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„Wo ist denn der Drescher jetzt?“ Jürgen Winter hatte das gefragt und sich dabei über die Kühlerhaube des Unfallwagens gebeugt.

„Auf dem Weg nach Krakau – mit seinem Truck. Vielleicht ’ne Viertelstunde, eher 20 Minuten weg.“

„Haben Sie zufällig eine Handynummer von ihm?“

„Nein. Aber ich kann Ihnen die Autonummer geben. Ist ’n Brummi von der „Regupol“. Der kann noch nicht weit sein. Ich schätze mal, der fährt gerade über Sassenhausen das Laasphetal runter und dann über Biedenkopf, Marburg auf die Autobahn.“

Born schrieb mit und ließ sich die Nummer geben, mit der er spornstreichs zum Streifenwagen ging, um diesen Drescher möglichst bald ausfindig zu machen.

„Moment mal“, Hannes Schöler schluckte, „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Drescher den Polen, oder was immer er ist, auf den vorbeifahrenden BMW geschmissen hat. Der war doch längst weg, als das passiert ist. Außerdem hatte er gar keinen Brass auf den.“

„Haben Sie denn gesehen, ob sich die beiden noch mal getroffen haben, bevor Drescher losfuhr?“

„Nee, konnte ich ja nicht. Die Kutscher gehen ja immer, von mir aus gesehen, um die Böcke herum auf die andere Seite und laufen an der Fahrbahn lang zu ihren Führerhäusern. Der Parkstreifen ist ja breit genug.“

„Na also. Wer sagt Ihnen denn dann, dass da nichts passiert ist? Aber, wie immer, wir brauchen eine Aussage von diesem Fahrer“, erklärte Winter und wandte sich wieder dem BMW zu. „Erklären Sie mir lieber mal, warum Sie meinen, dass der Mann von oben herunter auf das Auto geflogen ist.“

„Will ich Ihnen gerne zeigen und erklären. Schauen Sie her. In der Mitte der Haube ist eine tiefe Delle, fast wie eine Kuhle. Das deutet auf einem senkrechten oder fast senkrechten Fall hin. Der Einschlag in der Scheibe war wahrscheinlich der Kopf. Bei der Vollbremsung wurde er dann noch vorne abgeworfen. Wäre der Mann von der Seite her in den Wagen gesprungen oder geflogen, hätte ihn das Auto wie über einen Keil aufgeladen und eventuell sogar über die Scheibe nach hinten geschleudert. Der Einschlag würde nach meiner Meinung deutlich schwächere Spuren hinterlassen. Die dafür aber quer über die Motorhaube.“

„Alle Achtung“, staunte Jürgen Winter, „das leuchtet irgendwie ein. Aber, sagen Sie mal, woher wissen Sie das denn alles so genau?“

„Ach, ich habe mal ein paar Monate während meines Studiums in einer Karosseriewerkstatt im Ruhrgebiet gearbeitet. Da lernt man es, solche Spuren zu lesen.“

Pattrick Born war zurückgekommen, hatte den Rest gerade noch mit angehört und dann Winter ins Ohr geflüstert: „Wenn dieser Hannes recht hat, dann muss es ja wenigstens einen der Lastzüge da vorne geben, wahrscheinlich der dritte oder der vierte, von dem der Mann heruntergesprungen ist.“

„Oder heruntergeworfen wurde“, ergänzte der Hauptmeister. „Wir sollten mal nachgucken, bevor uns da noch was ganz Wichtiges durch die Lappen geht.“

Die beiden trennten sich. Born übernahm den Kontrollgang auf der Gehwegseite, Winter den auf der Straße. Eigentlich hatten sie gar keine klaren Vorstellungen von dem, was sie suchten, waren mehr auf Zufallsfunde aus.

Es war müßig, die beiden ersten Lastzüge näher zu betrachten. Denn das demolierte Cabriolet stand in Höhe des Führerhauses von Truck Nummer zwei. Sturz und Aufprall müssten also deutlich weiter hinten stattgefunden haben, wenn man Reaktionszeit und Bremsweg dazu rechnete. Mindestens in Höhe der Ladefläche des dritten Zuges. Dahinter war auch eine Lücke. „Da hat der Drescher-Bock gestanden“, berichtete Hannes Schöler, der sich wie eine Klette an Winter gehängt hatte. Der Polizist ertrug das zähneknirschend. Obwohl der ihn gerne abgeschüttelt hätte. Aber immerhin hatte ihm der Karosseriekenner ordentlich geholfen. „Haben Sie eigentlich keine Angst, dass Ihnen derweil jemand den Imbiss ausräumt?“

