sich mit anderen Fahrern auf der Etage teilen. Und in der Zwergenkemenate, die der Chef „Zimmer“ nannte, hatte er nicht mal richtig Platz, all seine Sachen unterzubringen. Viele von denen lagen in seinem 22 Jahre alten Lada, den er in der Ecke des Speditionshofes geparkt hatte.

Jürgen Winter hatte intensives „in-die-Augen-blicken“, intensive Gespräche und mindestens eben so intensives Röntgen hinter sich. Jetzt saß er auf einem der Stühle in der Wartezone der Unfallambulanz. Eigentlich ging es ihm gut. Und er wollte auch so schnell wie möglich wieder raus aus dem Krankenhaus. Aber da war da noch das abschließende Urteil der Ärztin. Das wolle sie erst fällen, wenn sie die Röntgenaufnahmen gesehen hätte.

Warum es ihn vorhin bei der Festnahme aus den Latschen gehauen hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Klar, er war ganz ordentlich mit dem Kopf auf die Pritsche des LKW geknallt. Aber da hatte er als Kind viel schlimmere Geschichten erlebt. Beim Schlittenfahren zum Beispiel. Die Straße hinter´m „Bodechrist“ runter in Richtung der Schlossteiche. Natürlich auf dem Bauch. Unten war eine kleine Kurve, die er auf der vereisten Bahn nicht mehr packte. Dann kam ein Zaunpfahl. Licht aus! Am nächsten Tag ging´s in die Schule. Was sollte das hier also?!

Mit einigen Bedenken ließ sie ihn dann auch ziehen. Die junge, attraktive Frau Doktor Antonia Reimann, die bei ihm abschließend noch mal ordentlich nach dem Puls gefühlt hatte. Allein nach den Werten, nach denen ihm da zumute war, hätte Winter allerdings in der Klinik bleiben müssen.

‚Junge, Junge, was für ein tolles Weib. Und das hier bei uns in der Provinz’. Winter war sich sicher, dass da mindestens ein Oberarzt dahinterstecken müsste, der hier ganz besondere Karrierechancen witterte. Denn Bad Berleburg war nun wirklich nicht der gesellschaftliche Nabel der westlichen Hemisphäre.

Wenige Minuten später hatten ihn Streifenkollegen auf halber Strecke runter zum Stark´schen Kreisel aufgepickt und mit zur Wache genommen. Er meldete sich bei seinem Vorgesetzten Bernd Dickel dienstfähig zurück und wollte gerade in den Feierabend, als er Klaus Klaiser auf dem Flur begegnete.

„Und – wie sieht´s aus? Habt Ihr den Verpackungskünstler schon, der den armen Hund da oben in den Sack gestopft hat?“

„Schön wär´s“, entgegnete Klaiser. „Einen Scheißdreck haben wir. Nix, niente, nada! Keiner weiß was, keiner hat was gesehen, gehört, geträumt. Aber alle haben´s seit heute Mittag gerochen.“ Wut kam auf in dem jungen Kriminalisten. „So ein Leichenbündel kommt doch nicht einfach so angeflogen, oder legt sich selbst am unteren Ende dieser Gasse am Rainchen ab. Da muss doch wenigstens einer geschleppt haben wie doof. Eher sogar zwei. Sonst wäre der Plastiksack auf dem Schotterweg da unten doch gleich aufgerissen. Ist er aber nicht. Der ist aufgeplatzt. Wie eine Gasflasche, wenn´s ihr zu heiß wird.“

Auf dem Flur im Revier war es auch heiß. Und stickig. Obwohl längst später Nachmittag war, tobte sich die Sonne noch immer draußen am blauen Himmel aus. Endlich mal wieder richtig Sommer. Rudi Carrell hätte seine reine Freude. „Komm, lass´ uns ’n Bier trinken gehen und quatschen“, lud der Hauptkommissar den Hauptmeister ein. „Hab´ noch keine Lust auf zuhause. Ute ist sowieso bei ihren Eltern im Münsterland. Dem Opa geht´s nicht so gut.“

„Okay, wenn Du mich hinterher nicht an die Bullen verpfeifst“, grinste Winter. „Bei einem Pils bleibe ich nämlich nicht. Bin auf der Suche nach der Sollbruchstelle in meiner Birne. Nach dieser Nummer heute Nachmittag.“

„Au, Mist, sorry. Hab´ ich ja ganz verpennt, Mann. Wie geht´s Dir denn überhaupt? Da siehste mal, wie tief man in den Schlamassel geraten kann. Ich wollte dich doch unbedingt als Spannmann neben mir bei der Leichensache.“

