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VORLÄUFER DES SEMINARS
Seine Sicht auf die Welt hatte Tscharner wesentlich jener Schule zu verdanken, die zur Vorgängerin und zum Vorbild Reichenaus wurde: dem Seminar Haldenstein. Mit zwölf Jahren trat Tscharner dort ein, nachdem er zunächst die Stadtschule Churs besucht hatte und auch privat unterrichtet worden war.
Das Seminar Haldenstein war 1761 von zwei ehemaligen Hauslehrern, dem Unterengadiner Pfarrer Martin Planta (1727–1772) und dem etwa gleichaltrigen Johann Peter Nesemann (geboren vermutlich 1726 in Bahrendorf bei Magdeburg, gestorben 1802 in Chur), begründet worden; Tscharner blieb von 1763 bis nach Neujahr 1768 dort. In seinen Kindheitserinnerungen schrieb er: «Frühe schon äusserte sich bei mir Freiheitssinn und Vaterlandsliebe, frühe der Sinn für Gerechtigkeit und bürgerliche Ordnung, frühe der Hass gegen Anmassungen, Liebe zu öffentlichen Verträgen, Trieb zum Verbessern und Vervollkommnen alles dessen, was zu meiner Kenntnis kam. […] Auf der Schule zu Haldenstein hatte man die Zöglinge zu einer römischen Republik konstituiert. Ich war immer mit irgend einer Würde bekleidet.»73
Ähnlich äusserten sich später auch andere Schüler Haldensteins, die in der Politik eine Rolle spielten, so der Waadtländer Politiker Frédéric César de Laharpe (1754–1838), Erzieher von Zar Alexander I. und 1798, in einer Umbruchzeit der Schweiz, Präsident der helvetischen Direktorialregierung. Er war ein Förderer und Freund Heinrich Zschokkes, dem er seine autobiografischen Notizen anvertraute. Laharpe kam kurze Zeit nach Tscharners Austritt nach Haldenstein und blieb bis 1771, als Ulysses von Salis-Marschlins das Seminar unter seine Fittiche nahm und in sein Schloss Marschlins verlegte.
In Haldenstein sei sein erster Entwurf für eine moderne Schweizer Verfassung entstanden, die das alte Ständewesen ersetzen sollte, schrieb Laharpe.74 Gefördert wurden diese Ideen durch den Geschichts- und Philosophieunterricht Nesemanns, der die Schüler in allgemeines Naturrecht und im Geschichtsunterricht in die Welt des antiken, vorkaiserlichen Roms einführte. Die Schüler übernahmen verschiedene altrömische Ämter wie die eines Konsuls, Prätors, Volkstribuns, Quästors oder Senators, hielten Reden, in denen sie «die Pflichten der obrigkeitlichen Personen und der Untergebenen, die Tugenden und Laster der Jugend» und «andere nützliche Wahrheiten» darstellten. Jeden Samstag wurde in einer Art Tribunal das Verhalten der Mitschüler beurteilt, wobei stets auf Unparteilichkeit, Fairness und die Einhaltung juristischer Formen Wert gelegt wurde.75
Von Tscharner hat sich im Nachlass eine Rede aus Haldenstein über den politischen Ehrgeiz und über die Pflichten der Oberen und Untertanen erhalten.76 Gerne erinnerte er sich an die sechs Jahre im Seminar.77
«Den grössten Nutzen schöpfte ich zu Haldenstein im Seminario. Hr. Nesemann lehrte uns denken, das Gedachte ordnen und in gewählten Ausdrücken schriftlich und mündlich vortragen, in Logik, Redekunst, Geschichts-Einleitung p.78 Hr. Planta gab uns Richtung, Festigkeit und Gründlichkeit durch die reine und angewandte Mathematik und durch die Experimental-Physik. Beide beaufsichtigten die Unterlehrer und unsre Conduite.79 Wir waren wohlgenährt, reinlich besorgt, unter steter Aufsicht, hatten zwar täglich 8 Lehrstunden; und herrschte darin aber eine solche Abwechslung, ein solches Interesse, so zweckmässige Zwischenbewegung, so zeitige Unterbrechung und Erholung durch Spaziergänge, Spiel, Arbeiten (z. B. von Papparbeit, Glasschleifen), dass unsre Gesundheit dadurch so wenig litt als unser Frohmut. Und ob wir schon keinen Augenblick ohne Aufsicht waren, so nahmen nicht nur die Unterlehrer, sondern die Professoren