„Nee, nee. Da verrutscht nix. Meine Freundin is´ gerade gekommen. Die schmeißt den Laden“, grinste Hannes und sah nicht danach aus, als wolle er sich vertreiben lassen. Vielmehr zeigte er auf die Seitenplane an dem Lastzug, die irgendwie schlaff wirkte. „Das ist ja seltsam. Normalerweise sind die an den Trucks so festgespannt, dass man schon mal auf die Idee kommen könnte, die Seitenwand sei aus Metall. Aber vielleicht hat der Fahrer was nachgesehen oder was umgeladen.“

„Gehen Sie jetzt am besten mal ein paar Schritte zurück, nach da vorne“, flüsterte der Beamte Schöler zu und verdeutlichte seinen Hinweis mit energischem Blick und Armwinken in Richtung Menschenauflauf.

„Wieso das denn?“

„Weil ich es sage. Kann sein, dass das hier nicht ganz ungefährlich ist.“

Hannes Schöler schluckte und machte große Augen. „Ich ääääh …!“

„Nun los, bitte gehen Sie.“

Hauptmeister Winter beobachtete noch den Rückzug seines Beraters und machte sich dann für Born bemerkbar. „Gssst, Pattrick, hey“, flüsterte er halblaut. „Kannst Du da drüben was in dem Laderaum erkennen?“

„Nichts. Aber komisch ist das schon“, kam von der anderen Seite.

„Was ist komisch bei Dir?“

„Hier ist die Beifahrertür nur angelehnt, aber keiner im Führerhaus. Hab´ schon geguckt. Wer lässt denn seine Karre so offen rumstehen?“

„Keine Ahnung.“ Winter ging ein paar Schritte zurück und schaute auf das Nummernschild. Der Lastzug kam aus Frankfurt/Main. Schnell machte er ein Foto mit seinem Smartphone. Dann ging er wieder bis zur Ladefläche.

„Gssst, Pattrick, ist die Plane da drüben bei Dir auch offen?“

„Scheint mir nicht so. Fest verzurrt“, antwortete der und schaute zwischen Führerhaus und Sattelauflieger zu Jürgen Winter herüber. „Aber ich kann ja mal hinten nachschauen, wie´s da aussieht.“

„Warte, ich komme auch. Sei vorsichtig.“

Es sah schon fast albern aus, wie sich die beiden, jeweils Hand an der Waffe im Holster, zum Heck des Fuhrwerks begaben. Vorsichtig, gestelzt, als würde jeder ihrer Schritte sonst ein Erdbeben auslösen.

Hinten angekommen baute sich Winter tatsächlich mit seiner Walther P99 in der Hand links neben der Ladetür auf, während Born den großen Hebel herumzog und den Laderaum sachte öffnete. Ganz sachte. Doch es passierte nichts. Dann riss er die Tür ganz auf. Immer noch nichts. Allerdings konnte man nun in den Laderaum hineinschauen. Soweit das schummrige Licht dies zuließ. Die Deckenplanen oben waren leicht transparent.

Ganz vorne im Laderaum, also direkt hinter dem Führerhaus, standen jede Menge Holzkisten. Auf-, neben- und voreinander gestapelt. Sah nach einer geschlossenen Lieferung aus. Alle mit Aufdruck. Mit Spanngurten am Verrutschen gehindert und mit Bruchsicherungen aus Stahlband. Bis auf eine längliche, gut zwei Meter lange, Kiste mit Scharnieren und einem Klappschloss, die quer oben draufstand. Ansonsten gähnende Leere im Frachtraum. Da war noch viel Platz zum Zuladen. Einzig ein paar am Boden fest genagelte Vierkanthölzer verrieten, dass darin etwas Großflächiges transportiert werden sollte oder bereits transportiert worden war.

Mit einem Satz war Pattrick Born auf die Ladefläche gesprungen, während Winter draußen die Wumme wegsteckte und dann ebenfalls hinaufkletterte.

„Eigentlich müsste der Mann von hier aus auf den BMW gesprungen sein“, sinnierte Born, als er vor einem Kistenstapel vorne stand und versuchte, die Plane nach hinten zu ziehen. Klappte wie am Schnürchen. Ihre Sicherung war gelöst. Sie glitt zurück wie eine Gardine in der Laufschiene.

