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Читать книгу: «Aus der Praxis», страница 5

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»Eine leichte Erkältung,« sagte er, »hier dies Rezept wird das Fieber dämpfen. Lassen Sie es noch heute Abend besorgen.«

Emma nickte. Er wollte dass Gemach verlassen und hatte bereits die Türe geöffnet.

»Doktor!« rief sie noch einmal, fast unverständlich.

»Gnädige Frau!«

Er schloss die Türe. Da sie sich nicht nach ihm umwendete, suchte er ihr Antlitz im gegenüber  hängenden Spiegel. Er bemerkte, dass sie zitterte, fast so heftig, wie er selbst zitterte.

»Ich bitte Sie,« fuhr sie leise fort, »jenen Gegenstand nicht mehr im Gespräch zu berühren.«

Er verstand sie natürlich, frug jedoch nochmals, welchen Gegenstand sie meine, worauf sie ihm zu verstehen gab, er müsse das wissen.

»Es soll nicht mehr geschehen,« sagte er leise resigniert.

Dann wendete sie sich nach ihm um.

Sie bewegte die Lippen, als wolle sie ihm auch ihrerseits ihre Neigung eingestehen, stand dann aber auf und ergriff des Doktors Hand, die sie fest und innig drückte· Die Art, wie sie seine Hand krampfhaft umspannte, sagte mehr als Worte, es lag in diesem weichen, innig festem Druck alles, Liebe, Ergebung, Resignation, Schmerz.

»Seien Sie mein Freund,« kam es fast unhörbar über ihre erbleichenden Lippen, und er beugte sich, um die seine Augen füllenden Tränen zu verbergen, auf diese kleine Hand herab. Einige Zeit hielt er so das Gesicht herabgeneigt.

»Er ist ein guter Mensch, mein Gatte,« flüsterte sie, »handeln wir, wie er handeln würde und bedauern wir unseren Freund mit Aufrichtigkeit. Was uns spätere Tage bringen können, davon wollen wir sprechen, wenn diese Tage gekommen sein werden.«

Die letzte Äußerung durchbebte Kahlers Inneres, er verstand ihre Andeutung und, das Gesicht rasch zu ihr emporhebend, sah er ihr leuchtend ins Auge.

Dann trübte sich seine Stirn, und es entglitten ihm die folgenden Worte eigentlich gegen seinen Willen:

»Glauben Sie nicht, ich wünsche ihm den Tod,« flüsterte er, das Haupt wieder ernst senkend, »ich liebe ihn und ich fühle, wie schlecht ich an ihm handle. Wahrhaftig, ich liebe ihn und wenn er wieder genesen sollte —« er brach ab, erbleichte und sah zu Boden. Auch sie traf dies letzte Wort: Und wenn er wieder genesen sollte!

Da er jetzt aufblickte, begegnete er ihrem angstvoll fragenden Blick, den er indes vermied. Emma wusste nicht warum, plötzlich durchschauerte sie eine beklemmende Furcht. Sie kam sich selbst unsagbar schlecht vor, aber um ihn, der erblassend vor ihr stand, von Liebe zu ihr tief bewegt, um ihn legte sich ein schwarzer Schleier, er kam ihr noch weit verabscheuungswürdiger vor als sie sich selbst vorkam, seit er dies geheime Wort gesprochen: Glauben Sie nicht, ich wünsche seinen Tod! Wünschte er ihn wirklich nicht? Wer kann die Gedanken eines Menschen bis auf den Grund durchschauen! Warum erbleichte er so jählings? Und wenn er im tiefsten verborgensten Winkel seiner Seele nun doch die Hoffnung hegte, Paul würde seinem Glücke nicht mehr lange im Wege stehen? Durfte sie ihn dann noch lieben? War er einer solchen Hoffnung fähig? Sie wusste aus ihren Philosophen, wie wunderlich die Irrgänge des menschlichen Gemüts sich verschlingen – und sie selbst! Nein! Sie wünschte den Tod des Gatten nicht. Wie sie doch dies Wort des Doktors belästigte, wie es plötzlich zwischen ihn und sie trat, gleich einem warnenden Dämon.

»Verlassen Sie mich jetzt,« sagte sie leise.

Er überhörte diese Aufforderung, denn auch sein Geist grübelte über jenes Wort nach, das ihm wider Willen entfahren. Wie ihm nur zumute war! Jetzt verdammte er den Wunsch, Paul möge dem Leben Lebewohl sagen; doch wenn sein Auge ihre Hand streifte, frug er sich, wie er ohne sie leben könne, und der Tod Pauls erschien ihm als ein Glück für alle Teile.

