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Читать книгу: «Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau», страница 2

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AKTEURE BEIM KAUF DER HERRSCHAFT REICHENAU

Wenn Buol-Schauenstein 1792 mit 133 000 Gulden einen sehr hohen – manche behaupteten: übertrieben hohen – Preis erzielen konnte, so hatten die Käufer ökonomische und allenfalls politische Gründe dafür, die noch erläutert werden müssen. Es muss dem österreichischen Gesandten aber schwer gefallen sein, überhaupt einen Käufer für Schloss und Herrschaft zu finden, denn sonst hätte er sie nicht ausgerechnet an politische Gegner Habsburgs verkauft, an die mit der französischen Revolution offen sympathisierende Familie Bavier in Chur, deren Mitglieder zumeist der fortschrittlichen «Patriotenpartei» angehörten.15

Womöglich hätte Buol-Schauenstein vermögende Interessenten ausserhalb Bündens gefunden; der Verkauf wurde indes nicht öffentlich ausgeschrieben, und vielleicht fürchtete man schon damals einen «Ausverkauf der Heimat» mit unabsehbaren Folgen für das komplizierte Gleichgewicht des politischen und konfessionellen Gefüges. Graubünden – oder eben der Freistaat Gemeiner Drei Bünde – war bis 1803 noch kein Bestandteil, sondern ein zugewandter Ort der Eidgenossenschaft; einzig mit Zürich und Bern gab es einen Staatsvertrag, wobei hauptsächlich zum Stand Zürich starke persönliche und politische Bande bestanden. Leidvolle Erfahrung hatte man im Verlauf der Geschichte mit der Einmischung europäischer Grossmächte – namentlich Österreichs und Frankreichs – in die Bündner Politik gemacht, was aber ehrgeizige und auf reiche Pensionen spekulierende Bündner nicht daran hinderte, sich auf die eine oder andere Seite zu stellen.

Als Vermittler des Verkaufs diente offenbar der Oberländer Arzt und Politiker Georg Anton Vieli (1745–1830) aus Cumbel, 16 ein Katholik und seit 1777 österreichischer Gesandtschaftssekretär und Verwalter der Herrschaft Rhäzüns. Diese war seit 1696 direkt dem Kaiserhaus unterstellt und galt als wichtiger Stützpunkt Österreichs in den Drei Bünden. Vielis Vermittlerrolle liegt auf der Hand, war Buol-Schauenstein doch sein Vorgesetzter und Förderer; zudem beteiligte er sich am Kauf, indem er ein Viertel der Kaufsumme übernahm. Das Churer Speditions- und Handelshaus Simeon und Johann Baptist Bavier übernahm die anderen drei Viertel, wodurch Tscharner, seit 1787 stiller Teilhaber der Firma Bavier, wie Vieli Eigentümer eines Viertels wurde. Für die Abwicklung des Kaufs wurde Ende 1791 die Reichenauer Gesellschaft gegründet.17

Die Firma Bavier oder vielmehr ihre Vorgängerin taucht in der Geschichte des Handelsplatzes Chur im Jahr 1693 als schärfste Konkurrentin des damals bedeutendsten Handelshauses Massner auf, das sie 1701 erstmals überflügelte.18 Simeon Bavier (1664–1726) und sein Bruder Johann (1665–1713), die damaligen Direktoren, können nicht die Gründer der Firma gewesen sein, da sie für den Aufbau eines derartigen Handelshauses noch zu jung gewesen wären. Da solche Firmen in der Regel vom Vater auf den Sohn oder die Söhne übergingen, müssen wir noch mindestens eine Generation zurückgehen, um den eigentlichen Gründer zu finden: Ragett Bavier (1635–1691), Zunftmeister und Kirchenpfleger der Kirche St. Regula, war Vater der beiden Genannten und sechster Sohn des politisch einflussreichen Churer Bürgermeisters Johann Bavier.19 Auf diesen Ragett Bavier weist denn auch die Bezeichnung der Churer Handelshäuser und ihrer Direktoren in der Fronfastenrechnung von Chur zwischen 1692 und 1717 hin.20