„Müsste“, mischte sich Winter in die Gedanken des Kollegen ein, „ist er aber nicht. Das sieht hier ganz schwer nach Mordversuch aus.“

„Um Gottes Willen. Meinst Du nicht, Du übertreibst jetzt ein bisschen?“

„Absolut nicht. Überleg doch mal. Wenn der Mann alleine war und tatsächlich von dem Kistenstapel hinaus auf die Straße gesprungen wäre, hätte er dann im freien Flug die Plane hinter sich wieder zuziehen können? Wohl kaum.“

Pattrick Born schaute erst den Kollegen an, dann die Plane. „Du hast recht. Das wäre die absolut perfekte „One-Man-Show“ gewesen. Die muss jemand wieder zugezogen haben, nachdem der arme Kerl hier rausgeflogen ist.“

Winter zückte das Smartphone und rief in der Wache an, äußerte dort seinen Verdacht und bat um Verstärkung. Irgendwie mussten sie sich ja auch um den eigentlichen Unfall kümmern. Am besten würden da gleich auch Kollegen von der Kripo mitkommen. „Die sollen tunlichst auch die von der Spurensicherung informieren. Das wird hier … Was ist denn jetzt los?“, schrie Jürgen Winter plötzlich auf.

Der LKW bewegte sich, setzte zurück und bremste. Winter haute es der Länge nach hin. Pattrick Born hatte sich gerade noch an einem Spriegel unter der Deckenplane festhalten können. Vorsichtshalber war er aber vom Kistenstapel heruntergesprungen und musste sich jetzt auf dem Boden abrollen, als sich der Truck wieder nach vorne bewegte.

„Bleib´ stehen, Du Irrer! Hey, wir sind hier hinten auf der Ladefläche! Mach keinen Scheiß! Mann! Polizei. Stehen bleiben!“

Doch die Rufe verhallten ungehört. Oder zumindest ohne große Wirkung. Langsam zog der Lastzug aus der Parklücke und wurde beschleunigt. „Der Verrückte fährt auf die Unfallstelle zu“, schrie Born, der sich an der Seitenwand entlang nach hinten bis fast zur Ladetür vorgewagt hatte. Plötzlich kam die Vollbremsung. Die Ladetür knallte zu und Born machte zwei, drei Schritte. Dann stolperte er über eines der Kanthölzer und knallte nun seinerseits auf den Boden. So richtig mit Schmackes.

Doch das schien den jungen Polizisten nur wenig zu beeindrucken. Als der Truck stand, sprang er hinten vom Zug und rannte wie von einer Tarantel gestochen zum Führerhaus. Gerade war die Fahrertür aufgegangen und ein recht muskulöser Mann herausgeklettert, als der Sprinter bei ihm ankam. Er schnappte sich den Typen, riss ihn herum und drehte seinen rechten Arm auf den Rücken. Dann drückte er ihn ziemlich unsanft gegen die LKW-Tür. „Sag mal, bist Du total bekloppt, Mann? Du kannst doch nicht einfach losfahren, wenn wir noch hinten drauf…“ Den Rest verschluckte er. Der Fahrer konnte ja gar nicht ahnen, dass da jemand auf der Ladefläche herumturnt, fiel ihm plötzlich siedend heiß ein.

„Was loss? Was willst Du, Polizei? Ich Pappirre in Ordnung, will farre nach Chause. Lange nix gesänn Cheimatt. Ich chabe grosse Fammilie.“

Jürgen Winter war aufgetaucht. Er machte einen leicht belämmerten Eindruck. Er hatte wohl bei dem Sturz auf den Boden einen heftigen Schlag abbekommen. „Komm, lass ihn los. Aber bleib´ bei ihm. Und lass´ Dir seine Papiere zeigen. Auch die Frachtpapiere. Die Kollegen sind unterwegs. Ich muss mal gerade zum Sani“, lallte er noch. Dann klappte er zusammen wie ein Gummimännchen. Born stierte fassungslos auf ihn herunter.

Diese Schrecksekunde nutzte der gerade noch Festgesetzte und wollte sich um die Motorhaube seines Trucks herum verdünnisieren. Aber der Polizist hatte geschaltet und stellte dem Flüchtenden ein Bein, so dass der sich selbst in die Hacken trat und stürzte. Direkt vor dem neugierigen Schöler. „Halt´ den mal grad´ am Boden fest. Arm einfach nach hinten drehen. Das geht schon. Ich muss schnell nach meinem Kollegen gucken!“, rief Born. Doch da war bereits ein Rettungssanitäter aus dem Wagen gesprungen und zu dem Beamten herübergelaufen, der sich gerade aufrappeln wollte. „Nix, nix, liegen bleiben. Erst mal sehen, was mit Ihnen los ist.“