Da sie ihre Aufforderung wiederholte, verließ er in Sinnen verloren, mit sich selbst sehr unzufrieden das Zimmer, ohne Abschied zu nehmen, bemerkte aber, dass er seine Handschuhe vergessen hatte, kam zurück und fand Emma nicht mehr in dem Gemach. Er konnte sich nicht entschließen, das Gemach zu verlassen, langsam zog er die Handschuhe an und starrte vor sich nieder.

Wie er sich auf einmal selbst hasste, verachtete! Er hätte sich selbst an der Gurgel nehmen und zu Boden würgen mögen. Wohin sollte diese Schwäche führen! Wie konnte ihn, den ernsten Mann eine solche Jugendleidenschaft so ganz ausfüllen, so zum Kinde umwandeln! Und ließe sich diese Leidenschaft nicht mehr unterdrücken? Sollte sie fort und fort wühlen wie ein zehrendes Gift? Nach einiger Zeit öffnete sich die Flügeltüre; Emma in ein bequemes, sehr reizendes Nachtgewand gehüllt, erschien auf der Schwelle.

»Sie noch hier?« stieß sie fast erschrocken hervor.

Er stammelte einige entschuldigende Worte, betreffs der vergessenen Handschuhe; sie wagte nicht einzutreten, sondern lehnte furchtsam an dem Türpfosten.

Plötzlich ertönte von der Landstraße her über das dumpfe Rollen eines Wagens, der Kronleuchter klirrte leise und Kahler, aus seinen Träumereien emporgeschreckt, warf auf die reizende Gestalt einen Blick und fragte, ohne zu wissen, was er sagte:

»Was ist das?«

»Es wird die Post sein,« entgegnete sie, die schönen Hände ineinander fügend und das feine Haupt müde an die Türe lehnend, »sie hält um diese Zeit hier an.«

»Es muss wohl sein,« sagte er.

Noch nie war sie ihm so verführerisch erschienen, noch nie trieb ihr Anblick sein Herz zu so schnellem Gange an. Aus dem weiten Ärmel des Nachtgewandes glänzte ein ausnehmend zartgeformter und doch kräftiger Arm, die im milden Lichte des Kronleuchters schimmern den Linien ihrer Wangen verliefen ungemein zart, nach dem graziösen Halse, es überkam den sonst so Nüchternen, Verschlossenen ein unwiderstehliches Bedürfnis, diesen feinen Kopf zwischen die Hände zu nehmen, und ihn liebevoll zu sich hinein an die Brust zu drücken.

Indes war das Rollen des Wagens verstummt. Ein süßer Schwindel zog an Kahlers Stirn vorüber, er trat zitternd auf die junge Frau zu.

»Emma!« hauchte er sich selbst vergessend, vor sich hin, als sie einen Schritt zurücktrat.

»Hören Sie doch!« rief sie ihm entgegen, »das ist nicht die Post. Hören Sie?«

Er hörte nicht, er sah nur ihr lauschendes Angesicht. Draußen ward jetzt der Wagenschlag zugeworfen, eine Stimme ward laut, der Wagen fuhr langsam hinweg. Nun begann auch Dr. Kahler aufmerksam zu werden.

»Empfangen Sie Besuch?« stieß er hervor.

Sie schüttelte erbleichend den Kopf und eilte an die Türe. Nun vernahm man schwankende, unsichere Tritte, als ob ein schwerer Gegenstand in den Vorplatz des Hauses getragen würde. Emma stand bebend an der Türe, nicht wissend, ob sie dieselbe öffnen sollte.

V. Kapitel

Während sich diese Szene innerhalb des Gemaches abspielte, war draußen aus einer Mietkutsche ein junger Mann gestiegen, der ein glückliches, doch dabei verschämtes Lächeln auf den Lippen, vor dem Balkon der Villa stehenblieb.

»Sie wohnt schön!« murmelte er, den Hut abnehmend und sich durch die dunkeln Locken fahrend, »vielmehr, wir wohnen schön«, setzte er lächelnd hinzu.

Die hohen Fenster, die auf den Balkon führten, waren erleuchtet, man sah den vielarmigen Kronleuchter, prächtige Tapeten, Gemälde, Ornamente durch die Glasscheiben schimmern.

