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Читать книгу: «Aus der Praxis», страница 4

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Emma redete kein Wort. Nicht nur, dass die Mutter sie doch nicht verstanden haben würde, das Herz war ihr zu voll.

Da bemerkte sie, als sie das Haupt der Mutter an die Lippen drückte, dass sich auf dem Nachtgewand ein blutiger Flecken gebildet. Sollte sich die Arme beim Fallen an der Bettkante verletzt haben? Entsetzt prüfte sie, woher das Blut stamme und entdeckte schließlich am Hinterhaupte der Frau eine Wunde, aus der das Blut über die weißen Haare herabsickerte, das dünne, hellrote Blut einer Greisin.

Dieser Anblick, der zu einer anderen Zeit vielleicht nur einen vorübergehend peinlichen Eindruck auf Emma gemacht haben würde, quälte sie nun in ihrer jetzigen Gemütsstimmung derart, dass sie gegen sich selbst die bittersten Anklagen schleuderte, als sei ihr die Schuld jenes Unfalls zuzuschreiben, und während sie die Wunde mit einem Schwamme auswusch, zuckte sie zuweilen zusammen, als habe sie und nicht die Mutter den Schmerz zu tragen. Alsdann verband sie, so gut sie es vermochte, die wunde Stelle, setzte sich neben das Bett und beobachtete, welche Folgen die kleine Verletzung nach sich ziehen werde.

Sie wusste selbst nicht wie es kam, der blutgetränkte Schwamm, das zeitweilige Stöhnen der Verletzten, die ganze eben erlebte Überraschung, die pessimistische Lektüre, alles das drang mit solcher Gewalt auf ihr Gemüt ein, dass der schon oft in ihr aufgetauchte Gedanke: Bewusstlosigkeit sei das höchste Gut! nun plötzlich mit überwältigender Macht an ihr Herz stürmte. Eine Art Vernichtungsdrang überschauerte sie, das ganze Leben schien ihr völlig bedeutungslos, farblos; und was verlor denn diese Unglückliche, wenn sie die wenige Vernunft, die ihr geblieben, völlig einbüßte? Und sie, das Kind der Bejammernswerten, was verlor denn sie, wenn sie sich den sogenannten Genüssen des Lebens entzog? Entzog sie sich nicht auch den Schmerzen? Und überwogen die Schmerzen nicht die Genüsse? Und wohin sollten die Wirrnisse ihres Herzens führen? In welch’ gefährliche Stellung hatte sie sich gebracht – ihr Inneres bebte zurück vor einer Neigung, die nur nach dem Untergange eines schönen, talentvollen Menschen Nahrung erhalten durfte?

Nein! Sie besaß nicht länger den Mut, dieses Elend weiter zu schleppen, dies Elend, das ihr inmitten des Reichtums nun erst recht fühlbar geworden, sie wollte mit der Unglücklichen, die dort auf dem Lager seufzte, hinüberfliehen in das Nichts, von dem ihre Lieblingsphilosophen so begeistert redeten.

Bereits zuckte die erste Morgenröte durch die Ritzen des immer geschlossenen Ladens im Krankenzimmer, als Emma das Bett der zuweilen leise seufzenden Mutter verließ. Ein Ende machen! rief eine Stimme in ihrer Brust, als sie durch die stillen Gemächer des noch schlummernden Hauses wandelte. Ein Ende machen! Einen Augenblick trat sie in den Garten hinaus, ohne irgendetwas zu denken oder zu empfinden, ganz stumpf in den sich immer glühender färbenden Himmel schauend. Wie leer, wie fade das alles war, sie verzog die Lippen wie im Widerwillen und schüttelte das graziös geformte Haupt. – Schon begannen die Vögel ihr Lied, der Wind strich kühl, gleichsam wie Abschied nehmend durch die Büsche; sie gähnte verschlafen, schauerte fröstelnd zusammen und zog sich in den Gartensaal zurück. Wie fremd ihr die Welt erschien; alles so trübe, die Möbel verdrossen, die Bilder so übellaunig, und doch flimmerte über allem ein traumhafter Schleier.

Immer musste sie gähnen, als wolle der Schlaf sein Recht nachholen, immer fielen ihr die Augen zu, immer wieder, wenn sie dieselben öffnete, flimmerten die Gegenstände so traumhaft, und doch war diese Ermattung nicht eigentlich unangenehm, sie hielt wenigstens eine gewisse dumpfe Sehnsucht fern.