Born, der sich mit Blick aus dem Augenwinkel versicherte, dass Schöler den Mann am Boden unter Kontrolle hatte, schilderte dem Sanitäter kurz, was mit Winter passiert war und fragte: „Sagen Sie, wissen Sie, wie es dem Unfallopfer geht?“

„Ich sitze auf dem anderen Wagen, habe mich um Frau Homrighausen gekümmert. Aber so viel ich mitgekriegt habe, nicht besonders gut. Der hat richtig was abbekommen. Mehrere Knochenbrüche wohl, innere Verletzungen und, so wie es aussieht, vermutlich auch einen Schädelbruch. Sie haben Christoph 25 bestellt. Der muss gleich hier sein. Landet vermutlich am Ende der Parkkolonne.“

„Was für eine verfluchte Scheiße“, entwich es dem sonst eher besonnenen Pattrick Born. „Und das alles noch zusätzlich zu dem Leichenfund von heute Mittag. … Passen Sie gut auf meinen Kollegen auf.“ Von letzterem verabschiedete er sich wie ein Hipp-Hopper, Faust auf Faust. „Wird schon, Alter. Ich drück´ Dir die Daumen.“ Dann drehte er ab, um Schöler den am Boden liegenden Trucker zu entreißen. Der Sünder lag auf dem Bauch, den rechten Arm auf den Rücken gedreht und ein Knie des Pommesbarons im Kreuz.

„Danke, kannst loslassen. Und bitte, steig von ihm ab.“

Wadim Plosicz rannte wie von tausend Teufeln gehetzt. Immer wieder dreht sich der Mann beim Laufen um und schaute wie ein gejagtes Tier nach hinten. Mit Ach und Krach war er unentdeckt von dem Lastzug weggekommen, war zwischen ein paar Büschen durchgewutscht und über den Lidl-Parkplatz zu einer Parallelstraße herübergerannt. Mitten in einem Industriegebiet war er gelandet und hatte nicht die geringste Ahnung, wo genau, in welcher Stadt. Noch bis vor einer halben Stunde hatte er tief geschlafen, in der Koje des Lastzuges. Direkt hinter dem Fahrer. Zum ersten Mal seit fast drei Tagen.

Der Mann aus Kaunas in Litauen war wieder mal durchgefahren, von Malaga in Spanien bis nach Frankfurt. Ohne Schlaf. Dafür aber mit jeder Menge gekauter Kaffeebohnen. Und auf drei verschiedenen Lastzügen, die immer im lockeren Konvoi hinter einander herfuhren. Malaga, Barcelona, Lyon, Neuenburg am Rhein, Frankfurt. Das machten sie schon immer so bei seiner Spedition. Durch den Fahrerwechsel auf der Strecke hätte ihnen keine Polizei der Welt etwas wegen Überziehung der gesetzlichen Lenk- und Ruhezeiten anhaben können. Seit Jahren verdiente er sein Geld mit Lebensmitteltransporten. Einmal die Woche mit Tiefkühltorten von Frankfurt nach Malaga, dann sechs Stunden Schlaf. Und zurück mit einer Ladung Früchte für den Frankfurter Großmarkt.

Von dort hatten sie ihn einfach entführt. Ihm völlig unbekannte Typen. Angebliche Inspizienten seines Arbeitgebers, der Spedition TruckiTRANS aus Vilnius. Sie waren auf dem Großmarkt aufgetaucht, hatten ihm ein Papier mit dem Briefkopf von TruckiTRANS unter die Nase gehalten und sich durch reichlich Interna aus dem Unternehmen legitimiert. Ein Info-Gespräch sollten sie mit ihm führen. Wie mit all seinen Kollegen auch, denen sie angeblich schon vorher begegnet waren. Natürlich hatte er nichts gegen eine gute Tasse starken Kaffees und ein ordentliches Frühstück gehabt und war ihnen in ein Straßencafé gefolgt. Aber dort endete seine Erinnerung nach zwei, drei Schlucken Kaffee und nicht mal einem halben Schinkenbrötchen. K.-o.-Tropfen vermutete er.

Wadim Plosicz musste anhalten, sich auf eine Gartenmauer setzen. Sein Puls hämmerte in den Halsschlagadern. Sterne tanzten vor seinen Augen. Die Kondition spielte einfach nicht mehr mit. Tief atmete er durch und versuchte so, seinen Puls zu beruhigen. Sein kariertes Hemd war nur noch durch zwei Knöpfe vor der Brust gehalten. Die anderen hatte er aufgemacht, um Luft an seinen muskulösen, schwitzenden Körper zu lassen. Wieder schaute er sich sichernd um. Drüben auf der anderen Straßenseite spielten drei Kinder auf dem Rasen vor einem Mehrfamilienhaus. Ansonsten kamen lediglich Passanten und Autofahrer vorbei. Desinteressierte. Niemand kümmerte sich um den Mann auf der Mauer. Dass er am linken Handgelenk eine Handschelle trug, hatte wohl keiner bemerkt.