»Was sie wohl jetzt zu dieser Zeit treibt,« dachte der junge Mann, in welchem wir, da er jetzt dem Balkon nähertritt, niemand anders als den Maler Paul Steinacher erkennen. »Ob sie sich wohl freuen wird, mich wiederzusehen, oder ob ich wirklich von den seltenen Briefen, die sie mir schrieb, auf eine Abnahme ihrer Liebe schließen muss.«

Pauls Gesicht verdüsterte sich einen Augenblick.

»Nein! Sie liebt mich noch immer,« philosophierte er weiter, »eine Liebe, die zu solchen Opfern bereit ist, kann nicht so rasch erlöschen.«

Dennoch zögerte er einzutreten. Er fühlte sich so wunderlich schwermütig gestimmt, so hingebend, und doch presste ihm ein Angstgefühl die Brust.

Vielleicht war es das allmählich wiederkehrende, aber noch nicht genugsam befestigte Gesundheitsgefühl, das ihn so weich stimmte, so schüchtern, dass er sich zuweilen selbst belächeln musste. Oder war es die seltsame, märchenhafte Vorstellung, an die er sich noch nicht gewöhnen konnte, dass in jenen so reich geschmückten Gemächern, die er jetzt sein Eigen nannte, ein liebendes Weib seiner harrte? Er umschritt, in Gedanken versunken, das ganze Gebäude, den wohlgepflegten Garten, die Stallung bewundernd und konnte es noch nicht fassen, dass er der Herr dieses prunkvollen, im Mondschein schimmernden Gewächshauses sein sollte. Damals, als er Abschied von ihr genommen, ließ ihn sein Fieber, sein elender Zustand nicht dazu kommen, die Situation, in der er sich befand, zu prüfen; er gab dem Eindruck, den Emmas Erscheinung auf ihn gemacht, nach, er lebte wie in einem wüsten, wahnsinnigen Traum, und jetzt, nachdem ihn die bessere Pflege seiner Krankheit entrissen, jetzt erst begann er das ganze Liebesabenteuer mit dem Auge eines Vernünftigen zu betrachten. Ja! Wie war er eigentlich zu diesem Weibe gekommen! Es lag hinter ihm wie ein Sturm auf offenem Meere, er erwachte, er kam zu sich, er erkannte die Dinge ringsum.

Einerlei, er wusste, dass sie schön sei, dass er sie liebe, dass sie ihn liebe, und das sollte nicht genügen? Wie ihm das Blut in die Wangen stieg, wenn er an sie, an ihr ernstes Wesen, ihre eigenartige Schönheit dachte. Und sie ist dein! Du brauchst nicht mehr um sie zu werben, du besitzest sie. Schreite nur durch jenes Portal die helle, breite Stiege empor, so empfängt sie dich, umarmt dich. Das ist eigentlich gar keine Ehe, dachte der junge Mann, und ich bin kein Ehemann. Ich kenne sie kaum, mir ist, als habe ich von einem schönen Weibe geträumt und suche nun ihre Reize in der Wirklichkeit. Aber warum sie immer nur so kurze Briefe schrieb?

Endlich näherte er sich dem Eingang, aber je näher er dem hell erleuchteten Vorplatz kam, desto banger schlug ihm das Herz, so dass ihn der heftige Schlag fast des Atems beraubte.

»Sie ist meine Frau —« rief er sich, über sich selbst lächelnd zu, »ich begreife meine Verwirrung gar nicht.«

Langsamen Schrittes näherte er sich der Flügeltüre, einen harrenden Diener mit fast erloschener Stimme nach der »gnädigen Frau« fragend. Der Diener lächelte verständnisvoll.

»Bitte, gnädiger Herr,« stammelte er, und Paul, der dem Voraneilenden taumelnd wie im Rausch folgte, sah gleichsam durch einen glühenden Schleier einen breiten Lichtstrom, der sich aus einer aufgerissenen Flügeltüre ergoss, hörte einige wohlbekannte Stimmen und saß auf einmal, ohne zu wissen, wie dies geschah, in einem weichen Samtfauteuil. Nun suchte er seine Schwäche, so gut dies gelingen wollte, zu überwinden, er bemerkte, dass den Fußboden ein weicher Teppich deckte, dass eine liebliche Helle von der Decke strömte, dass vor ihm ein schönes Weib, neben ihm ein Mann saß, der ihm mehrmals stumm die Hand geschüttelt.