Die Dienerin kam und brachte den Kaffee. Emma nickte mit dem Kopfe und schritt auf einmal, wie von einem Drange, dessen sie nicht Herr werden konnte, erfasst, auf den eleganten Arzneischrank zu, der einen Winkel des Gemachs verschönerte. Ein Ende machen! schien seine Türe knarrend zu rufen, als sie dieselbe öffnete. Dort befand sich eine größere Flasche Opiumtinktur, von deren Inhalt der verstorbene Onkel zuweilen Gebrauch machen musste, wenn ihm der eben nicht mäßig genossene Wein den Schlaf geraubt. Emma dachte, als sie das Kristallglas ergriff, lebhaft an den alten hitzköpfigen Onkel und dabei kamen ihr die Worte: ›den Toten soll man nur Gutes nachreden!‹ in den Sinn, sie wusste selbst nicht warum! War es die unbewusste Empfindung, dass sie nun selbst benötigt sei, an das entschuldigende Vergeben ihrer Bekannten zu appellieren?

Wiederum unterdrückte sie ein Gähnen, jedoch als sie jetzt die Kaffeetasse halb entleerte, um das Ausgegossene durch die schwarze Opiumtinktur zu ersetzen, zitterte ihre Hand wie im Fieber, doch bezwang sie ihre Aufregung, die Lippen so fest aufeinander pressend, dass dieselben nur noch als dünne, weiße Striche sichtbar blieben.

»Erst sie, dann ich,« murmelte sie, indes alles Blut ans ihrem Gesichte wich. Gerade als sie die Opiumkaraffe erhob, fiel ihr Blick in den gegenüber hängenden, prachtvoll vergoldeten Spiegel. Sie schrak zusammen, als sie ihr totenähnliches Gesicht gewahrte, das eben von einem Sonnenstrahl berührt, wie der Kopf einer Enthaupteten in dem Goldrahmen auftauchte, und drückte, einen Seufzer des Abscheus ausstoßend, ihre schmale Hand auf die Augen. Noch stand sie uneins mit sich selbst, manchmal sich selbst und ihr Tun nicht begreifend, wie von einem Schwindel erfasst, als sie plötzlich fühlte, wie eine fremde, warme Hand langsam ihre kalte berührte, indem sie sanft, aber fest die Karaffe aus ihrer Hand zu nehmen beabsichtigte. Sie löste erschrocken die Finger von den zugepressten Augen, sah sich, als habe sie eine Geistererscheinung berührt, mit halb geöffnetem Munde um und stieß einen unartikulierten Ton aus. Er war’s, er stand vor ihr, das ernste, strenge Auge vorwurfsvoll in ihr Auge gebohrt, Doktor Kahler. Sie setzte die Karaffe auf den Tisch, versuchte alsdann, was ihr kaum gelingen wollte, zu lächeln und sah ausdruckslos vor sich hin.

Dann wie aus einem Starrkrampf erwachend, atmete sie aus und ließ sich langsam in einen Fauteuil nieder, den Kopf tief zur Erde herabgeneigt.

Er blieb, Stock und Hut in der Hand, vor ihr stehen; doch kaum hatte sie ein paar Mal die kalte Hand vor die Stirne gepresst, als wolle sie dort eine düstre Vorstellung verwischen, als sie mit einem zwar todblassen, aber im Übrigen fast gleichmütigen Gesicht zu ihm empor sah.

»Sie kommen frühe,« sagte sie mit rauer, klangloser Stimme, »nehmen Sie Platz.«

Da sie sich ein wenig abwandte, fuhr der Doktor aus seinem Sinnen empor, ergriff die Lehne des nächsten Stuhles, drehte ihn um und ließ sich sehr langsam auf ihn nieder, den prüfenden Blick nicht von der halb verschämten, halb trotzigen Frau abwendend. Kaum dass der starke Mann Besorgnis blicken ließ, kaum dass, wenn sie ihn einmal nicht ansah, etwas wie Teilnahme über seine strengen Züge glitt. Endlich, da ein peinliches Stillschweigen auf beiden Seiten einzutreten drohte und Emma unter seinem Blick endlich ein Erröten unterdrückte, wandte er sein Auge von ihr ab und sagte, nicht in fragendem, tadelndem, sondern mehr in gleichmütig-barschem Ton:

»Was waren Sie im Begriff zu tun, gnädige Frau?«

Sie schwieg und spielte mit den Fransen eines Fauteuils, während er mit seinem Stocke spielend allmählich eine ärgerliche Miene annahm. Sie ließ einen unverständlichen Ausruf hören und versuchte, da ihr jetzt etwas wie Tränen in die Augen treten wollte, das Lächeln ihres Mundes zu verstärken.