selbst jugendlichen Anteil an unsern Spielen, dass uns kein Unterricht ermüdete. Wir wurden dabei durch Aufführung von Schauspielen und Bildung einer Republik zum bürgerlichen Leben und zur Welt angewöhnt. Kurz ich verehre die 2 Stifter und Direktoren, deren der eine unsre Liebe und der andre unsre Hochachtung im hohen Grad zu fesseln verdiente und verstand, noch unter der Erde, und danke ihnen nächst Gott und meinem lieben Vater alles, was ich bin. Diesen Dank sind ihnen auch bald alle verdienstvollen Bündner meiner Zeit schuldig, wenn schon einige durch nachherige politische Verhältnis dem republikanisch gesinnten Nesemann nicht gewogen blieben.»80
Für seine eigenen und einige Söhne von Freunden liess Tscharner die republikanische Erziehung von Haldenstein 1786 auf seinem Landgut in Jenins wieder auferstehen, dachte aber bereits 1790 an eine Schule für ganz Bünden, eine Nationalschule, die den Gegebenheiten und Erfordernissen des Landes gerecht werden sollte. Als Schüler wurden Jünglinge aus dem Adel und anderen vermögenden Familien ins Auge gefasst, denen später Stellen im Staat in Aussicht standen. Seine weitgesteckten Ziele hielt Tscharner in einem langen Memorandum fest, das er «Plan der von Tscharnerischen Familien-Schule zu Jenins» nannte.81 In einer Eingabe vom September 1789 an den Bundstag versuchte er die Abgeordneten der Drei Bünde zu überzeugen, wie nützlich eine solche Schule dem Staat werden müsse. Hier ein Auszug:82
«Mancherlei sind die auswärtigen und inländischen Schulen und Privatunterrichte, welche bündnerische Jünglinge zu besuchen pflegen. Die Sprache, die Rechenkunst, die allgemeine Geschichte und Geographie nebst mehreren Schulkentnissen werden in diesen Schulen gelehrt und die Knaben zu guten Mitbürgern gebildet.
Aber nirgends werden unsere Söhne insbesondere zu Bündnern gebildet und recht eigentlich für unser Vaterland erzogen.
Nirgends werden sie in der Spezialgeschichte von Graubünden lehrreich unterrichtet, welche doch vorzüglich jeden freien Bündner in den Stand setzen würde, aus der Erfahrung des Vergangenen auch die gegenwärtigen und zukünftigen Standesangelegenheiten, ohne fremde Leitung, gründlich zu beurteilen.»
Daneben studierte Tscharner die wichtigsten pädagogischen Werke und arbeitete Unterrichtskonzepte aus. Mangels Nachfrage und finanzieller Mittel liess sich davon nicht viel realisieren. Die Zahl der Schüler in Jenins, die von einem Hauptlehrer und, wie es scheint, meist von nur einem bis zwei wechselnden Unterlehrern betreut wurden, schwankte zwischen acht und zwölf.83 Lehrreich waren mehrtägige sommerliche Fussreisen durch verschiedene Gegenden des Landes, 84 bei denen Tscharner seinen Schülern die Geschichte der bereisten Orte erzählte, ihnen die Verfassung der Gemeinden auseinandersetzte und sie auf die Mängel in der Kultur des Landes aufmerksam machte. «Wohl selten dürften Schüler von ihren Reisen eine so grosse geistige Bereicherung heimgetragen haben, wie die der Jeninser Anstalt.»85
Im Mai 1794 sah Tscharner eine Gelegenheit, seinen Vorschlag einer höheren allgemeinen Landesschule der in Chur tagenden Standesversammlung der Delegierten aller Drei Bünde und im August auch dem Volk erneut vorzulegen. Von der Standesversammlung wurde diese Initiative begrüsst, von den Gemeinden aber, wie nicht anders zu erwarten, verworfen.86 Nach ihrer Auffassung war es zweckmässiger, für eine Verbesserung der Dorfschulen zu sorgen, statt eine Mittelschule zu schaffen. Um die höhere Ausbildung sollten sich die Herren, die für ihre Söhne eine Karriere bestimmten, selber kümmern. Tatsächlich entstand in Graubünden erst 1804 ein öffentliches Gymnasium. Zuvor mussten die Jünglinge ins Ausland gehen oder eine der wenigen Privatschulen besuchen.