»Und erzähle doch,« rief jener Mann neben ihm, »wie ist es dir denn ergangen?« Die drei Personen befanden sich in einer ganz außergewöhnlichen Stimmung, das empfand Paul; die schöne Frau saß starr wie aus Marmor gemeißelt; der Mann suchte ein Beben zu unterdrücken, und Paul schien es, als ob ihn ein Sturm immer weiter von seinem schönen Weibe hinwegrisse, als wenn sie ihm immer mehr entschwände, und ein brennendes Schmerzgefühl schlich ihm von der Brust herauf ins Gehirn, als das jetzt eingetretene Stillschweigen ein immer peinlicheres wurde! War er denn ein Fremder? War sie denn nicht erfreut, ihn zu sehen? Paul wollte reden, die Stimme versagte ihm jedoch, und plötzlich, da ihm während dieses Ringens nach Worten niemand zu Hilfe kam, füllten sich seine großen Augen mit Tränen.

Emma, die anfänglich bleich wie der Tod, aber mit ruhiger Fassung dagesessen, empfand, als sie ihren Gatten so ganz als den Raub seines weichen Künstlerherzens sah, ein eigentümliches Mitleid.

»Verzeiht,« murmelte der Künstler lächelnd, »es ist noch die Schwäche der überstandenen Krankheit.«

Und nun versuchte er hell aufzulachen. Kahler schaute düster drein, und als jetzt Emma aufstand, ihrem Gatten ein Glas Wein zu reichen, verfolgte er sie mit schmerzlichen Blicken. Emma trat an den Tisch, füllte das Glas und reichte es dem blassen, immer noch etwas angegriffen aussehenden Gatten in einem Seelenzustand, der ihr eine merkwürdige krampfhafte Fertigkeit verlieh. Wirklich glaubte sie jeden Augenblick, ein Weinkrampf werde ihr die Brust zerreißen, und doch kam dieser Krampf nicht, und sie hätte ihn als eine Art Erlösung begrüßt, diesen Tränenausbruch, der ihr die Kehle zuschnürte. Wie war es denn möglich! Hier saß er! Gerettet! Wer denn? Ihr Gatte! Ja! Er war’s! Und sie schenkte ihm Wein ein? Richtig, sie hielt das Glas in der Hand, und er lächelte unter Tränen, und sie empfand Mitleid mit dem bleichen Menschen.

»Habt ihr meinen Brief nicht erhalten?« hörte sie seine weiche Stimme in ihr Ohr tönen. Emma sah ihn starr an und schüttelte den Kopf. Sie hatte ja die Briefe, die aus der Heilanstalt eintrafen, gar nicht mehr geöffnet.

»Da habe ich euch freilich überrascht,« fuhr der Maler, seine Rührung überwindend, fort, »doch wusstest du wenigstens, dass in den letzten drei Wochen durch die neue Behandlungsweise des Arztes sich eine Art Umwälzung in meinem Körper vollzog. Ich schrieb es dir ja ausführlich – erinnere dich nur —«

»Gewiss!« sagte Emma errötend und ein teilnehmendes Lächeln erzwingend.

»Nun ja!« fuhr der Maler immer heiterer werdend fort, »sieh, die Stahlbäder taten Wunder an mir. Ich verzehrte eine enorme Menge Eier täglich, lieber Kahler, man fütterte mich tüchtig heraus – kurzum – ich erholte mich – ich schrieb es dir ja ausführlich, liebe Emma, wie man mich mästete, mir Chinin und Wein einflößte – hat sie Ihnen nichts davon erzählt, Kahler?«

Dr. Kahler sagte, er erinnere sich dessen. Das leuchtende Auge, das immer sicherer werdende Benehmen des jungen Mannes drückte ihn förmlich zu Boden und presste ihm das Herz schmerzlich zusammen in der Brust. Er hörte und sah nur noch wie durch einen trüben Nebel. ›Verloren! Auf immer dahin!‹ klang es in seinem Inneren. Oder liebte sie ihn denn? Sie hatte ja selbst eingestanden, dass sie keine Teilnahme für den Gatten hege, also war sie ja immer noch sein. Freilich unter welchen Umständen. Der Verlust quälte umso schmerzlicher, da ihn ein geliebter Mensch herbeigeführt, über dessen überraschende Genesung sich der Arzt sogar aufrichtig freute. Er wollte sich entfernen, aber es war ihm, als müsse er sein Unglück auskosten, als müsse er sich den Stachel der Eifersucht immer tiefer in die zerrissene Brust bohren und so konnte er sich nicht trennen von den beiden, konnte sie nicht – allein lassen! Diese letzte Vorstellung, die beiden sich allein gegenüber zu denken, marterte ihn mit ganz unerträglicher Qual. Jeder Nerv zuckte ihm, wenn er sich die beiden allein dachte, jedes Wort, das sie ohne ihn sprechen würden, schien ihm ein Dolchstoß, es war ihm zu Mut, als sei er das Opfer einer grausamen, nutzlosen Vivisektion. Paul, der in seiner Naivität die Stimmung seiner Freunde nicht durchschaute, ward von Minute zu Minute lebhafter. Ja, es überkam ihn so in der Nähe seines schönen Weibes eine trunkene Lustigkeit, und diese seelenvolle Heiterkeit gab seinen schönen, noch etwas zarten, angegriffenen Gesichtszügen einen eignen Reiz. Er plauderte ganz allein, indes die beiden andern mit sich selbst beschäftigt schienen.