Alle Abkömmlinge von Bürgermeister Johann Bavier durften ihrem Nachnamen ein «von» voranstellen, weil der deutsche Kaiser einem ihrer Vorfahren für seine Verdienste 1610 den Adels- und Wappenbrief verliehen hatte. Es war durchaus üblich, dass Bündner Politiker, auch solche, die dem Dienstadel entstammten, sich als Unternehmer oder Teilhaber im wichtigen und lukrativen Transithandel oder beim Erwerb von Ämtern in den Untertanengebieten betätigten. Dank ihres Status und Einflusses waren sie in der Lage, ihre Kontakte spielen zu lassen und die für das Geschäft benötigten Finanzen aufzubringen.

Mit den Söhnen von Simeon Bavier – wieder ein Simeon (1704–1777) und ein Johann Baptista (1695–1771) – erhielt die Firma ihren definitiven Namen. Im März 1792, bei Vertragsabschluss mit Buol-Schauenstein, leiteten ein Sohn und ein Enkel dieses Johann Baptista Bavier, beide gleichen Namens, das Speditions- und Handelshaus Simeon und Johann Baptist Bavier: Johann Baptista Bavier (1730–1802), genannt der Alte oder Älteste, und Johann Baptista Bavier (1749–1814), genannt der Lange oder Jüngere. Die Söhne des alten Johann Baptista standen bereit, die Firma zu übernehmen, so dass diese noch bis 1868 Bestand hatte, dann aber ging sie in Konkurs.21 Spätestens jetzt verschwanden neben den Firmen- auch die Originalakten zur Herrschaft Reichenau, falls sie überhaupt so lange aufbewahrt worden waren. Im Tscharner-Nachlass im Staatsarchiv Graubünden finden sich allein handschriftliche Kopien und Entwürfe.

Das Churer Speditions- und Handelshaus S. und J. B. Bavier trat 1787 ins politische Rampenlicht, als es sich in Konkurrenz zum Handelshaus A. und D. Salis (Nachfolger der Firma Massner) um die Pacht der Landeszölle bewarb. Diese Zölle dienten als eine der wichtigsten Einnahmequellen des Freistaats der Drei Bünde dazu, den Gesamtstaat zu finanzieren. Ursprünglich waren sie in eigener Regie über bezahlte Beamte eingetrieben worden, doch im 18. Jahrhundert ging man dazu über, sie dem Meistbietenden für eine begrenzte Zeit in Pacht zu geben und dann neu auszuschreiben. 1728 gelangte die Zollpacht an das Haus Massner, das durch Heirat an die Familie Salis fiel. Die Firma Bavier machte ihr bereits 1754 die Pacht streitig, die noch aus einem anderen Grund von Bedeutung war: Der Zollpächter war zugleich Bankier des Gesamtstaats, verwaltete das Finanzvermögen, legte es an und zog die Zinsen ein.22

1754 gelang es den Bavier noch nicht, Massner-Salis aus dem Geschäft zu verdrängen, aber 1778 versuchten sie es erneut. Peter von Salis schloss mit den Bavier einen Vertrag, wonach sie die Zollpacht zwar ersteigern, ihm jedoch abtreten sollten. Er werde im Gegenzug darauf hinwirken, dass niemand sie bei der Steigerung überbiete, und ihnen für ihr Engagement eine jährliche Summe entrichten.23 Dass eine solche Bietabsprache die Einkünfte des Staats schädigte, bekümmerte keinen der Beteiligten.