Die Nationalschule von Jenins, die eine Familienschule für die Söhne Tscharners und einige wenige Freunde blieb, war stark defizitär. Tscharner hätte sie Ende 1791 am liebsten aufgegeben oder dem Hauptlehrer Jakob Valentin (1760–1841) überlassen, einem reformierten Theologen aus dem Prättigau, der sie seit 1786 leitete. Aber Valentin scheute, der ungewissen Zukunft der Schule wegen, davor zurück.
Mit dem Kauf von Reichenau eröffnete sich Tscharner eine neue Perspektive. Die Herrschaft unterstand weder der Jurisdiktion noch den Behörden der Stadt Chur oder einer anderen Gemeinde, die befugt gewesen wären, sich in die Schulgestaltung einzumischen und Abgaben zu verlangen. Auch konnte sie von keiner Zunft oder Bürgerschaft gegängelt werden, die darüber wachte, wer ansässig sein und ein Gewerbe ausüben durfte, und es war keine Instanz da, welche eine Schule hätte ablehnen können, wenn ihre Ziele allfälligen Satzungen oder Privilegien zuwiderliefen.
Schon lange vor Heinrich Pestalozzi war es üblich, in Privatschulen auf Kopf, Herz und Hand einzuwirken und die Schüler neben dem Unterricht auch noch mit einem Gewerbe zu beschäftigen. Das Gefühl sprach man schon in Haldenstein mit religiöser Hingabe und der Vermittlung eines gelebten Christentums an, indem – vor einem pietistischen Hintergrund – auf Liebe zum Nächsten, Toleranz und Friedfertigkeit hingewirkt wurde.87 Die Erziehung zur Vernunft wurde in Haldenstein durch den eigentlichen, wissenschaftlichen Unterricht abgedeckt, der im Zeichen der Aufklärung stand, und für die handwerkliche Komponente wurde gesorgt, indem die Knaben im Drechseln, Glasschleifen, in Papierarbeiten und im Frühjahr und Sommer im Gärtnern, Pflanzen und Pfropfen unterwiesen wurden.88
Handwerkliche Tätigkeiten waren auch für Jenins vorgesehen gewesen89 und finden sich in den Prospekten des Seminars Reichenau; sie wurden jedoch, abgesehen von der Gartenpflege, nicht ausgeübt. Im Unterschied zu Pestalozzi, der die Kinder arbeiten liess, um sie ihren Lebensunterhalt bestreiten zu lassen, ging es in den Bündner Seminarien darum, ihnen einen körperlichen Ausgleich zu bieten und sie sinnvoll zu beschäftigen.90
Auf politisch und konfessionell neutralem Grund wie Reichenau konnte eine Schule eher gedeihen, in welcher künftige Staatsmänner und Weltbürger, Bündner und Ausländer, gleich welcher Sprache und Religion, erzogen wurden. Vielleicht liessen sich Eltern, die davor zurückscheuten, ihre Kinder einem Privatlehrer anzuvertrauen, verlocken, sie in ein Internat zu schicken. In erster Linie aber mussten sie davon überzeugt werden, dass sich ihre Kinder in einem gesunden Klima aufhielten, vor allen Gefahren beschützt und gründlich unterrichtet wurden. Marschlins nämlich, wohin das Seminar Haldenstein 1771 verlegt worden war, war seines schattigen Sumpfgeländes wegen91 mit dort grassierenden Epidemien in Zusammenhang gebracht worden: Die Schüler wurden von Faul- oder Nervenfieber, einer Ruhrepidemie und dem Tertianfieber (Malaria) befallen, 92 Infektionen, für die man damals aus dem Boden aufsteigende Miasmen verantwortlich machte. Von der reinen Luft und dem sauberen Wasser in Reichenau war dies nicht zu befürchten, dafür war mit Erkältungskrankheiten zu rechnen.