„Mir geht´s prima. Alles wieder gut. Kein Problem. Natürlich mache ich mit bei Dir. Hatte allerdings gehofft, dass ich diesen versuchten Mord unten weiter verfolgen kann. Da war ich ja von Anfang an dabei.“

„Ach so, ja. Das ist jetzt anders verteilt. Corinna hat den Fall federführend und den Kollegen Born an der Seite. Und ich hab’, weil Du ja „out of order“ warst, den ‚Freak’ rekrutiert.“

„Den Sven Lukas?“ Winter schüttelte sich vor Lachen. „Da können wir nur hoffen, dass bei dem Toten wenigstens ein Laptop und ein Speicherstick gefunden werden. Damit er was ausfuchsen kann. Vor dem ist kein Bit sicher.“

„Jetzt komm, der Kollege ist schwer auf Zack. Ich hab’ neulich mitgekriegt, wie der sich in die Waden von einem Scheckbetrüger gebissen hat, der in ganz Europa sein Unwesen getrieben hatte. Hättest mal sehen sollen, was der über den Typen alles rausgekriegt hat. Vom Ehebrecher in der fünftletzten Generation mütterlicherseits bis zur Zahnpastasorte seiner noch ungeborenen Tochter. Beim Recherchieren einfach der beste Mann. Ein Freak halt. Und den brauchen wir beide in unserer Truppe. Wirst schon sehen.“

„Alles gut“, meinte Winter und wedelte mit beiden Händen in der Luft. „Dann lass’ uns jetzt mal losziehen. Sonst muss ich hier mal einen Wasserhahn leer saufen. Dann ist aber der Durst weg. Und Du kannst die Geschichte mit dem Quatschen stecken.“

„Kann ich Sie sprächen, bitte?“, nahm sich Wadim Plosicz ein Herz und sprach Corinna an, die gerade in einer Unterhaltung mit zwei Uniformierten war. Sie schien ihm die kompetentere Person vor Ort zu sein. Das schloss er aus ihrer Gestik und den Reaktionen der anderen Beamten. „Ja, bitte. Wenn es etwas mit dieser Sache hier zu tun hat“, gab sich Corinna sehr freundlich.“

„Ich glaube, ja.“

„Aha, wie kommen Sie darauf?“

„Ich …, ich warr dabei“, stammelte Plosicz. „Chab ich gesänn, wie chat Mann andere Mann aus Lastzug ge…, ääh ge… worfen.“

„Das ist ja …“, Corinna war etwas konfus. Ein Zeuge. Damit hatte sie am wenigsten gerechnet. „Ja, kommen Sie doch bitte hier rüber“, war sie ganz aufgeregt. Sie wies in Richtung des Fahrzeugs, in dem dieser irre Russe saß.

„Njet, nein. Da gähe ich nicht chin. Diese Mann ist Verbrächer. Chat mich geschlagen und bedroht.“

„Natürlich nicht in diesen Wagen“, korrigierte sie. Dahinter steht ein anderer. Kommen Sie“, sagte sie lächelnd und führte ihn zu dem Fahrzeug.

Nur zögerlich folgte der Litauer der jungen Polizistin. Hinter ihm eine weitere Beamtin. Allerdings in Uniform. In weitem Bogen umlief Plosicz den Bulli mit dem Gefangenen, der sich offenbar gerade einer Leibesvisitation unterzog. Mit Handschellen an einem Haltegriff. Musste verdammt unbequem sein.

Noch bevor sie den anderen Polizei-Bulli bestiegen, meldete sich der Litauer noch einmal: „Entschuldigung bitte, chabe ich Frage, bitte.“

„Worum geht es?“

„Kann ich bitte sähen, ob meine Papirre sind in Lastzug von diese Mann?“

„Warum das denn, bitte? Wie sollen denn Ihre Papiere in diesen LKW kommen?“

„Warr ich gefangen in diese Track. Chat man mich gemacht schlafen in Kabine. Und dann verschleppt nach chier.“

Corinna weitete die Augen. „Das wird ja immer abenteuerlicher. Wird Zeit, dass die Spurensicherung kommt und sich den Zug mal genau anschaut. Aber bis dahin Herr …, wie heißen Sie eigentlich?“

„Plosicz, Wadim Plosicz.“

„Ja, Herr Plosicz, bis dahin kann ich Sie nicht an den Lastzug heranlassen. Tut mir leid.“

„Schade. Ist vielleicht auch alles mein Gäld dabei. Chabe nichts in Tasche. Kann nicht mal kaufen Flasche Cola.“

„Das ist bestimmt kein Problem. Sie werden bei uns zu essen und zu trinken bekommen. Da bin ich sicher. Und eine Übernachtung werden wir auch für Sie organisieren können“, beruhigte sie den Mann. „Jetzt kommen Sie, steigen Sie bitte ein.“ Er folgte der Aufforderung und setzte sich so, dass es keinen Blickkontakt zwischen ihm und dem Russen im anderen Wagen geben konnte. Aber das war dann auch überflüssig. Denn kurz darauf setzte sich der „Gefangenentransport“ nebenan in Bewegung. Ab in Richtung Wache.