»Jetzt geht es gleich morgen an die Arbeit, Doktor,« rief er, »mein Bild – Sie kennen es – muss fertig werden bis zur nächsten Ausstellung! Ah! Mit welchen Kräften ich nun arbeiten will! Sehen Sie, wie kräftig meine Hand wurde, und welche Muskeln! Aber, liebe Emma, was bleibst du denn so schweigsam, erzähle mir doch, wie es dir erging?«

»O, ich lebte sehr einsam,« sagte sie und begann in einigen abgerissenen Sätzen ihr Leben zu schildern, was ihr allmählich so schwer ward und wobei sie mehrmals so heftig zitterte, dass Dr. Kahler diesem Vortrag ein Ende zu machen beschloss. Er stand auf.

»Halten Sie sich gut, lieber Paul,« sagte er, »arbeiten Sie nicht zu viel, machen Sie sich tüchtige Bewegung im Freien —«

»O, ich habe mir angewöhnt, Zimmergymnastik zu treiben,« fiel ihm Paul vergnügt ins Wort und verbarg eine tiefe Erregung, die ihn in dem Augenblick überdrang, als der Arzt nach der Türe schritt.

Auch durch seine Brust zitterten die Worte: ›Mit ihr allein!‹

»Nun, Ihre Krankheitsgeschichte erfahre ich ein andermal,« fuhr der Arzt fort, sich bemühend, seinen schmerzlichen Zügen einen heiteren Ausdruck zu geben, »ich freue mich wirklich von Herzen, dass Sie so wohl aussehen, halten Sie sich gut, ich bin gespannt auf Ihren genauen Bericht.«

Mit diesen hastig hervorgepressten Worten verließ er das Gemach, noch einen düster-schmerzlichen Blick auf die teilnahmslose Emma werfend, die, die Hand auf den Tisch gestützt, den Kopf geneigt, unter dem Kronleuchter stand.

Die beiden Eheleute sahen sich allein. Die junge Frau atmete heftiger, es war ihr, als müsse sie entfliehen und könne es doch nicht, sie empfand eine gewisse Scheu vor dem jugendlichen Eheherrn und doch zog sein kränkliches blasses Gesicht ihr Auge zu ihm hin, der Drang, diesen noch nicht völlig Genesenen zu pflegen, erwachte in ihr als ein instinktives, echt weibliches Mitleid. Da sich jetzt Paul, wie aus einem Traum erwachend, langsam zu ihr hin wendete, stand sie noch immer regungslos und erst, als der junge Mann mit weicher vibrierender Stimme ihren Namen nannte, zuckte sie zusammen und sah ihn groß an. Da sie hierauf heftig errötete und zitternd auf den Fauteuil zuschritt, begann auch er zu erröten und sagte wie zu sich selbst mit ungemein zartnaivem Klang der Stimme:

»Welch’ sonderbare Ehe! Nicht wahr?«

»Wollen wir nicht zu Nacht essen,« entfuhr es ihr, als müsse sie sich Mühe geben, ihre Sinne zu sammeln, »du wirst hungrig sein.«

»Gewiss,« sagte er träumerisch lächelnd.

Emma klingelte, der Diener erschien, um zu servieren.

Beide redeten nichts, Emma sah ihn zuweilen an, halb erschrocken, halb mitleidig und suchte sich sein kindliches Benehmen zu erklären, das ihr eigentlich gar nicht missfiel. Paul aß mit gutem Appetit, aber mit einer nervösen Hast, die auf starke Gemütsbewegung schließen ließ, zuweilen dämpfte er seine hastigen Atemzüge, zuweilen sah er vom Teller auf, als fürchte er, man mache ihm seine großen Portionen zum Vorwurf. Unwillkürlich empfand sie ein gewisses, hausmütterliches Behagen, als sie ihn so herzhaft zulangen sah, und als er jetzt sagte: »Bei Gott! Ich bin ganz ausgehungert,« lächelte sie ein trübes Lächeln.