1788 trat die Firma Bavier erneut als Konkurrent auf. In der Person von Ulysses von Salis-Marschlins erhielt sie einen mächtigen Verbündeten. Er grollte seinem Vetter Peter von Salis, weil dieser sich von anderen Männern leiten liess und ihm einen Anteil an den Zolleinnahmen verweigerte. Salis-Marschlins empfahl den Bavier, Tscharner in ihre Interessengemeinschaft um die Zollpacht aufzunehmen, um auf diese Weise die Zustimmung weiterer Hochgerichte und wichtiger Personen zu gewinnen. Je mehr einflussreiche Stimmen ein Bewerber hinter sich hatte, desto grösser war die Chance, die anderen auszustechen. Ausserdem riet Salis-Marschlins, das Gebot für die Pacht zu erhöhen, sei es, um das eigene Gewissen zu beruhigen, sei es, um das abgekartete Spiel nicht auffliegen zu lassen.24 Selbstverständlich fanden derartige Übereinkünfte im Geheimen statt; da aber zahlreiche Männer beteiligt waren und die Abläufe 1794 gerichtlich untersucht wurden, sind wir recht gut darüber informiert.

Für seine Bereitschaft, sich mit dem Speditions- und Handelshaus Bavier auf ein solches Geschäft einzulassen, nannte Tscharner, der Gründer des Seminars Reichenau, im Nachhinein politische Gründe: Er habe gehofft, die Macht der politisch und wirtschaftlich einflussreichsten Familie von Salis durch ein internes Zerwürfnis zu schmälern, Peter von Salis «eine unrechtmässige Bereicherungsquelle zu entreissen» und dem Land einige tausend Gulden zusätzlich zu verschaffen.25 Dass er sich selber habe bereichern wollen, wies er entschieden von sich.

Nachdem er den Handel vorbereitet hatte, war der mächtige Ulysses von Salis-Marschlins klug genug, sich nicht selber an dem Geschäft zu beteiligen. Wegen seines Rufs als ränkereicher Taktiker und Beutemacher hätte die Transaktion Misstrauen erregt, zudem wollte er sein falsches Spiel gegen Peter von Salis nicht an die grosse Glocke hängen. Auch Tscharner glaubte, es sei ein besonders schlauer Schachzug, wenn er sein Interesse nicht auf die Zollpacht beschränkte, sondern sich im September 1788 mit 18 000 Gulden in das Speditions- und Handelshaus S. und J. B. Bavier einkaufte.26 Das schien ein günstiger Einstandspreis zu sein, wenn auch für seine Verhältnisse ein hoher Betrag; dass die beiden Direktoren Johann Baptista Bavier senior und junior ihn bereitwillig als Partner aufnahmen und ihm einen Drittel des Gewinns und der Stimmen versprachen, hätte ihm allerdings zu denken geben müssen.

Tscharner war ein ausgezeichneter Politiker und Diplomat, umfassend gebildet, mit einer Affinität zur Landwirtschaft und Pädagogik, stark an politischen und sozialen Reformen interessiert, mit Landbesitz in Jenins (aus Erbschaft) und Liegenschaften in Chur, aber nur geringen Finanzen versehen.27 Er war zu ehrlich, um sich bestechen zu lassen oder sich unter jene zu reihen, die ihre Stimme und ihren Einfluss ausländischen Mächten verkauften. Er dachte gar nicht daran, sich als Mitdirektor im Handelsgeschäft einzubringen und an den Geschäften teilzunehmen, sondern begnügte sich mit der Position des stillen Teilhabers. Er vertraute auf die Redlichkeit der beiden Bavier, von denen der jüngere mit ihm in Chur die Schule besucht hatte, und hoffte, es werde ihm gelingen, seinen ältesten Sohn Johann Baptista Tscharner, damals neun Jahre alt, fürs Geschäft zu interessieren, «damit er früh in der Schreibstube placiert werde, teils um früh ein eigen Salarium zu ziehen, teils um die Vorteile unsres Hauses allda zu besorgen».28

Im Nachhinein war der Eintritt in die Firma Bavier für Tscharner «wohl der unglücklichste Tag meines Lebens», 29 der ihm nur Ärger gebracht habe. Aber vorerst erhoffte er sich aufgrund der guten Zahlen der Vorjahre eine Verzinsung seiner Investition von fünf Prozent, so dass er seinen Einsatz spätestens in 14 Jahren amortisiert haben würde. Es kam ganz anders.