»Gnädige Frau,« begann er nun in vorwurfsvollem Ton, »einen solchen dummen Streich hätte ich nicht von Ihnen erwartet. Todesgedanken! Jetzt, da Sie allen Elendes enthoben sind? Und da Sie sich doch selbst für eine Philosophin halten! Nein, ich traute Ihnen mehr Geist zu.«

Diese Bemerkung traf ihre Selbstliebe gerade an der Stelle wo sie am verwundbarsten war, da es ihrem Stolze schmeichelte, für geistreich und belesen zu gelten. Die Schamröte machte rasch einer momentanen Blässe Platz, sie hob den Kopf und ohne zu wissen, was sie sagte, stieß sie ziemlich laut ein barsches fragendes: »Wie?« hervor.

Als dieser scharfe, unhöfliche Klang die Stille des Gemachs durchschnitt, entstand eine Pause, während welcher man nur das eintönige Ticken der Pendüle vernahm. Doktor Kahler fühlte, dass er zu barsch gewesen, er hatte eigentlich auch beabsichtigt, milde zu sein und es blieb ihm selbst ganz unerklärlich, warum ihm jene rauen Worte entfahren.

»Geist?« fuhr sie, nachdem sie sich gesammelt, mit ironischer Betonung fort, »glauben Sie auch an das Märchen, nur die Dummen, oder die Wahnsinnigen seien geneigt, dies kostbare Geschenk, das Leben, von sich zu werfen? Lieben Sie denn das Leben so sehr? Sie scheinen ähnlich wie die Kinder alles das, was Sie nicht verstehen, ›dumm‹ zu nennen! Erlauben Sie mir zu bemerken, dass ich Sie für gescheiter gehalten habe.«

Der Doktor runzelte die Stirne.

»Ich sehe, Sie bedürfen meines Trostes nicht,« sagte er ein wenig beleidigt, »und Sie danken mir nicht einmal dafür, dass ich Sie davon abgehalten habe, ein —«

»Nun?« frug sie lächelnd, da er abbrach.

»Ein Verbrechen zu begehen!« fuhr er fort.

Sie schwieg regungslos dasitzend.

»Ich sehe ein, dass ich unüberlegt gehandelt,« entgegnete sie nach einer Pause langsam, »ob das, was ich im Begriffe war zu tun, ein Verbrechen ist, lasse ich dahingestellt, mir erschien es im Augenblick als das allein Richtige, Naturgemäße. Sie versetzen sich nicht in meine Lage, das ist das Ganze! Sie glauben, es sei töricht, dem Reichtum, der mich umgibt, zu entsagen und denken nicht daran, dass das, was man besitzt, allmählich den Reiz der Neuheit verliert und dann –«

Sie hielt inne, sah einen Augenblick mit ausdruckslosem, fast verglastem Auge ins Leere und frug dann ganz unvermittelt, mit einer Art Heftigkeit: »Haben Sie Nachricht von meinem Manne?«

Noch ehe er indes antworten konnte, wandte sie rasch das blasse Gesicht zu ihm hin und setzte, ohne eine Miene zu verziehen, mit ganz harter Stimme hinzu: »Es scheint sich nicht zu bessern.«

Darauf stützte sie das Haupt in die hohle Hand, starr ins Leere sehend.

Auf den Arzt wirkte die plötzliche Erwähnung Pauls, seltsam beunruhigend und doch wieder freudig erregend. Er empfand, dass Emma diese Angelegenheit nur deshalb so obenhin berührte, weil sie sich innerlich sehr eingehend mit ihr beschäftigte und nun erst warf ihm ihr verstörtes Benehmen ein erklärendes Licht auf die schwarze Tat, die er eben durch sein Dazwischentreten verhindert hatte.

Empfand sie Gewissensbisse? Sah sie ein, in welch’ zweifelhafte Stellung sie sich gebracht! Oder liebte sie ihren abwesenden Gatten! Hierüber sich Gewissheit zu verschaffen nötigte ihn ein unwiderstehlicher innerer Zwang, und über seine Frage, die ihm jetzt unbewusst über seine Lippen glitt, aufs tiefste erschrocken, sagte er:

»Nicht wahr, der Tod Ihres Mannes würde Sie sehr schmerzlich berühren?«

Noch immer sah sie leblos, einer Leiche ähnlich, ins Weite, dann wandte sie wieder den Kopf langsam mit starrem Blick nach ihm hin, sah ihm wie geistesabwesend in das erschrockene Gesicht und sagte ganz befremdet:

»Warum soll ich Sie und mich belügen?«

»Belügen?« sagte er betreten, obgleich ihn eine unerklärlich heitere Stimmung überschleichen wollte.

»Die Wahrheit über alles,« entgegnete sie mit einer gewissen Würde, »warum soll ich mir das übelnehmen? Für meinen Gemahl kann ich nicht die warme Teilnahme hegen, die man unter gewöhnlichen Verhältnissen füreinander hegt. Wie sollte dies möglich sein? Ich habe ihn kaum gesehen, kaum gesprochen!«

Der Doktor nickte bestätigend.