Was war das für eine widerwärtige Aktion, die sich da vor seinen Augen abgespielt hatte. Der Fahrer hatte ihn ziemlich unsanft geweckt, die Handschelle am Haltegriff in der Kabine gelöst und ihn aufgefordert, sofort aus der Koje heraus zu klettern. Als das dem Trucker nicht schnell genug ging, half er mit zwei markigen Faustschlägen in Rippen und Magengrube nach. Dann war er auf die Ladefläche des Zuges getrieben worden, wo ihn der Fahrer ganz nach vorne nötigte. „Mach´ mal links die Plane zurück, damit man hier mehr sieht“, hatte er ihn auf Russisch angeherrscht. Und Plosicz gehorchte mit schmerzendem Körper. Danach war er wieder angekettet worden.

Plötzlich war ein zweiter Mann auf der Ladefläche. Den hatte der andere offenbar erwartet und war mit ihm ohne große Worte auf den Kistenstapel geklettert, wo sie nun gemeinsam das obere Behältnis öffneten. Der Trucker hatte einen Schlüssel dafür. Eifrig räumten sie in der Kiste jede Menge Teile beiseite. Wohl, um weiter unten fündig zu werden. Doch dann hatte der Fahrer plötzlich eine Eisenstange in der Hand, die er dem anderen kurzerhand auf den Hinterkopf schlug. Der Aufschlag der Stange auf die Schädeldecke hörte sich für Plosicz an, als wäre ein Kürbis beim Herabfallen auf den Fußboden geborsten. Ekelhaft. Vor seinen entsetzten Augen war der klapperdürre Mann blutend zusammengebrochen und auf dem Rand der offenen Kiste liegen geblieben. Er rührte sich nicht mehr. ‚Um Gottes Willen. Ist der Mann tot? Was soll der Scheiß? Warum schlägt dieser brutale Hund hier einfach einen Menschen tot?’ Ihm wurde schlecht vor Angst.

Als der gnadenlose Fahrer auf ihn zukam, dachte der Mann aus Litauen, sein Ende stehe bevor. Er wollte schreien. Doch dieser Schweinehund drückte ihm von vorn so heftig die Kehle zu, dass er glaubte, jeden Moment werde der Knorpel im Hals brechen.

„Du chilfst mirr jetzt“, herrschte ihn der Mann an. „Sonst bringe ich dich um. Wie den da.“ Dann schloss er die eine Handschellenhälfte auf, befreite ihn so von der Ladebordwand und schleppte ihn mit Karnickelfanggriff zum Kistenstapel. Hustend und röchelnd war Plosicz, die Pranke des Irren im Genick, stolpernd mitgelaufen und am Fuß des Kistenberges angelangt. „Rauf mit Dirr“, brüllte dieser Unmensch und folgte ihm die zwei, drei Stufen auf der Seite mit der offenen Plane. Immer wieder schaute er nach hinten durch die offene Ladetür, bis er auf einmal brüllte: „Komm, ancheben! Nun los, mach! Schneller!“ Dann lud er mit Plosicz´s Hilfe den Leblosen über seine rechte Schulter, drehte sich zur offenen Seite des Trucks hin und warf sein Opfer mit beiden Armen einfach hinaus. Als wenn der Mann gar nichts wöge. Er warf ihn einfach so weg.

Plosicz erstarrte. Als er dem Niedergeschlagenen hinterher schaute, sah er über die Kante der Seitenbordwand hinweg von links eine Cabrio-Frontscheibe und einen Frauenkopf mit brünettem Haar vorbeikommen. Im selben Augenblick krachte es. Reifen blockierten, gefolgt von einem leisen ‚pflatsch’. Dann war es für einen kurzen Moment still. Bis die Frau ganz entsetzlich schrill zu schreien begann.

Der Killer war von der Öffnung zurückgewichen und mit einem Satz von dem Kistenstapel heruntergesprungen. Dann hatte er mit einem Ruck die Plane zugezogen. Er lauschte nach draußen, wo man jetzt aufgeregte Stimmen hörte. Rufe nach Rettungsdienst und Polizei wurden laut.