Und so war denn jede Brücke hinter ihr abgebrochen, dachte sie resigniert; alle Wünsche mussten schweigen, alle Zukunftsträume mussten zerstört werden; das Netz, das sie sich mit eignen Händen geflochten, war über ihrem Haupte zusammengeschlagen; das Schicksal weiß doch auf eine raffinierte Art die unbedachten Handlungen der Menschen zu strafen. Der starre Schmerz, den sie empfand, wenn sie daran dachte, dass ihr das Glück, von dem sie geträumt, nun nie mehr zuteilwerden sollte, dass sie statt an der Seite eines ernsten Mannes nun an der Seite eines fast gleichaltrigen Jünglings dahinleben sollte, lähmte ihr Denkvermögen, es war ihr, als sähe sie dem Brande ihres Hauses zu, und niemand nahe zu löschen, und langsam sänken die verkohlten Trümmer in den Staub.

Paul begann, vom Wein begeistert, redseliger zu werden, sie hörte nur Worte ohne Inhalt, es hatte sich ihrer die dumpfe Ruhe der Resignation bemächtigt, die ihr alle Energie raubte. ›Was tut es schließlich, ich werde auch so leben können! Den kranken Menschen zu pflegen, ist nun meine Pflicht, ich will sie mir zu keiner unangenehmen machen. Lieben werde ich ihn freilich nie können, aber warum soll ich ihm nicht eine Freundin sein? Doch wird er sich an meiner Freundschaft genügen lassen? Nun es ist alles einerlei!‹ – Auf einmal schwieg Paul errötend, da ihm das Versunkensein seiner Gattin auffiel.

»Liebst du mich denn nicht mehr, Emma?« frug er, den Kopf senkend und aus dem Brot mit nervösen Fingern kleine Kügelchen drehend.

»Wie? Gewiss! – Wir wollen den Diener rufen,« stieß sie verwirrt hervor, »du bist fertig? – Nicht wahr? – Wir wollen abräumen lassen.«

Sie klingelte. Der Diener erschien. Paul war genötigt, zu schweigen, und grübelte erstaunt dem Sinne ihrer Worte nach, die ihm äußerst rätselhaft vorkamen, ebenso, wie ihm in seiner naiven Unerfahrenheit die Hast, mit der sie sich jetzt erhob, ganz unerklärlich schien. Er rauchte eine Zigarette, während der Diener geräuschlos ab und zu ging; Emma kehrte dem Gatten den Rücken, und er betrachtete sinnend erst die reiche Ausstattung des Gemachs, dann die Gestalt seines Weibes und konnte sich nicht sattsehen an dem schlanken weißen Hals, wie er so zart in die Krause des Kleides verlief. ›Und sie gehört dein,‹ jubelte sein Kinderherz. ›Unbegreiflich, warum sie so niedergeschlagen dreinschaut. Sie liebte mich doch einst —‹.

Als der Diener gegangen, drohte wiederum peinliches Stillschweigen die beiden Gatten voneinander zu entfernen, es lag wie eine unheimliche elektrische Spannung in der Luft, man hörte das Gas des Kronleuchters rauschen.

»Es war doch eine merkwürdige Hochzeit, nicht wahr,« begann er von neuem, in der Hoffnung, sie freundlicher zu stimmen.

Sie wühlte schweigend in den Notenblättern, die auf dem Pianino lagen und suchte die Gewissensbisse zu unterdrücken, die ihr die Erinnerung an jene Tage erweckte.

»Mir ist alles gerade wie ein Traum,« fuhr er fort, »meine Toilette – der Wagen – du in deiner Schönheit neben mir – der Standesbeamte – kurz, mir ist, sobald ich an diese Szene denke, als sei ich der Held eines Märchens, und nun ist dieses Märchen zur Wirklichkeit geworden. Du bist kein Phantasiegebilde, ich darf ewig an deiner Seite leben, – kannst du dir denken, wie mir zumute ist?«

»Gewiss,« sagte sie leise.

»O nein, du kannst es nicht,« fuhr er leiser fort, »sonst würdest du anders mit mir sprechen! Aber, liebe Emma, warum wendest du dich von mir ab —? Du liebst mich doch noch, nicht wahr, es ist lächerlich, dass ich das überhaupt frage! Wie könnte es denn anders sein, ich meine nur, du – du —« er stockte und fügte verwirrt hinzu, »du bist so schüchtern.«

Emma errötete heftig.