Nach einer Pause hob sie den vorher geneigten Kopf und frug, indem sich ihre Wangen ein wenig belebten:

»Würden Sie es mir verargen, wenn der Tod meines Gatten mich gleichgültig ließe?«

Der Arzt zuckte die Achseln.

»Eigentlich nein!« sagte er gedehnt, wiederum von jenem angenehmen Schauer durchrieselt, der ihn schon einmal überrascht.

»Bitte,« fuhr sie alsdann leiser fort, »sagen Sie mir doch, was Sie eigentlich von mir denken! Wie komme ich Ihnen vor, seit ich verheiratet bin?«

Der Doktor erzwang ein Lachen und stammelte ein paar schmeichelhafte Bemerkungen, denen er jedoch, sie immer wieder verschluckend, eine ironische Wendung zu geben suchte. Sie unterbrach ihn, indem sie behauptete, er sage nicht die Wahrheit, er hielte sie gewiss für eine Gewissenlose. Auf einmal zog sie die Augenbrauen finster zusammen, und indem sie sich wie tief ermattet in den Sessel zurücklehnte, traf den Doktor ein verzehrender, schmerzlicher Blick aus ihrem glutvollen Auge.

»Doktor, Sie sind schuld an meinem ganzen Elend,« flüsterten ihre leidenschaftlich bebenden Lippen im Ton tiefsten Vorwurfs.

»Ich? Schuld?« fuhr der Arzt auf.

Immer ruhte noch dieser feuchte, fast wilde Blick auf dem bestürzten Kahler.

»Dass Sie dem Unglücklichen, ohne meine Erlaubnis einzuholen, jenes Märchen aufgebürdet – ich liebe ihn,« sagte sie, sich in ihrer fast liegenden Stellung nicht rührend.

»Gnädige Frau,« entgegnete Kahler lächelnd mit unsicherer Stimme, »wie können Sie mir hierüber Vorwürfe machen? Das finde ich sonderbar; handelte ich doch in Ihrem Interesse, gaben Sie mir doch vollkommene Vollmacht! – Nein!« setzte er, das Gesicht in ernste Falten legend, hinzu, »ich muss diese Anklage ganz entschieden zurückweisen.«

»Spricht Sie Ihr Gewissen wirklich gänzlich frei?« frug sie, ihn aufmerksam betrachtend. Er besann sich eine Weile.

»Gänzlich,« sagte er dann entschieden. »Die Notwendigkeit zwang mich zu dieser kleinen Verfälschung der Wahrheit; ich rechne diese Lüge sogar zu meinen guten Werken, gnädige Frau. Ich liebte Paul und wollte ihm das Glück, das ihm winkte, gewaltsam unter allen Umständen aufdrängen. Nun,« fügte er leiser hinzu, »er ist glücklich.«

Emma erbebte bis ins Innerste, tief erblassend wiederholte sie halb fragend, halb bestätigend das letzte Wort: »Glücklich?!«

Des Doktors Gesicht verfinsterte sich zusehends, bis es schließlich einen fast schmerzlichen Ausdruck annahm.

»Auch wenn er jetzt sterben sollte,« sagte er leise, »nenne ich ihn glücklich.«

»Warum, wie meinen Sie das?« frug sie mit zitternder Stimme, den verschleierten, immer noch von tiefer Kränkung glühenden Blick auf ihr Gegenüber gerichtet.

»Weil er liebt!« entgegnete der Arzt ruhig, seine Erregung beherrschend.

»Und keine Gegenliebe fand?« frug sie fast atemlos.

»Fand er diese wirklich nicht?« sagte der Arzt trübe lächelnd.

Sie schüttelte das schöne Haupt und schwieg.

»Haben Sie überhaupt je einen Mann geliebt?« frug Kahler, absichtlich einen leichtfertigen Ton heuchelnd.

»Wie?« fuhr sie auf.

Er wiederholte seine Frage.

»Ich glaube: nein! Doch das sind nutzlose Fragen,« sagte sie.

»Da haben Sie recht,« meinte er lächelnd

Wiederum trat beiderseitiges Stillschweigen ein.

Der Wind bewegte leise die reiche Seidengardine des Fensters, streifte den goldenen Kronleuchter und brachte die feinsten Haarwellen auf der Stirn Emmas in Bewegung. Doktor Kahler saß wie traumverloren, die Hand auf den Stock gestützt, das Kinn auf diese Hand gedrückt. Endlich stand er auf.