Eines der wichtigsten Argumente für die Aufnahme des Schulbetriebs im Schloss Reichenau war, dass Tscharner Johann Peter Nesemann dafür gewinnen konnte, seine Privatschule in Chur aufzugeben und die Schulleitung in Reichenau zu übernehmen. Nach dem Tod von Martin Planta war Nesemann, der im Verlauf seiner 14-jährigen Tätigkeit in Haldenstein und Marschlins gegen 300 Knaben und Jünglinge aus Bünden und der Schweiz erfolgreich unterrichtet hatte, die mittlerweile selber Väter von Kindern waren, der wohl geachtetste Pädagoge weit und breit. Nach Tscharners Vorstellungen sollte das Seminar Reichenau gemäss den neusten pädagogischen Prinzipien, aber nach bewährten Methoden geführt werden, und dies war durch seinen alten Lehrer, Mentor und Freund Nesemann am besten gewährleistet.
Dass sich Nesemann im hohen Alter von 66 Jahren überreden liess, nach Reichenau zu kommen, noch einmal von Neuem zu beginnen oder vielmehr an Haldenstein anzuknüpfen, muss mit der Freundschaft in Zusammenhang gebracht werden, die ihn mit Tscharner verband, aber auch, da er ein kluger Geschäftsmann war, mit Vorteilen, die ihm versprochen wurden. Tscharner vereinbarte mit ihm ein für damalige Verhältnisse hohes Jahresgehalt von 800 Gulden. Ausserdem durfte er ein Drittel der Geschenke behalten, welche die Schule von den Eltern erhielt. Laut einem nicht datierten Entwurf zu einem «Akkord» (Vertrag), der nach seinem Umfeld in den «Reichenauer Notanda» zu urteilen auf Ende 1793 oder Anfang 1794 zu datieren ist, hatte Nesemann statt wie die anderen Lehrer sieben Stunden Unterricht oder Aufsicht pro Tag nur vier «in jedem erforderlichen Fache» zu geben und eine Stunde Aufsicht zu führen, damit er die Leitung und weitere administrative Arbeiten wahrnehmen, also den Stundenplan koordinieren, die Lehrer überwachen, die Rechnungen führen und Korrespondenz erledigen konnte. Er sollte zwei Zimmer und eine Küche zur Verfügung haben, und es war ihm freigestellt, ob er sich privat verpflegen oder gegen einen Betrag von 150 Gulden jährlich mit den anderen essen wollte. Ausserdem durfte er, was sonst keinem Lehrer erlaubt war, das Wochenende mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Chur verbringen. Er war direkt Tscharner unterstellt, dem Kurator und Verbindungsmann zur Herrschaft.93
Nachdem sich Nesemann bereit erklärt hatte, die Leitung des Seminars zu übernehmen, bemühte sich Tscharner, einen zweiten Direktor zu finden, und bat Jakob Valentin, diese Stelle einzunehmen. Bis alle Abklärungen getroffen und die Räume für die neuen Bedürfnisse instand gestellt waren, sollte die Familienschule in Jenins weitergeführt werden. Danach sollte die Schülerschar geschlossen nach Reichenau kommen: die drei ältesten Söhne Tscharners, ein Planta von Zuoz, Alexander Sulzer oder Sulser von Azmoos, Jan Corv von Ramosch und Peter Ludwig Donatz, Sohn des Marschalls Conradin von Donatz und der Baronesse von Saint-Six.94
DER PÄDAGOGE NESEMANN UND DAS SEMINAR HALDENSTEIN
Über Johann Peter Nesemanns Herkunft und Werdegang sind wir leider nur unzureichend unterrichtet, obwohl ihm gleich zwei Autoren – der Tscharner-Biograf Alfred Rufer und der Bündner Theologe und Historiker Benedikt Hartmann – eine biografische Skizze widmeten.95 Nicht einmal über sein Geburtsjahr sind wir im Bild; in der Literatur differiert es zwischen 1720 und 1726.96 Die sichersten Angaben finden wir im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle. Johann Peter Nesemann war Bauernsohn und offenbar sehr aufgeweckt, denn er trat am 13. April 1739 als Schüler in die Lateinische Schule in Halle an der Saale ein (eine Stiftung des pietistischen Theologen und Pädagogen August Hermann Francke). In diesem Archiv wird das Geburtsjahr 1726 angegeben, als Geburtsort Bahrendorf in der Magdeburger Börde.97 Sein Vater hatte dort einen eigenen Bauernhof. Der Name Nesemann (auch Neesemann oder Naesemann) war in Bahrendorf damals verbreitet.