»Die Mutter fühlt sich kränker, Paul,« sagte sie mit bebender Stimme, »ich – du musst verzeihen, wenn ich keine gute Gesellschafterin bin – es ist wirklich wegen der Mutter —«

»Geht es ihr wirklich so schlecht?« frug der junge Mann, »die arme Frau. Wenn man ihr doch ihr Los erleichtern könnte; ich habe nun erfahren, was es heißt: krank sein! und bedaure seitdem jeden Leidenden doppelt so sehr wie früher. Was sagte denn Dr. Kahler zu dem Leiden der Mutter?«

»Er kann nicht helfen,« entgegnete Emma, von der aufrichtigen Teilnahme Pauls so seltsam bewegt, dass es ihr Mühe kostete, den Dank, den sie für diese warme Teilnahme auf den Lippen hatte, unausgesprochen zu lassen. Sie ging ab und zu, während Paul gedankenvoll den blauen Wölkchen seiner Zigarette nachsah. Emma befand sich gerade im dunkeln Nebenzimmer und beobachtete von da aus durch die Portieren einen Augenblick ihren vor sich hin sinnenden Gatten. Sein Gesichtsausdruck erschien unter dem Einfluss der sanften, von der Decke herabströmenden Beleuchtung merkwürdig zart, fast kindlich, und doch wohnte in seinen dunklen Augen ein seelenvoller Glanz, der auf tiefere, ernstere Charakterzüge schließen ließ. Sie musste sich gestehen, dass man diesen Kopf interessant nennen konnte. Als er jetzt das Gesicht umwandte, schrak sie zusammen, als habe er sie auf einer schlechten Tat ertappt. ›Was nur hinter dieser sanften Stirn vorgehen mag,‹ dachte sie, als sie ihn so träumerisch vor sich hin blicken sah, und sie verglich dieses weiche, traumverlorene Sichgehenlassen unwillkürlich mit der nüchternen Strenge Kahlers.

»Ich werde mich zurückziehen,« rief ·sie in das andere Gemach hinüber, »mir ist nicht ganz wohl, gute Nacht.«

Er nahm die Zigarette aus dem Mund, einen Augenblick verblüfft vor sich niederschauend.

»Gute Nacht,« stammelte er, ohne zu wissen, was er sagte, und ehe er sie in dem dunkeln Gemach erblicken konnte, hörte er, wie sie die Türe hinter sich schloss. Dann saß er noch einige Zeit, bis er seine Zigarette wegwerfen musste, stand auf und ließ sich von dem Diener auf sein Zimmer führen, das im oberen Stockwerk lag. Immer noch drängte sich ihm die Vorstellung auf, dies alles, was er da sähe, die gemalte Decke, das prächtige Bett, sei nicht sein Eigen, er sei nur als Gast hier, bis er sich endlich entschloss, gründlich den Hausherrn zu spielen.

Doch vermochte er es nicht, dem Diener Befehle zu erteilen, er sprach ihm gegenüber höchstens Wünsche aus, ließ die Lampe auf den Tisch stellen und lehnte sich in den bequemen Sessel zurück.

Ehe er sich’s versah, hatte ihn die, durch die Reiseanstrengung herbeigeführte Müdigkeit in einen erquickenden Schlummer geworfen, aus dem er etwa nach zwei Stunden durch das Geräusch erweckt wurde, das der zuschlagende Fensterflügel verursacht hatte. Er fühlte sich merkwürdig erquickt, und war erstaunt, dass seine Gedanken beim Erwachen sofort ohne Übergang um Emmas Gestalt schwebten. Wie sie so plötzlich in seiner eben noch vom Schlafe verdunkelten Phantasie auftauchte und sich ihm, als er die Augen von neuem schloss, immer wieder aufdrängte, ward ihm dies beständige Gefühl der Sehnsucht, das ihn zu beherrschen begann, fast lästig. Sein im Ganzen mehr auf das Anschauliche, als auf das Abstrakte gerichteter Geist kam, als er jetzt ihre geheime Zurückhaltung zu prüfen fortfuhr, zu keinem Ziel. Schließlich erklärte er sich ihr Benehmen aus ihrem weiblichen Zartgefühl, das sich durch die lange Abwesenheit des Gatten bis zu übertriebener Schamhaftigkeit gesteigert, denn dass sie ihn liebe, daran zweifelte er keinen Augenblick. Er war aufgestanden, unruhig im Zimmer auf und ab geeilt und blieb nun vor der Lampe stehen, in deren trübes Milchglas er lächelnd blickte.