Damit sind alle Mitglieder der Reichenauer Gesellschaft genannt, bis auf Aloys Jost aus Zizers (1759–1827), der 1791 als Leutnant in einer französischen Gardekompanie diente und 1792 in den Generalstab der revolutionären französischen Südarmee unter General Montesquiou wechselte.30 Er war wie Georg Anton Vieli katholisch und übernahm 1793 von ihm die Hälfte seines Anteils, also einen Achtel der Kaufsumme an der Herrschaft Reichenau.31 Da Buol der Zahlungsfähigkeit von Jost und Vieli misstraute, hafteten die Bavier und Tscharner für die beiden.32 Drei Viertel der Kaufsumme brachte also das Speditions- und Handelshaus Bavier auf, zu gleichen Teilen die beiden Direktoren und Tscharner, das letzte Viertel Georg Anton Vieli und später Aloys Jost. Unterschrieben wurde der Vertrag ausser vom Verkäufer nur von Simeon und J. B. Bavier als Firma und von Vieli.33

Die Herrschaft Reichenau wurde am 5. März 1792 für 131 000 Gulden Churer Valuta gekauft, «mit allen Hoch- und Freiheitsrechten und Rechtsamen über die Gemeinde Tamins und über Reichenau», dem Recht, Münzen zu schlagen, Zölle zu erheben, mit sämtlichem Landbesitz, der sich teils auf Reichenauer, teils auf Taminser und Bonaduzer Boden befand, mit allen Gebäuden und Gärten, Anbauten, den Besitzungen im Farsch, der Kapelle samt Glocke und liturgischen Gegenständen, ferner allem, was zum Garten und zur Landwirtschaft gehörte, dem Hornvieh, Schweinen, Gerätschaften der Meierei und der Viehhaltung, allen Wagen, der Waschküche samt Zubehör und allen Gegenständen ausserhalb des Schlosses für weitere 2000 Gulden. Das Schlossmobiliar bildete eine Ausnahme; Buol-Schauenstein behielt sich vor, es in einem gesonderten Vertrag teilweise oder gesamthaft zu veräussern. Übergabetermin war der 1. Juli.

In einer zweiten Schrift vom gleichen Tag wurde in einem Obligo (einer Schuldschrift) die Bezahlung der Kaufsumme geregelt, für welche die Käufer solidarisch mit ihrem Vermögen hafteten: Vorgesehen war eine erste Zahlung von 18 000 Gulden im Mai 1792 und von 15 000 Gulden Ende Jahr, die übrigen 100 000 Gulden, die zu vier Prozent verzinst werden sollten, waren, verteilt auf zehn Raten, jeweils am 1. Juli, erstmals 1793 und letztmals 1802, fällig. Dieses Dokument unterschrieben neben dem Vertreter der Firma Bavier auch Tscharner als Teilhaber und Vieli als Mitschuldner.34

Wir besitzen von den beiden Verträgen nur Abschriften aus dem Nachlass Tscharners, die er für seinen privaten Gebrauch anfertigte. Man kann aber davon ausgehen, dass diese Kopien vollständig und wortgetreu sind, da es Tscharner bei einer juristischen Angelegenheit auf die Einzelheiten ankommen musste. Allerdings fehlt in der Abschrift des Kaufvertrags eine am Schluss erwähnte nachträgliche Änderung, die sich vielleicht mit dem Einbezug von Aloys Jost als Miteigentümer befasste.