1747 wurde Nesemann Informator (Lehramtskandidat), dann Lehrer, zunächst an der Mädchenschule, später an der Lateinischen und der Deutschen Schule des Waisenhauses in Halle. Für seine Tätigkeit an der Mädchenschule wurde ihm folgendes Zeugnis ausgestellt: «Er scheint nicht übel zu sein, hat mittelmässige studia, ziemlichen Vortrag und regimen.»98 Theologie an der Universität Halle, wie oft behauptet wird, studierte er nicht, 99 jedenfalls fehlt er in den Universitätsmatrikeln.100
Mit diesem Rüstzeug versehen, das ihm als Sprungbrett und Empfehlung für eine künftige Tätigkeit als Hauslehrer diente, wurde Nesemann im November 1750 an den Bündner Offizier Salomon Sprecher von Bernegg vermittelt, der früher selber das Pädagogium in Halle besucht hatte, zur Unterweisung von dessen zehnjährigem Neffen Anton Herkules Sprecher (1741–1827).101 Nesemann unterrichtete und betreute den Knaben zehn Jahre lang an wechselnden Aufenthaltsorten wie Davos, Chur und Como und begleitete ihn schliesslich zum Studium nach Genf und Basel.
Es war in vornehmeren Kreisen Bündens damals üblich, die Erziehung der Söhne einem Hauslehrer anzuvertrauen, 102 teils der abgelegenen Landsitze und des schlechten Rufs der Volksschulen wegen, teils wegen der Mobilität der Väter, die in verschiedenen Stellungen tätig waren und ihre Söhne unter ihrer Obhut behalten wollten, auch um ihnen die spezifischen Kenntnisse ihres Standes beizubringen. Man suchte die Lehrer mit Vorliebe auf Empfehlung unter jungen Universitätsabsolventen in Deutschland, die, je nach Anspruch der Eltern, vielsprachig und theologisch oder technisch-naturwissenschaftlich-praktisch ausgerichtet waren. Die Beherrschung des Lateinischen war dabei selbstverständlich. Zur preussischen Universitätsstadt Halle und den dortigen Schulen bestanden in den Drei Bünden ausgezeichnete Verbindungen, nicht nur in pietistischen Kreisen.103
Als sein Zögling nach Graubünden zurückkehrte, um eine Bildungsreise durch Italien und Frankreich zu unternehmen und dann sein erstes politisches Amt in einem Untertanengebiet anzutreten, war Nesemann seines Auftrags entledigt. Er hatte den Basler Aufenthalt gut genutzt und eigene Studien betrieben, obwohl er auch hier nicht an der Universität eingeschrieben war. So hatte er sich vermutlich ausgiebig mit Philosophie und Naturrecht befasst, das damals ein Modefach und unter fortschrittlich denkenden Dozenten und Studenten sehr beliebt war.104 Philosophie, Naturrecht und Universalgeschichte waren die Fächer, die Nesemann später seinen Schülern in den höheren Klassen am liebsten vermittelte, und wenn man dem jungen Lehrer noch vorgehalten hatte, er verfüge nur über «mittelmässige studia», konnte ihm das später nicht mehr nachgesagt werden; dass er sich bei den Schülern durchsetzen konnte, hatte man ja damals in seinem Zeugnis schon bemerkt.
Auch eine andere, von Benedikt Hartmann in die Welt gesetzte Zuschreibung, Nesemann und Martin Planta, die beiden Gründer des Seminars Haldenstein, seien ausgeprägte Pietisten gewesen, ist nach allem, was wir wissen, falsch.105 Zu Planta brauchen wir uns hier nicht zu äussern, aber Nesemann war ganz der aufklärerischen Philosophie Kants zugewandt, vertrat republikanische Ideen, die im grössten Teil Europas als politische Ketzerei abgetan wurden, und war bestimmt weder ein orthodoxer Asket noch ein bibelgläubiger Frömmler. Wie aus dem Tagebuch des ungarischen Grafen Joseph Teleki über seinen Aufenthalt in Basel hervorgeht, war Nesemann sinnlichen Freuden zugetan. Mit Gelehrten und den Mitstudenten seines Zöglings pflegte er geselligen Umgang, unternahm Ausflüge, spielte Karten und Schach und bewegte sich in einem Lesekränzchen, wo er auch Vorträge hielt, einmal über den preussischen König, ein andermal «über die Vorteile, welche den Männern aus dem Umgang mit dem weiblichen Geschlecht erwachsen».106 Nebenbei bahnte sich im Haus von Dr. Johann Thellusson eine Beziehung zur jüngeren Tochter Dorothea an, die er später ehelichte. Vorderhand konnte er allerdings an eine Heirat nicht denken, war er doch nach dem Weggang seines Schülers ohne Brotberuf.