»Gnädige Frau,« sagte er im Tone wärmster Teilnahme, »darf ich Sie um einen Gefallen ersuchen?«

»Wie meinen Sie?« frug sie zerstreut, ohne sich zu regen.

»Versprechen Sie mir,« fuhr er mit weicher Stimme fort, »Ihr Todesgelüste zu zügeln. Bedenken Sie, dass sich Ihr Leben noch schön und heiter gestalten kann und dass da Menschen leben, welchen Sie nützen können, welchen dies, Ihr Leben, kostbar ist.«

»Wirklich?« kam es träumerisch über ihre Lippen.

»Wirklich!« bestätigte er, »man darf nicht so egoistisch sein und muss bedenken, dass man mit seiner Person viel mehr andern, als sich selbst angehört. Alle Ihre Freunde, zu welchen auch ich mich zähle, haben ein Recht auf Ihr Leben. Sie sind gewissermaßen unser Besitz.«

Sie schwieg noch längere Zeit, als sänne sie dem Klange dieser weichen, tiefgefühlten Worte nach, als wolle sie ihre ganze Seele in diese ernste Mannesbrust versenken.

»Nun, ich verspreche,« entgegnete sie endlich, »dass ich dem Leben nicht entfliehen will —« sie hielt inne und setzte dann lächelnd hinzu: »wenn Ihnen dies Leben so kostbar ist.«

Es ergriff ihn ein leichtes Zittern, das er je doch überwand.

»Gewiss,« sagte er, »aber werden Sie Wort halten?«

»Soll ich etwa schwören?« frug sie, zu ihm emporsehend.

Doktor Kahler ergriff die auf dem Tische stehende Opiumkaraffe.

»Wir wollen es fürs erste unmöglich machen,« sagte er, »dass Sie Ihren düsteren Anwandlungen sogleich die Tat folgen lassen können —«

Er trat ans Fenster, um die Karaffe zu zerschmettern, sah sich am Fenster stehend noch einmal um und kam, als er bemerkte, wie sie teilnahmslos seiner Handlungsweise zuschaute, wieder zurück.

»Nein!« sagte er alsdann, »ich mag Sie nicht für ein Kind halten, dem man sein gefährliches Spielzeug entziehen muss! Hier nehmen Sie die Flasche zurück! Ich traue Ihren Worten.«

Sie schien überrascht, errötete flüchtig und suchte dann nach passenden Worten, die sie anfangs nicht finden konnte.

»Ich danke Ihnen,« sagte sie, des Doktors Hand ergreifend, »ich werde mich dieses Vertrauens würdig zeigen, verlassen Sie sich darauf —«

Dann setzte sie mit fester, tieftönender Stimme hinzu:

»Das Leben erhält eine neue Anziehungskraft, einen neuen Reiz, sobald man weiß, dass man —« sie wollte sagen: »geliebt wird,« erschrak jedoch vor diesem Ausdruck und fuhr fort: »sobald man weiß, dass man guten Menschen etwas wert ist.«

Der Arzt, der an der Türe noch einmal zögerte, empfahl sich ungeschickter, als es ihm lieb war. Er hätte so gern noch ein teilnehmendes warmes Wort einfließen lassen.

Emma lauschte auf die sich entfernenden Schritte des charakterfesten Mannes, sank dann in den Fauteuil zurück und bewegte die Lippen.

»Und ich liebe ihn trotz allem, ich liebe ihn!« rief es in ihrer Brust. So saß sie noch einige Zeit, sich in der Phantasie den Genuss bereitend, diese ganze eben erlebte Szene noch einmal zu durchleben.

Jede seiner Äußerungen legte sie aus die Waagschale, jede seiner Mienen prüfte sie, um zu ergründen, welchen Seelenzustand sie wohl bemäntele und sie kam hierbei zu einem nicht unangenehmen Resultat.

Aber sie nahm sich vor, ihn nicht eher wiederzusehen, bis sich das Schicksal ihres Mannes entschieden.

Vorher durfte keine weitere Verständigung stattfinden, sie musste ihrer Ehre das Opfer bringen, die geliebten Züge zu vermeiden. So lebte die junge Frau ziemlich einsam dahin, nur mit der Pflege der Mutter beschäftigt, aber geheilt von ihren düsteren Todeswünschen, geheilt durch die Liebe. Die Briefe, die sie aus der Heilanstalt Michelstadt von Zeit zu Zeit empfing, erbrach sie nicht mehr; sie kannte den Inhalt und wollte alles vermeiden, sich zu sehr in die fortschreitende Leidensgeschichte Pauls zu vertiefen, um sich das Mitleid zu ersparen, das sie ihm dann doch gezollt haben würde. Wenn der letzte Brief mit dem dicken schwarzen Rand kommen werde, den wollte sie öffnen und ihn auch einem anderen zu lesen geben!