Für Plosicz die Chance, aus diesem Wahnsinn heraus zu kommen. Schnell war er von den Kisten heruntergestiegen, durch den Frachtraum gesprintet und aus der Ladetür gesprungen. Draußen warf er den offenen Flügel zu und legte kurzerhand den Riegel um. Er hatte gehofft, dass sein Peiniger hinterhergekommen wäre und dabei in die Tür eingeklemmt, zumindest aber von ihr getroffen würde. Doch der große Aufschrei blieb aus. Auch ein fast ersehntes Geräusch brechender Knochen war nicht zu vernehmen.

Immerhin aber war der Drecksack jetzt für einen Moment gefangen. Denn er würde sich angesichts des Menschenauflaufs draußen nicht trauen, die Plane wieder zurückzuziehen und seitlich über die Ladebordwand auf die Straße herunter zu klettern. Zumal es einen kleinen Stau entlang der geparkten Lastzüge gab. Zu viele Augenzeugen.

Der Flüchtende wollte ebenfalls ungesehen davonkommen. Sachte schaute er auf der Gehwegseite um die Ecke des Trucks nach vorn. Keine Menschenseele zu sehen. Auch von hinten nichts. Nur die Lücke bis zum nächsten Lastzug ließ ihn da stehen wie auf dem berühmten Präsentierteller. Zu seinem großen Glück wendeten auf der Straße gleich zwei Pkw hintereinander. Deren Fahrer wollten offenbar aus dem Stau heraus und einen anderen Weg in die Stadt hineinnehmen. Die hatten etwas Wichtigeres zu tun, als nach ihm zu schauen. Mit zwei großen Sätzen überquerte er also den Gehweg und verschwand hinter den Büschen. Die boten ausreichend Sichtschutz. Aber seine Freude darüber währte nicht lange. Denn zwei Meter weiter bremste ihn ein Zaun.

Mist! Wohin jetzt? Nach rechts ging es nicht weiter. Da endete die Buschgruppe. Und man hätte ihn von der Straße aus sehen können. Also nach links. Nach ein paar Metern wehte ihm der verräterische Duft der Imbissbude um die Nase. Pommes und Bratwurst. Augenblicklich bekam Plosicz Hunger. Aber er konnte sich beherrschen. Für eine Portion Pommes rot/weiß war die Bedrohung viel zu groß. Lieber hungrig davonkommen, als beim Essen von diesem durchgedrehten Typen erwischt zu werden. Kurz darauf hatte er den Lidl-Parkplatz erreicht.

Vor und neben dem „Wittgensteiner Hof“ hatten die von der SpuSi das ganz große Besteck aufgefahren. Mindestens fünf Leute in weißen Raumfahreranzügen und mit blauen Plastiküberschuhen wuselten dort herum. Die Parkstraße war nach wie vor voll gesperrt. Der Verkehr wurde über den Berlebach, an den Kliniken vorbei, umgeleitet. Noch immer standen Neugierige an den Absperrungen herum und erzählten sich die wildesten Räuberpistolen. Nur Clemens Finger, der freie Journalist, hatte mittlerweile eine klarere Sicht der Dinge. Auf allen Vieren kriechend, um den Polizeiblicken zu entgehen, hatte er sich hinter der Schlossmauer in Position gebracht und direkt in die Gasse blicken können, an deren Ende der Leichnam gefunden worden war. Jede Einzelheit hatte er mit seinem ofenrohrgroßen Tele eingefangen. Die Bilder waren längst per Mail zu einer Fotoagentur gegangen.

Und weil er aus seiner unbequemen, aber strategisch optimalen Position heraus so ganz nebenbei manches Gespräch der Ermittler belauschen konnte, manchmal auch nur Gesprächsfetzen, baute er sich aus dem Erlebten und Gesehenen seine ganz eigene Geschichte zusammen. Für die Boulevardpresse. Nicht umsonst hatte er in der Branche von den seriösen Kollegen den Spitznamen „Schlimmer Finger“ bekommen.

Eigentlich war es purer Zufall, dass Finger diesen Aufreger in Bad Berleburg mitbekam. Denn sein Augenmerk hatte er ursprünglich auf das Flüchtlingserstaufnahmelager in der ehemaligen Rothaarklinik gelegt. Mal sehen, wie sich dort die Wachmannschaften aufführen. Nach den wirklich furchtbaren Zuständen in Burbach und anderswo, nicht nur für einen Boulevard-Reporter ein Thema, an dem man eigentlich nicht vorbeikommt.