Er reiste nach Bünden zurück, um sich nach einer neuen Stelle umzusehen, und besuchte in Zizers Martin Planta, den er 1751 oder kurz danach kennengelernt hatte, als die beiden Hauslehrer in Chur waren.107 Damals hatten sie sich schon überlegt, gemeinsam eine Schule zu gründen, aber es fehlte ihnen an Erfahrung, finanziellen Mitteln und Einfluss.
Der Beruf eines Hauslehrers oder Hofmeisters war für die meisten Theologen eine vorübergehende Tätigkeit. Wenn sie Glück hatten wie der geniale Mathematiker und Physiker Johann Heinrich Lambert (1728–1777), der zur selben Zeit wie Nesemann in Chur war und drei Knaben unterrichtete, bekamen sie es mit einem grosszügigen Auftraggeber zu tun, der sie förderte, ihnen eine gut ausgestattete Bibliothek sowie ein Studierzimmer zur Verfügung stellte und genügend Freizeit gewährte.108 Mit Pech gerieten sie an einen despotischen, knausrigen Hausherrn, eine zänkische Hausdame und ungeratene, lernunwillige Kinder, erkrankten vor Kummer oder Ärger und wurden vor die Türe gesetzt, wenn sie es nicht vorzogen, selber den Hut zu nehmen. Auf keinen Fall war es ihnen möglich, eine Familie zu gründen. Und auch die Verfolgung einer akademischen Karriere konnten sie auf einem Landsitz in einem abgelegenen Bündner Seitental vergessen. Umgekehrt nahmen auch die Eltern erhebliche Risiken in Kauf, wenn sie einen jungen Mann für ihre Kinder anstellten, frisch von der Universität, der seiner Erziehungsaufgabe charakterlich, wissenschaftlich oder pädagogisch vielleicht nicht gewachsen war. Es konnte also beiden Seiten zum Vorteil gereichen und eine Entlastung bedeuten, wenn der private Hofmeister durch ein Internat mit guter Schulleitung und bewährten Lehrkräften ersetzt wurde.
Es wird angenommen, dass Martin Planta, der sich bei einem längeren Aufenthalt in London verschiedene Privatschulen angesehen hatte, 1751 als Erster die Idee einer Privatschule einbrachte und Nesemann diesen Gedanken mit ihm weiterspann.109 Aber da sie beide noch in einem Anstellungsverhältnis standen, wurde die Ausführung vertagt. Beide waren sich indes einig, dass ein guter Unterricht die Verstandeskräfte anregen und nicht bloss das Gedächtnis der Kinder quälen sollte, denn, so Planta 1766 vor der Helvetischen Gesellschaft,
«den Verstand und die Denkungskraft in den jungen Leuten unbeschäftigt zu lassen, ist eine Marter, der sich Jünglinge nicht ganz mit Unrecht zu entziehen trachten. Sobald man ihnen aber was zum Denken gibt und durch die Annehmlichkeit und Leichtigkeit des Vortrages die Aufmerksamkeit ablocket, so entstehet eine Lust zum Lernen. Sie gehen gern in die Lektionen, sie hören mit Vergnügen zu, und weil sie das Angehörte begreifen und oft selbst zu erfinden glauben, so behalten sie es desto gewisser.»110
Diese Vorstellung war neu für Graubünden, auch wenn sie im Ausland schon längst zahlreiche Anhänger hatte. Bereits August Hermann Francke hatte in Halle Wert auf Anschaulichkeit und Verständlichkeit des Vortrags gelegt, ebenso der Ahnherr der europäischen Pädagogik der Neuzeit Johann Amos Comenius (1592–1670) in seiner «Grossen Didaktik» und mit dem bebilderten Schulbuch «Orbis sensualium Pictus».