IV. Kapitel

Inzwischen waren mehrere Wochen vergangen.

Im Hause des Rechtsanwalts Heinheimer herrschte ein reges Treiben; eine fröhliche Gesellschaft durchwogte die erleuchteten Räume. Der kleine Anwalt schlüpfte durch die Reihen seiner Gäste, bald diesen, bald jenen bewillkommnend, indes seine Gattin weniger lebhaft, aber dafür desto gründlicher die Honneurs machte. Auch Emma Steinacher, die Klientin des Anwalts, war geladen und erschien gegen acht Uhr, freilich, wie sie selbst sogleich bemerkte, um sich nach einer Stunde wieder zu entfernen, da sie ihre Mutter nicht länger allein lassen durfte. Sie wechselte ein paar freundliche Worte mit dem kleinen Mann und zog sich darauf mit der noch immer hübschen Frau Heinheimer in einen kleinen, durch eine Portiere geschlossenen Salon zurück. Natürlich erkundigte sich Frau Heinheimer in liebenswürdigster Weise sogleich nach dem Befinden des Herrn Steinacher, welcher Frage Emma geschickt auszuweichen wusste. Sie war schließlich dahin gekommen, bei allen derartigen in Beziehung auf ihren Gatten gestellten Fragen ein und dieselbe Phrase vorzubringen, bei der sie nicht einmal mehr in Verlegenheit geriet, wie es anfangs der Fall gewesen.

»Hat Sie Doktor Kahler lange nicht besucht?« frug Frau Heinheimer im Laufe der Unterhaltung.

Emma hatte Mühe, ein Erröten zu unterdrücken.

»Ja,« sagte sie aufs Geratewohl, unbesorgt darüber, ob diese Antwort zutraf oder nicht.

»Nun, so werden Sie ihn vielleicht hier bei uns sprechen können,« fuhr Frau Heinheimer fort, »er hat uns versprochen, einen Augenblick zu erscheinen. Einen Augenblick! Seine Praxis erlaubt ihm natürlich nicht, lange zu verweilen.«

Emma machte eine Bewegung, als wolle sie aufstehen, besann sich jedoch und unterdrückte, so gut es ihr gelingen wollte, ihre Beklommenheit.

Frau Heinheimer plauderte hierauf noch einiges, mochte aber merken, dass Emma nur mit halbem Ohre zuhörte und lud sie, als jetzt aus dem anstoßenden Gemach die Töne des Pianinos erklangen, ein, ihr zu folgen, Fräulein Schreitz werde eines ihrer reizenden Lieder singen.

»O!« sagte Emma, die, da sie selten in Gesellschaft ging, sich in einer solchen immer ein wenig unbehilflich benahm, »ich höre lieber von hier aus zu. Es stört mich, wenn ich Musik höre und ich befinde mich dabei unter vielen Menschen.«

»Ach ja!« entgegnete die Frau des Rechtsanwalts, »Sie haben Recht! Nicht wahr! ich langweile Sie mit meinem Geplauder?«

»Mich?« frug Emma überrascht, »wie können Sie das sagen?«

»Ach! Mein Mann meinte, Sie seien so gescheit,« entgegnete die andere, »Gesellschaften missfielen Ihnen, Sie hielten sich nicht gern auf der Oberfläche der Unterhaltung.«

»O,« lachte , »wie man mich verleumdet!«

»Wissen Sie,« sagte die andre, »dass ich mich ein wenig vor Ihrem Verstande gefürchtet!«

»Gefürchtet?« frug Emma, »liebe Frau, die Gescheiten braucht man nicht zu fürchten, die Dummen, das sind die Gefährlichen.«

»O! Für dieses Wort möchte ich Sie küssen,« lachte Frau Heinheimer, Emmas Hand fassend.

Darauf begann sie, während Emma an andere Dinge dachte, einige bedauernde Worte über das unselige Los der armen geisteskranken Mutter einfließen zu lassen, und zwar erschien ihr Mitleid so aufrichtig, dass Emma der hübschen kleinen Frau gerührt die Hand drückte.

»Ich bin an dieses trübe Schicksal von Kindheit an gewöhnt,« sagte Emma, »ich habe mich jetzt fügen gelernt. Freilich, manchmal begreife ich selbst kaum, wie ich das alles aushalten konnte. Aber ich habe es ausgehalten.«

Im anstoßenden Gemach belohnte jetzt ein lebhaftes Händeklatschen die Sängerin, die ihr Lied beendet.