Rund um die Unfallstelle herrschte reges Treiben mit heftigen Diskussionen nahezu aller Beteiligter. Die einen waren die üblichen Gaffer, die sensationsheischend alles aufsogen, was sie so aus den Mündern derer aufschnappen konnten, die ohnehin immer alles wussten. Und die anderen waren Betroffene. Zwei LKW-Fahrer, die einfach nicht weiter konnten, weil sie eingekeilt waren. Und zwei Trucker, die nicht rückwärts raus konnten, weil hinten nur ein Polizist die Absperrung bewachte und gleichzeitig den Verkehr von der Entlastungsstraße in die Ederstraße umleiten musste. Da war einfach zu viel Betrieb. Zumal da auch immer wieder Fahrzeuge vom gegenüberliegenden Stöppel geradeaus herunterkamen, deren Fahrer sich ein wenig dämlich angestellt und das Sperrschild ignoriert hatten.

Pattrick Born klopfte an die Scheibe des Bullis und bat Corinna Lauber durch Handzeichen heraus. Sie kam.

„Corinna, wir müssen hier so schnell wie möglich die Straße wieder aufmachen. Die Fernfahrer killen uns, wenn die hier nicht wegkommen. Die haben Terminfracht. Das ist schweineteuer, wenn die Sachen nicht ‚just in time’ ankommen.“

„Können wir nicht, bevor die SpuSi nicht da ist“, bestimmte die Kommissarin.

„Wieso denn? Der LKW steht doch ohnehin nicht mehr dort, wo der Angriff erfolgte. Und die Rad- und Bremsspuren sind alle abgekreidet, vermessen und fotografiert. Bitte, lass uns einen von den Kollegen im Vollschutz reinsetzen und die Kiste an die Seite fahren. Damit die anderen raus können.“

„Nein, da wird nichts draus.“

„Corinna, ich bitte dich. Das gibt Oberstress, glaub’ mir.“

Kriminalkommissarin Lauber zog die hübsche Stirn in Furchen. Es war, verdammt noch mal, ihr Fall! Und sie wollte nicht, dass andere darin herumfuhrwerkten oder gar bestimmten. Nur hatte der Kollege hier dummerweise ziemlich recht. Die Verhältnismäßigkeit stimmte da nicht mehr.

„Okay, soll sich einer so’n Pariser drüberziehen, Überschuhe und Handschuhe nicht vergessen. Und dann fahrt den Zug da vorne auf den Seitenstreifen. Dann könnt Ihr in Absprache mit den Kollegen vorne und hinten auch die Sperren aufheben. Aber vorher diese Situation hier auch noch sauber mit Fotos dokumentieren.“

„Danke Dir“, sagte er nüchtern. Worauf sie ihn plötzlich nett anblinzelte und meinte: „Danke Dir, ist ja okay so. Und außerdem muss der Hannes da drüben mal wieder frische Kundschaft haben. Die hier sind ja alle schon voll gestopft mit seinen Fritten.“

Born lachte und verschwand erleichtert. ‚Manchmal’, dachte er, ‚manchmal musst Du auch den Besten mal durch einen sachten Klaps auf das hübsche Hinterköpfchen auf die Sprünge helfen.’

Wenig später flutschte der Verkehr wieder in der Limburgstraße. Mit Ausnahme eines kleinen Engpasses. Um den Spurensicherern Platz zu schaffen, hatten die Kollegen der Schutzpolizei ein paar Sperrböcke um den fraglichen Lastzug aufgebaut. Und damit die Fahrbahn ein wenig verengt. Kaum der Rede wert.

Aber von den Leuten Gert Steiners mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen. Die waren quasi vom Regen in die Traufe geraten. Kaum hatten sie ihren ganzen Krempel am „Wittgensteiner Hof“ eingepackt, durften sie in der Limburgstraße alles wieder auspacken. „The same procedure as ten minutes ago“, witzelte der Boss aller Siegener SpuSi-Spezialisten. „Bad Berleburg als die Ausgeburt von Horror und Gewalt. Mir wird ühübeeel“, leierte Steiner grinsend, während er den Reißverschluss seines weißen Anzuges zuzog. „Ab in die mobile Maso-Sauna.“ Und schon stand ihm der erste Schweißtropfen auf der Stirn. „17.38 Uhr und immer noch 33 Grad im Schatten. Man muss schon einen an der Waffel haben, um diesen Job zu lieben.“

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9783961360147
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