Gewöhnlich war der Lehrerberuf für einen jungen Theologen eine Zwischenstufe, bis sich die Anwartschaft auf eine Pfarrstelle erfüllte. Aus den Biografien Martin Plantas wird nicht ersichtlich, was diesen, der seit 1753 Pfarrer in der Gemeinde Zizers war, 1761 bewog, den umgekehrten Weg zu gehen und mit Nesemann eine Schule zu leiten. Zwar hatte Planta eigenen Aussagen zufolge seit seinem 18. Lebensjahr und später immer wieder mit dem Gedanken einer Privatschule gespielt, aber mindestens ebenso wahrscheinlich ist es, dass Nesemann ihn bei ihrer erneuten Begegnung im Oktober 1760 darin bestärkte, den Plan jetzt zu realisieren.
Nesemann, zu diesem Zeitpunkt arbeitslos, konnte oder wollte während des Siebenjährigen Kriegs zwischen Preussen und Österreich (1756–1763), in den auch andere europäische Mächte verwickelt waren, nicht in seine Heimat zurück. Ausserdem drängte es ihn, eine Familie zu gründen. Ferner strebte er mehr Unabhängigkeit von einem Arbeitgeber an. Andererseits war es für ihn als Ausländer illusorisch, in Bünden eine Schule errichten und die erforderliche Anzahl Schüler finden zu wollen. Er war auf einen Bündner angewiesen, der nach aussen als Schulleiter auftreten konnte. Wer auch immer von beiden der Initiator des Seminars Haldenstein gewesen sein mochte: Nesemann brachte seine Erfahrung als Schullehrer ein, Planta seine Bündner Bekanntschaften und seinen Ruf als Mathematiker und experimenteller Physiker, der den Geisteswissenschaftler Nesemann hervorragend ergänzte. Es war ein gutes Team, das sich 1761 zusammenfand und das Seminar Haldenstein binnen zehn Jahren zu einer ungeahnten Blüte brachte.
Plantas Entschluss, seine Pfarrstelle im Februar 1761 zu kündigen, um sich ganz der Schule zu widmen, wurde dadurch erleichtert, dass in Bünden eine gehässige Kampagne gegen reformierte Pfarrer lief, die zum Herrnhutertum – einer protestantisch-pietistischen Glaubensrichtung – hinneigten. Falls man sie nicht aus dem Pfarrdienst entfernte, so verlangte man einen Offenbarungseid auf das orthodoxe Bekenntnis.111 Zweitens bot sich ihm die Gelegenheit, wie Nesemann den Neuanfang in einer Position anzutreten, die ihm mehr Freiheit gewährte, als wenn er sich als Pfarrer der Willkür der Gemeindegunst und -wahl aussetzte. Drittens mag er sich – ermutigt von Adligen wie Ulysses von Salis-Marschlins und Thomas von Salis-Maienfeld, dem Haldensteiner Freiherrn – vom Nutzen und den finanziellen Vorteilen einer Privatschule überzeugt haben. Vor allem Salis-Marschlins bestärkte Planta in seinen Plänen und war bereit, ihn über sein Beziehungsnetz zu unterstützen. Zudem konnte Planta sich ausrechnen, dass für ihn als Lehrer eine bessere Gelegenheit bestand, seiner Leidenschaft für Naturwissenschaften zu frönen denn als Dorfpfarrer. In Haldenstein richtete er sich ein physikalisches Laboratorium ein und in Marschlins plante er ein Observatorium.
Diese Angaben sollen vorderhand genügen. Zur Ergänzung noch so viel: Planta war bis zu seinem Tod (1772) Co-Direktor des Seminars Haldenstein und unterrichtete hauptsächlich Naturwissenschaften, Nesemann blieb bis 1775 in Marschlins und war für Sprachen, Philosophie und Geschichte zuständig. Sie vermochten die Schülerzahl bis gegen 70 zu steigern und mit ihrer Schule in der ganzen Schweiz, ja sogar im südlichen Deutschland Beachtung zu finden. Legendär wurde der Vortrag, den Planta an der Jahresversammlung der Helvetischen Gesellschaft im Frühjahr 1766 hielt.112 Im Rahmen des pädagogikgeschichtlichen Teils werde ich mich noch etwas ausführlicher mit den pädagogischen und kulturgeschichtlichen Implikationen der Seminare Haldenstein, Marschlins, Jenins und Reichenau befassen.