»Wissen Sie, dass Herr Doktor Kahler große Stücke auf Sie hält?« frug Frau Heinheimer, während sich Emma erhob. Emma tat, als habe sie im Lärm des rauschenden Festes diese Frage überhört. Ihr einziges Bestreben ging dahin, diese fröhlichen Räume zu verlassen, bevor sie der Doktor betreten, sie wollte unter allen Umständen ein Zusammentreffen vermeiden. Wie dies jedoch bewerkstelligen? Ihren Wagen erwartete sie erst gegen neun Uhr, den weiten Weg bis an ihr Haus konnte sie nicht ohne Begleitung zurücklegen, und das Fest jetzt schon verlassen, da sie kaum fünfzehn Minuten hier verweilte, musste wenigstens den Festgebern auffallen. Als sie sich jetzt unter die Gäste mischte, versuchte sie auf möglichst unbemerkte Art zur Garderobe zu gelangen, fest entschlossen, den Heimweg ohne Begleitung zurückzulegen. Behutsam wie eine Diebin näherte sie sich dem Ausgang. Kaum hatte sie denselben erreicht, als sie erbleichend zurücktrat.

Es war zu spät, dort stand er in seiner ernsten, gesetzten Weise, mit dem Anwalt plaudernd. Sie hegte diesem Manne gegenüber, seit er ihr jene Karaffe aus der Hand genommen, eine sonderbare Furcht, sie empfand zu sehr die Macht, die er über ihr Gemüt auszuüben imstande sei und sie wollte selbstständig bleiben, wie sie es von jeher auch ihrem Vater gegenüber gewesen. Und nun bemerkte er sie, er nickte ihr zu, die sie seinen Gruß kaum erwiderte, sondern wie in einem nachtwandlerischen Zustand nach der Garderobe schritt. Seine Blicke folgten ihr, während er mit dem Anwalt sprach; sie fühlte das, ließ sich jedoch nicht abhalten, sondern ergriff ihre Kleidungsstücke und zog sie in fieberhafter Hast an. Wenn mich nur niemand aufhält, dachte sie, ängstlich umherspähend. Richtig, da schritt Frau Heinheimer in der Nähe an ihr vorbei, bemerkte jedoch die Hinwegeilende nicht. An der Küche vorübereilend, gab Emma dem Dienstmädchen den Auftrag, der Herrin auszurichten, man möge sie entschuldigen, es habe sie nicht länger hier geduldet, sie könne ihre Mutter, die sich heute unwohler befinde, nicht länger unter der Aufsicht der Dienerschaft lassen. Endlich erreichte sie die bereits dunkle Straße. Die Laternen wurden soeben angezündet, als sie, immer den Schatten der Häuser aufsuchend, dahin floh. In der Tat floh sie vor ihm, wie vor einem Feinde, obgleich sie eine unbestimmte Ahnung im Herzen hegte, dass er ihr folgen werde. Indes vermied sie, sich umzublicken, selbst dann noch vermied sie es, als sie bereits Schritte hinter sich hörte, deren unregelmäßigen Gangart man anmerkte, dass sie bemüht waren, schneller von der Stelle zu gelangen, als eigentlich anständig schien.

Anfänglich bemächtigte sich ihrer eine stumpfe, gedankenlose Angst; die Füße versagten ihr fast den Dienst. Als die Schritte jedoch immer näher kamen, stieg in der Brust der jungen Frau fast ein Ärger, ein scheues Trotzgefühl auf, und, als die Schritte nun dicht hinter ihr zu vernehmen waren, drehte sie sich plötzlich um, blieb stehen und bemühte sich, sehr ernst, fast drohend auszusehen. Doktor Kahler kam näher.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau,« sagte er lächelnd, »ich eile Ihnen nach, um Sie an Ihre versäumte Pflicht zu gemahnen.«

»Pflicht?« stieß sie, vom hastigen Gehen noch atemlos, hervor.

»Sie befolgen meine ärztliche Anordnungen übel,« erwiderte er, ebenso erregt wie sie, »habe ich Ihnen nicht anempfohlen, heitere Gesellschaft zu besuchen und daselbst möglichst lange zu verweilen? Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie müssen sich unbedingt zerstreuen? Ihre Mutter, die um diese Zeit schläft, kann recht gut eine Stunde hindurch unter Aufsicht Ihrer pflichtgetreuen Zofe gelassen werden. Warum verlassen Sie die liebenswürdige Frau Heinheimer, der ich Sie auf die Seele band, so gar frühe?«

Emma ging weiter, während er folgte. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, die Tränen traten ihr in die Augen, und doch war es ihr nicht weich ums Herz. Was sollte sie auf seine Frage erwidern? Sollte sie wiederum lügen?

Nein, es musste endlich zur Entscheidung kommen, sie musste die Wahrheit sagen, mochte daraus folgen, was da wollte. Und sie besaß genug Mut, um die Wahrheit nicht zu fürchten.