»Und warum nicht?« murmelte er vor sich hin, »ist sie doch mein Weib!«

Mit einem raschen Entschluss fasste er die Lampe, um sich aus dem Zimmer zu verfügen. Er wollte sie im Schlafe belauschen; vielleicht, dass sie ihm wenigstens doch erlaubte, einen Kuss auf ihre Lippen zu drücken; oder wenn sie das nicht zugäbe, – die Schlummernde betrachten und sich dann wieder entfernen, das sollte ihm doch keiner verwehren dürfen. Das Herz schlug ihm so stark, als er die breite Stiege hinabschlüpfte, dass er seine angeborene Schüchternheit belächeln musste. Von jeher hegte er dem weiblichen Geschlechte gegenüber eine unbegrenzte Ehrfurcht, die ihm seine gute Mutter frühzeitig ins Herz geprägt und die ihm auch während seiner akademischen Studienzeit trotz des geräuschvollen Jugendübermuts nicht abhandengekommen war. Er sah im Weibe etwas Geheimnisvolles, das unangetastet bleiben sollte. sein Herz suchte überhaupt gerne einen Gegenstand der Verehrung, und trotzdem sein Charakter nicht zu den schwachen gehörte, ordnete er sich doch da leicht unter, wo er Vorzüge zu bemerken glaubte. Endlich hatte er eine Türe erreicht, die er behutsam öffnete, um sich von hier aus in das Schlafzimmer weiter zu tasten, das ihm indes, je näher er demselben kam, als ein Heiligtum erschien, das zu betreten er eigentlich nicht die Erlaubnis habe. ›Was sage ich nur, wenn sie fragt, warum ich ihr Gemach betrete,‹ überlegte er stehenbleibend, und plötzlich durchbebte ihn, wie dies bereits schon einmal geschehen, die Vorstellung, er könne sich in ihrer Liebe getäuscht haben, – seine Knie begannen zu zittern, sein Auge umflorte sich! Nein! Nein! Dr. Kahler hatte ihr doch gewiss mitgeteilt, dass ihre Schönheit, ihre Liebenswürdigkeit es verschuldet, dass er damals so hastig danach getrachtet, seinem Leben ein Ende zu machen? Oder hatte er es nicht? Dann freilich – doch nein! Gewiss, er, ein so edler Freund – er hatte ihr, um ihre Liebe, ihr Mitleid zu erhöhen, diesen Umstand mitgeteilt. Paul entledigte sich seiner Stiefel und schlich sich behutsam in das nächste Zimmer, von diesem in das folgende, bis er fast atemlos vor dem letzten Gemach stehenblieb, in welchem er sie von weitem schlummern sah.

Als er nähertrat, und der trübe Schimmer der Lampe über ihr Bett huschte, waren indes alle seine Bedenken verflogen, er beleuchtete ruhig, ohne zu zittern, ihr friedliches Gesicht, das mit seinen geschlossenen Lidern einen edlen, weltabgeschiedenen Eindruck machte. ›So ruhen die Toten,‹ dachte er bewegt, den feinen Wimpernkranz bewundernd, der sich von der Wange so zart abhob; ›so ruht ein liebendes Weib,‹ setzte er darauf hinzu, als er die sich sanft auf und nieder bewegende Brust wahrnahm.

Noch ehe er sich niederbeugen konnte, diese weiße, im Lampenlicht wie Schnee schimmernde Stirne zu küssen, löste sich ein tiefer Seufzer von Emmas halbgelösten Lippen, Paul zuckte wie ein auf der Tat ertappter Verbrecher zusammen und schlich sich leise davon, gespannt lauschend, ob die Erwachende nicht seinen Namen ausrufen werde. Sie tat es jedoch nicht, er hörte, wie sie sich in den Kissen bewegte und fühlte sich, als er nun die Treppe hinaufeilte, wie nie zuvor von einer weichen hingebenden Sehnsucht ergriffen. Sein fügsamer Charakter, der das Entsagen in jeder Gestalt von Kindheit auf gewohnt war, tröstete sich indes mit dem: es ist nun einmal nicht anders! und malte sich, da die Gegenwart ihn beängstigte, die Zukunft umso glänzender aus.

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0+
Дата выхода на Литрес:
04 декабря 2019
Объем:
190 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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