Doch irgendwie kam er hier nicht zu Potte. Die Lage schien unaufgeregt zu sein, dort oben. Und die Flüchtlinge, die er unterwegs traf, meist Menschen aus Syrien, wussten nichts besonders Negatives zu berichten. Außer, dass sie durch ihre Unterkunft sehr weit entfernt von der Stadt waren. Tatsächlich war das schon eine elendige Latscherei von dem Klinikkomplex am „Spielacker“ runter in die Innenstadt. Und zurück erst recht. Da waren einige Höhenmeter zu überwinden.

Die hatte übrigens auch Clemens Finger aus Dortmund-Hombruch in den Knochen. Denn wer Geschichten von Menschen erfahren will, die zu Fuß unterwegs sind, sollte tunlichst auf das Nebenherfahren mit dem Auto verzichten. Schweren Herzens hatte er sich also selbst per pedes auf den wirklich beschwerlichen Weg gemacht, um seine Story „rund“ zu bekommen, wie die Journalisten sagen. Allein, es war ihm trotz heftiger Bemühungen und einigem Rauf auf den Berg und Runter in die Stadt nicht gelungen, auch nur einen der meist Englisch sprechenden Flüchtlinge dazu zu bekommen, so richtig abzulästern. Das, was er von den Leuten am häufigsten als Antwort bekam, war „thank you Germany“. Frustrierend für einen, der ausgezogen war, einer Schweinerei auf die Spur zu kommen.

Bis er auf einem seiner Wege über das Rainchen hinauf zur Oberstadt plötzlich auf die Polizeiabsperrung Ecke Parkstraße traf. Fünf Minuten Recherche, den Gaffern zuhören und beobachten, reichten dem routinierten Schlagzeilenhai völlig aus. Schlagartig switchte er im Kopf um, vergaß augenblicklich die emotionsgeladene Geschichte von misshandelten Menschen im Flüchtlingslager. Hier lauerte die wahre Geschichte. Ein grausames Verbrechen in der Provinz. Eine Story, die es in sich hatte – und Geld brachte. Das hatte er im Urin.

Nachdem der Tote abtransportiert worden war, hatte der fiese Gestank in der Oberstadt stark nachgelassen. Verschwunden aber war er noch nicht. Kein Wunder. Denn der Leichensaft, oder wie immer man die Flüssigkeit bezeichnen wollte, die da aus dem Plastiksack ausgetreten war, hatte das Erdreich getränkt. Und das müsste dringend abgetragen und entsorgt werden. Allerdings waren da die Herren im Ganzkörperkondom strikt dagegen. „Zunächst müssen die Spuren dort akribisch gesichert werden“, hatte Gert Steiner, Chef der Spurensicherung, bereits den Nachbarn mitgeteilt. Und damit deren Illusion zerstört, bald wieder befreit einatmen zu können. „Sorry, das dauert noch. Wir haben ja bis jetzt nicht einmal eine Ahnung, wie der Mann überhaupt dort unten hingekommen ist. Vom Warum ganz zu schweigen. Aber das müssen die Kollegen von der Kripo klären.“

Und die hatten richtig was zu tun. Erst die Leiche am Rainchen. Und jetzt auch noch der versuchte Mord in der Limburgstraße. Das war mehr, als man in dem eher verbrechensarmen Wittgenstein seit Jahrzehnten erlebt hatte. Vorsichtshalber hatte Hauptkommissar Klaiser in Absprache mit Dienststellenleiter Bernd Dickel schon mal die Kollegen in Siegen um Mithilfe gebeten. Denn die Aufgaben, die jetzt auf sie zukommen würden, überschritten ihre personellen Möglichkeiten um ein Vielfaches. Selbst wenn sie sich die Fälle teilten, was im Übrigen bereits geschehen war.

Während er an dieser ausgesprochen seltsamen Sache mit dem Toten am „Wittgensteiner Hof“ bleiben wollte, übernahm Kriminalkommissarin Corinna Lauber den versuchten Mord am Truck. Und jeder von ihnen hatte lediglich einen Kollegen als Unterstützung an der Hand. Corinna konnte auf die dauerhafte Hilfe von Polizeiobermeister Pattrick Born zählen. Und Klaiser hatte eigentlich auf Jürgen Winter gebaut, der ihm schon in der jüngeren Vergangenheit immer wieder mal mit hervorragender Arbeit zur Seite gestanden hatte. Doch der war nach seinem Sturz auf dem Lastzug zur Untersuchung und Beobachtung ins Krankenhaus gekommen. Wie lange er ausfallen würde, dazu war keine Prognose zu bekommen.