EINTEILUNG DER AUFGABEN UNTER DEN EIGENTÜMERN

Zunächst war man sich nicht schlüssig, wie man die Herrschaft und das Schloss nutzen wollte. Tscharner wollte von Anfang an ein gemischt konfessionelles Schulinternat errichten, 35 und so war es naheliegend, dass man ihn mit dessen Planung, Durchführung und Aufsicht betraute. Damit hatte er in der Firma Bavier, die er in seinen Notizen stets als «Schreibstube» bezeichnete, endlich eine Aufgabe und seinen Platz gefunden. Verwandte und Freunde beglückwünschten ihn zum Kauf der Herrschaft und zu seinem Plan, eine Schule einzurichten, wenn auch zuweilen Skepsis über den zu hohen Preis erkennbar und die Warnung ausgesprochen wurde, dass eine solche Schule kaum Gewinn abwerfen und nur eine kluge Nutzung der anderen Teile der Herrschaft die Ausgaben decken könne.36

Tscharner jedoch, beflügelt von seiner Idee, hatte überall herumerzählt und seine beiden Kompagnons und sich selber davon überzeugt, wie vorteilhaft der Kauf der Herrschaft sei, 37 und dass man von der Schule Einnahmen von 3000 Gulden zu erwarten habe, ganz abgesehen von ihrem sonstigen Nutzen.38 Auch seine Familie beruhigte er, dass er mit seiner Beteiligung an Reichenau kein Risiko eingehe: «Das Effect ist vortrefflich und kann sicher auf einen Ertrag von 8–10 procento gebracht werden, wenn die Geschäfte richtig abgeteilt, mit Eifer betrieben, und in der Societät Einigkeit und Wahrsamkeit beibehalten wird. Die Convenienz unseres Hauses könnte darin bestehen, in Folge der Zeit dieses Effect ganz oder grösstenteils an sich zu ziehen. Mehrere Kinder könnten da ihr sicheres Brod finden.»39

Johann Baptista Bavier der Ältere, der die Spedition in Chur führte, also das Transportgeschäft, und sich nach Aussagen Tscharners um nichts sonst kümmerte, hatte keine Einwände gegen die Schule, ja er unterstützte die Idee sogar und platzierte im Laufe der Zeit zwei Söhne darin. Das Schloss mit seinen drei Stockwerken und dem ausgedehnten Seitenflügel bot reichlich Platz für ein Internat, selbst wenn man das Erdgeschoss für die Firma und den Warenbetrieb benötigte. Der jüngere Bavier dachte nüchterner, sprach sich aber nicht dagegen aus, insofern und solange die Schule ihre Kosten deckte und man der Reichenauer Gesellschaft Miete für die Räumlichkeiten bezahlte.

Am 3. Juli 1792, zwei Tage nach Übergabe des Objekts, regelten die vier neuen Eigentümer die Organisation und Pflichten in einem detaillierten Dokument, das sie als Fundamentalsatzung und Erbvertrag bezeichneten, weil es auch nach dem Tod oder Austritt eines Gesellschafters seine Gültigkeit behalten sollte.40 Die vier bildeten einen Herrschaftsrat, der sich einmal im Monat in der Ratsstube des Schlosses treffen sollte, um die anstehenden Geschäfte zu beraten und Entschlüsse zu fassen, die gültig wurden, wenn eine Mehrheit zustimmte. Bei Gleichstand der Stimmen entschied das Los. Johann Baptista Bavier der Ältere hatte den Vorsitz; Tscharner als der Jüngste führte das Protokoll.

Für die Aufgaben wurden drei Departemente gebildet, die von den Eigentümern unentgeltlich geleitet werden sollten. Johann Baptista der Ältere wurde davon ausgenommen, weil er weder Lust noch Interesse verspürte, sich mit Reichenau zu befassen. Dem ersten Departement oblag die Verwaltung der Herrschaft, des Schlosses, der Landwirtschaft und des Gasthauses. Der Verwalter war auch zuständig für die Ausübung der Herrschaft und für juristische Fragen, wozu er Instruktionen und eine Beglaubigung mit einem noch zu kreierenden Siegel erhielt. Dieses Amt übernahm zunächst Vieli, der es schon in der Herrschaft Rhäzüns ausgeübt hatte. Als er im Juni 1792 von Baron Cronthal wieder als Verwalter von Rhäzüns eingesetzt wurde, folgte auf ihn Aloys Jost.