»Weil ich Ihnen nicht begegnen wollte,« sagte sie geradeaus mit fast harter Stimme. Er räusperte sich.

»Tue ich Ihnen denn etwas zu Leid?« suchte er zu scherzen, wobei jedoch seine Stimme einen weichen Klang nicht zu unterdrücken vermochte.

»Sie —« sie stockte und sagte dann fast mürrisch, »nur ist, sobald ich mit Ihnen verkehre, zumute, als begehe ich ein Unrecht – ein Unrecht gegen – Sie wissen gegen wen!«

Er schwieg. Die Häuserreihe hörte hier auf, das freie Feld begann, nur wenige Laternen, in großen Entfernungen angebracht, erleuchteten die Gartenmauer, an welcher der Weg vorüberführte, nach Emmas Villa.· Die Einsamkeit, die Stille und Finsternis dieser Gegend flößten dem Arzte den Mut ein, einmal sein ganzes Herz zu entlasten und sich ihr gegenüber, ohne die er nicht mehr leben zu können glaubte, einmal ohne jegliche Larve zu zeigen.

»Sie haben vielleicht recht,« sagte er ernst, »unser Verhältnis ist nicht ganz das Richtige, ich habe oft darüber nachgedacht. Ich fühle selbst, dass ich vor Paul, der mir doch ein so tiefes Zutrauen entgegenbringt, die Empfindung, die ich seit einiger Zeit Ihnen entgegenbringe, nicht rechtfertigen könnte. Ich fühle dies, und es zehrt an meinem Innern. Ja! Ich hielt mich immer für charakterfest; seit ich Sie kennen gelernt habe, merke ich, dass auch der charaktervollste Mann in gewissen Dingen ein Kind ist. Ich werde aber, wenn Sie es verlangen, mir Mühe geben, meine halb unbewussten Seelenregungen zu bekämpfen.«

Er hatte männlich, einfach gesprochen, fast ohne mit der Stimme zu zittern.

Emma schwieg und eilte so rasch von dannen, dass es ihm auffallen musste. Ihr Gesicht hielt sie abgeneigt von ihm; er schloss jedoch aus ihren hastigen Atemzügen, dass seine Worte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. Mehrmals war er versucht, sie um eine Antwort zu bitten; auch schwebte ihr eine Antwort auf den Lippen, die sie jedoch nicht das Herz hatte auszusprechen, da ihr die ruhige männliche Art, mit welcher er seine Neigung bekannt, zu achtungswert erschien. So schritten beide nebeneinander her, bis sie das Gartentor der Villa erreicht. Der Arzt wollte sich, da ihn ihr Schweigen kleinmütig gestimmt, entfernen; doch, da sie auf einmal, als ob ihr der Anblick ihres Besitztums Mut eingeflößt, zu reden begann, folgte er ihr in das Innere des Hauses, aus welchem sogleich einige Dienerinnen der Herrin entgegeneilten.

»Wollten Sie nicht einmal nach meiner Gesellschafterin sehen,« sagte sie, »Fräulein Rietel klagt über Kopfschmerzen. Ich glaube, sie hat sich bereits auf meinen Wunsch zur Ruhe begeben.«

Dr. Kahler eilte die breite, hellerleuchtete Marmorstiege hinauf, um nach Fräulein Rietel zu sehen, während Emma, in ihrem Salon angekommen, auf einen Fauteuil sank. Eine vornehme Stille herrschte in dem großen Hause, die Fußteppiche dämpften jeden Schritt. Emma saß angekleidet, den Hut auf dem Kopfe vor dem mit Speisen besetzten Tische, in dessen Politur der Kronleuchter flimmernde Funken streute. Sie starrte in die Flammen des Leuchters, ihre Seele war wie gefesselt, sie vermochte sich nicht empor zu raffen. Zuweilen ertönte das Klingen einer elektrischen Schelle durch die stillen Räume.

Emma wusste nicht, was sie tun sollte; sie fühlte sich wie zerschlagen. Der Kopf wirbelte ihr und die widerstreitendsten Empfindungen zerrissen ihr Herz. Liebte sie ihn denn wirklich? Hielt sie vielleicht nicht das Gefühl der Achtung für Liebe? War dies nicht ein Mann, dem sie sich hätte blindlings unterwerfen müssen und sträubte sich nicht ihr Stolz dagegen, die Sklavin eines Herrn zu sein? Eines so düsteren, strengen Herrn? Endlich erlösten sie die Schritte des eintretenden Arztes aus diesem peinlichen Brüten.

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04 декабря 2019
Объем:
190 стр. 1 иллюстрация
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Public Domain

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