Also holte er sich Obermeister Sven Lukas als Teamkollegen. Der war zwar ein unglaublicher Computerfreak und daher eher für IT-Ermittlungen in Wirtschaftskriminalfällen geeignet, aber Klaiser wusste, dass dieser Mann sich in komplizierte Fälle richtiggehend reinbeißen konnte. Recherchieren bis der Arzt kommt. Genau das, was jetzt gefragt war.

Längst hatten sie alle verfügbaren Kolleginnen und Kollegen der Schutzpolizei auf den Schlossberg geschickt, um Befragungen bei den Anwohnern zu machen. Hatte jemand etwas Verdächtiges gesehen, gehört? Und, wenn ja, was und wann? Wem waren Fahrzeuge und/oder Leute aufgefallen, die zwischen „Wittgensteiner Hof“ und Café etwas abgeladen hatten, oder zumindest abgeladen haben könnten; eventuell eine Leiche.

Wadim Plosicz schnappte noch immer heftig nach Luft. Die Flucht bis zu dieser Mauer am Hilgenacker hatte erstaunlich viel Kraft gekostet. Überraschend viel für den Mann, der sich eigentlich sportlich fit wähnte. ‚Wahrscheinlich machen dich die K.-o.-Tropfen so fertig’, dachte er, während er nach wie vor den spielenden Kindern gegenüber zuschaute.

Plötzlich war am Himmel ein Hubschrauber zu hören. Erst nur vage. Dann schien er zügig immer näher zu kommen. Und dort, von wo aus er geflohen war, startete ein Fahrzeug mit Martinshorn. Neugierig versuchte der Flüchtende zu verstehen, was da abging. Aber er traute sich nicht einmal, um die Hausecke hinter seinem Rücken zu schauen.

Der Hubschrauberpilot schien auf einem Platz ganz in der Nähe landen zu wollen. Vadim kannte das verräterische Knattern der Rotorblätter, wenn sie vom Piloten verstellt werden, um Höhe zu verlieren. Immer näher kam er und wurde immer lauter. Und dann war der Eurocopter zu seinem großen Erschrecken auf einmal direkt über ihm und zog eine Schleife. Deutlich konnte er von unten „ADAC Luftrettung“ an der knallgelben Maschine lesen. Dann war sie schon wieder weg. Hinter den Hausdächern verschwunden.

Die Kinder von gegenüber, die die Erscheinung am Himmel genau so hatte zusammenfahren lassen wie Plosicz, rannten jetzt quer über die Straße in Richtung des Landeplatzes. Deutlich hörte man, wie der Heli jetzt die letzten Meter herunterkam und dann aufsetzte. Blütenblätter, Staub und Papierfetzen flogen durch die Luft. Er schien vor einem Getränkemarkt hinten um die Ecke gelandet zu sein. Dann verlor sich das Schwirren der Rotorblätter. Nur noch Turbinengeräusche, die immer weiter nachließen, bis nur noch der normale Stadtlärm zu hören war.

Frank Drescher stieß einen leichten Fluch aus, als er die Polizeistreife in Bad Laasphe am Straßenrand sah und erkannte, dass er anhalten sollte. Die rote Kelle am hoch gestreckten rechten Arm des Polizisten und die ausgestreckte Linke in Richtung Bordstein waren unmissverständlich. ‚Was ist denn jetzt schon wieder los? Haben mich die Armleuchter etwa am Forsthaus Bracht geblitzt?’ Er hatte es etwas laufen lassen auf der recht verkehrsarmen Strecke. Und seit die Fahrbahn vor ein paar Jahren nach einer halben Ewigkeit des Dahingammelns endlich saniert worden war, konnte man hier auch mit dem Lastzug gefahrlos etwas zügiger fahren.

„Guten Tag, allgemeine Verkehrskontrolle. Bitte Ihren Führerschein, Fahrzeugschein und die Ladepapiere.“ Drescher hatte das Seitenfenster heruntergefahren, herausgeschaut und zurückgegrüßt. Der Beamte, der mit Blick zu ihm hinauf die ganze Litanei stereotyp heruntergeleiert hatte, machte keinen sonderlich freundlichen Eindruck. Sein Kollege, der drei Meter weiter vorne stand, im Übrigen auch nicht. Mit der rechten Hand am Pistolenholster, sicherte der die Kontrollaktion des Kollegen mit langem Gesicht ab. ‚Arme Bullen’, dachte Drescher, während er die Papiere nach draußen reichte, ‚Euch macht der Job offensichtlich keinen Spaß’. Ihm schwante Übles. Denn mit griesgrämigen Polizeibeamten hatte er in der Vergangenheit immer wieder mal Probleme gehabt.

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