Das zweite Departement war jenes des Handelsdirektors, der den Brückenzoll, die Spedition, das Fuhrwesen und den Handel leitete. Eigentlich hätte Johann Baptista Bavier der Jüngere diese Funktion wahrnehmen sollen, aber da er als Chef die Firma in Chur leitete, konnte er nur selten in Reichenau anwesend sein und schickte einen Beauftragten (Kommis) in die dortige Schreibstube. Als Angestellter erhielt dieser, anders als die Direktoren, ein Gehalt. Er war sicherlich nicht im gleichen Mass am Erfolg interessiert wie die vier Eigentümer und konnte seine Entscheidungen nur mit Anweisungen aus Chur treffen. Das warf verschiedene Probleme auf, etwa in der Frage, ob ihm die Direktoren der beiden anderen Departemente Weisungen erteilen dürften oder nicht. Zunächst war Johann Jakob Castelli in dieser Tätigkeit; im Mai 1796 übernahm Simeon Bavier, ein Sohn von Johann Baptista dem Älteren, das Amt.41 Schon früher hatte Simeon Bavier vertretungsweise die Verwaltung der Herrschaft geführt und Instruktionen für die Wirtschaft und die Aufsicht des Seminars erhalten.42

Das auf seine Person zugeschnittene dritte Departement leitete Tscharner.43 Er war zugleich Finanzinspektor der Reichenauer Gesellschaft und Kurator der Schule, hatte Bilanz zu führen, die Verträge mit Angestellten auszufertigen und war zuständig für die Schlosskapelle, für die Fisch- und Jagdrechte und führte die verschiedenen Geschäftsbücher der Herrschaft, die leider allesamt fehlen: das Goldene und Geschlechterbuch mit den Namen der Eigentümer und ihrer männlichen Nachfolger, das Urbar aller Liegenschaften und das Archiv, in dem die Akten und Verträge aufbewahrt wurden, in einem feuerfesten Gewölbe, das nur von jeweils zwei Eigentümern mit ihren Schlüsseln gleichzeitig geöffnet werden konnte.

Man kann sich die von Tscharner vorgeschlagenen Aktenbände nicht prachtvoll genug vorstellen, wie überhaupt viel Wert auf zeremonielle Aspekte gelegt wurde. Tscharner entwarf ein grosses und ein kleines Herrschaftssiegel und die Ausstattung des Goldenen Buches: «Kann in Folio in rotem Saffian mit göldenem Schnitt, von feinem hellen dicken Schreibpapier sein […]. Titel in generali:

Göldenes Buch

der Gesammtherrschafft von

Reichenau und Damins

errichtet 1793 d. …»44

Zum Einstieg in seine Tätigkeit vertiefte sich Tscharner in die alten Urkunden seit 1472, um die verbrieften Rechte und Pflichten der Herrschaft festzuhalten und daraus ein neues Urbar zu erstellen.45 Wichtig war es, die räumliche Ausdehnung der Herrschaftsrechte zu erfassen: dem Kunkelserbach nach aufwärts bis zum mittleren schwarzen grossen Stein unter der Vättiserbrücke, der Höhe nach hinauf bis zum Calandagrat, dem höchsten Grat nach hinein bis zur Felsberger Alp, dem Rosstobel nach hinunter und von der Vättiserbrücke einwärts bis zum Calfeisengletscher Sardona, «so dass, was diesseits durch inner dem Bach [liegt], unser ist».46 Genauer liess sich das Gebiet offenbar nicht beschreiben.

Eine Skizze, in der Tscharner die aktuellen Grundstücke und Gebäude von Reichenau eintrug, sollte den Überblick erleichtern.


2 — Nach der Übernahme der Herrschaft Reichenau machte Tscharner eine Bestandesaufnahme aller Besitzungen und Rechte. Hier eine erste Skizze der Grundstücke und Gebäude mit ihrem ungefähren Schätzwert.

Als Leiter des Finanzwesens hatte sich Tscharner mit der Erschliessung neuer Tätigkeitsbereiche zu befassen, die für die Herrschaft «von einigem neuen Vorteil» sein und als Geldquelle dienen konnten. Erwähnt wurden neben der Erziehungsanstalt die Inbetriebnahme stillgelegter Bergwerke oder das Münzregal, das immer noch ein verbrieftes Recht der Herrschaft war, obwohl es schon lange nicht mehr genutzt wurde.47 Der Kreativität Tscharners waren keine Grenzen gesetzt, und noch Jahrzehnte später, als er seinen Anteil an der Firma Bavier und der Herrschaft Reichenau längst verkauft hatte, entwarf er Pläne, was daraus hätte werden oder was man aus ihr noch hätte machen können, um einen grösseren Vorteil aus ihrem Besitz zu ziehen.48

Wie alle anderen Direktoren hatte auch Tscharner nur ein Vorschlagsrecht und musste die Treffen des Herrschaftsrats abwarten oder eine ausserordentliche Sitzung einberufen, wenn eine Entscheidung anstand. Das war ein schwerfälliges Prozedere, wenn Entschlüsse rasch gefällt werden mussten. Wenn die beiden Bavier, die sich fast nur in Chur aufhielten, in einer Sache miteinander übereinstimmten, Tscharner aber nicht damit einverstanden war, so kam im besten Fall ein Patt zustande, falls Tscharner Vieli oder später Jost auf seine Seite ziehen konnte. Eine Mehrheit war nicht zu erwarten, solange die Kosten den kommerziellen Nutzen überwogen, und einen Losentscheid zu erzwingen schuf eine unmögliche Situation: Man konnte doch einen Entscheid von grösserer Tragweite nicht dem Zufall überlassen.

Da die Bavier hauptsächlich ein geschäftliches Interesse an der Unternehmung oder «Entreprise» hatten, wie sie die Investition Reichenau auch nannten, gab es für Tscharner letztlich nur die Alternative, in der Opposition zu verharren oder sich das Einverständnis der beiden Bavier durch Einlenken in anderen Punkten zu erkaufen, falls er sie nicht von den Gewinnaussichten seiner Idee zu überzeugen vermochte. Auf keinen Fall durfte er die beiden Kaufleute verstimmen, wenn er etwas erreichen wollte.

Wie schon als stiller Teilhaber der Speditions- und Handelsunternehmung war Tscharner auch in Reichenau in einer unterlegenen Position, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich mit so grossem Eifer und Engagement an die Errichtung des Seminars machte, die Leitung übernahm und sie trotz wachsendem Druck der Bavier und politischer Feinde beibehielt. In seinen «Reichenauer Notanda», die eine Hauptquelle für unsere Kenntnis des Seminars sind, hielt er in Stichworten seine hauptsächlichsten Ziele als Direktor des dritten Departements fest. Daraus geht hervor, dass er sich viele Überlegungen über die zukünftige Gestaltung der Herrschaft machte, so etwa über die Einrichtung einer Grundschule für Taminser und Reichenauer Kinder, sofern sie nicht das Seminar besuchten oder noch zu jung dafür waren, oder die Errichtung einer Armen- und einer Kreditanstalt.49

Tscharner verband mit der Herrschaft Reichenau vorab ideelle Absichten, wollte Bildungs-, soziale und kulturelle Institutionen errichten, wie er sie auch für Chur gefordert und teilweise umgesetzt hatte.50 In Chur war er Mitglied des Schulrats und bis 1786 Schulpräsident gewesen, 1786 Gründer der Armenanstalt und bis 1794 deren Präsident. Freilich hatten solche Pläne in Reichenau und Tamins wenig Aussicht auf Erfolg. Aber Tscharner war Sozialreformer aus Leidenschaft, und wenn er soziale Not oder schlechte Schulen sah, so machte er sich prinzipielle Gedanken, wie dem abzuhelfen sei. Schon in Jenins, wo er einen grösseren Landbesitz besass und für seine Söhne und Bekannte eine Familienschule gegründet hatte, stellte er Überlegungen an, sie auch Kindern aus dem Dorf zugänglich zu machen, falls die Gemeinde sich daran finanziell beteiligen würde.

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