Читать книгу: «Meine weisse Stadt und ich», страница 4

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‹Oh, ganz gut. Ich bin zwar noch immer auf der Suche nach einem Zimmer … Und ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, wie mich die Leute hier die ganze Zeit anstarren.› Dann erzählte ich ihnen von meinen Erfahrungen in Paris und warum ich von dort weggegangen war. Ich schloss mit der Klage über die missliche Lage des Schwarzen, der wie ein mutterloses Kind durch die Welt wandert, weit weg von der Heimat.

‹Aus meinen Eltern haben sie Seife gemacht.› Ich sah die hübsche junge Frau an, die das gesagt hatte. Ihr Blick war fest, ihr Ausdruck ruhig. Ihre Hände lagen leicht verschränkt in ihrem Schoß. Plötzlich tauchte der wild aussehende Kater auf, wie aus dem Nichts, und sprang auf ihren Schoß. Liebevoll streichelte sie seinen Kopf.

‹Wer?›

Alle sahen mich mindestens eine volle Minute ungläubig an. Ich hatte dieses Staunen, das sie nun zweifellos empfanden, selbst erlebt, wenn mich in einer Unterhaltung jemand fragte, wer Hamlet geschrieben hatte.

‹Die Deutschen.› Sie sagte es ganz ruhig, als hätte sie die Kartoffeln gesagt.

Da erst ging mir auf, dass sie Juden waren. Die Erkenntnis zeigte sich an meinem Gesichtsausdruck. Tödliche Stille senkte sich über den Raum. In diesem Moment machte ich eine Bestandsaufnahme des Universums und versuchte zu begreifen, wer ich war. Ich erinnerte mich, dass ich das Lächeln, das nun über den Rand der Gesichter in diesem Zimmer huschte, auch auf den Gesichtern von Schwarzen gesehen hatte, wenn sie von den Vorfällen während der Rassenunruhen in Chicago und Detroit, von den Lynchmorden im Süden oder der Polizeigewalt im Norden sprachen.

Kurz darauf beendete ich meinen Besuch. Mit gemischten Gefühlen verließ ich die kleine Gruppe. Der Klang der Worte der jungen Frau: ‹Aus meinen Eltern haben sie Seife gemacht› verdüsterte den klaren blauen Himmel. Die sanfte, unschuldi­ge Brise, die durch den kleinen Park unweit des Hauses wehte, das ich gerade besucht hatte, verwandelte sich in einen bedrohlichen Agenten des Bösen. Das bezaubernde Gesicht meiner Gastgeberin schwebte vor meinen Augen wie das Bild einer mythologischen Gestalt oder das Negativ einer schönen Frau, die tot war. Ich identifizierte mich dermaßen mit ihrem Schmerz, dass ich mich selbst wie ein Jude fühlte. Das schreckliche Ungeheuer, SIE, die anderen, lauerte in den dunklen Ecken meines Bewusstseins, und so bildete ich mir eine perverse und böswillige Feindseligkeit in allen Gesichtern ein, die mir begegneten. Die geringste Aufmerksamkeit von Leuten auf der Straße oder öffentlichen Plätzen verstörte mich!»

An dieser Stelle konnte sich die kleine Gruppe junger Männer, die sich im Mövenpick um mich scharte, nicht mehr beherrschen.

«Moment mal!», rief jemand. Ich hörte auf zu sprechen und sah mich um, auf der Suche nach der Stimme, die meine Erinnerungen unterbrochen hatte.

«Ja», sagte ich, ein wenig verträumt und bemerkte, wie am Himmel ein Stück weiches Blau aufleuchtete. Dann sagte der Jemand – ich wusste nicht, wer es war:

«Ich kann verstehen, wie sich die Juden gefühlt haben müs­sen, aber dass die Menschen dich anstarrten, ist doch klar. Offenbar ist dir nicht bewusst, dass wir Europäer nicht jeden Tag Schwarze zu Gesicht bekommen!»

«Doch», entgegnete ich ungeduldig, denn ich wollte den roten Faden meiner Gedanken nicht verlieren. Zugleich bedauerte ich, dass ich nicht innehalten und auf seinen Einwand eingehen konnte, ich hätte überempfindlich auf das Gaffen der Leute reagiert. «Vermutlich hast du recht», sagte ich. «Ich komme später noch darauf zurück, aber jetzt würde ich gern zu Ende erzählen, warum ich aus Amsterdam weggegangen bin.

Ich habe versucht zu beschreiben, wie sehr mich das Gespräch mit der jungen Dichterin erschüttert hatte. Was mich aber vollends aus dem Gleichgewicht brachte, war ein anderer Herr, dem ich vorgestellt worden war. Er war Grafologe. Er interessierte mich, einmal wegen seines Berufs, zum anderen, weil er offenbar Spinoza genauso bewunderte wie ich. Er war ein groß gewachsener blonder Mann mit feinen Gesichtszügen und einer leicht gebeugten Haltung. Er saß, stand oder ging gewöhnlich mit gesenktem Haupt, als trüge er eine schwere unsichtbare Last – und genauso war es auch!

Ich hatte ihn über meinen Gastgeber in der Prinsengracht kennengelernt. Eines Tages lud er mich zu sich nach Hause ein und stellte mir seine Frau und seinen Sohn vor. Sie war eine kräftige, dunkelhaarige kleine Person, die aussah wie dreißig, aber eher vierzig sein musste. Trotzdem sah sie sehr gut aus. Sie war extrem ernst und auf seltsame Art lebendig. Ihr Sohn war zwölf und außergewöhnlich hübsch.

Der Mann hatte versprochen, mir seinen Beruf zu erklären, nachdem ich ihm gestanden hatte, diesen schon immer mit einer Portion gesunder Skepsis betrachtet zu haben. Doch als ich bei ihm eintraf, steckte mich seine Frau mit ihrer Begeisterung für Musik an. Sie hatte eine kleine Plattensammlung mit Werken von Bach, Mozart und Vivaldi, um nur eini­ge zu nennen.

‹Musik ist alles, was mir geblieben ist›, sagte sie feierlich. Und ich hatte das Gefühl, dass ich mich privilegiert fühlen sollte, sie mit ihr teilen zu dürfen. Anschließend blieb uns nichts anderes übrig, als zuzuhören. Und so machten wir es uns um den Plattenspieler herum gemütlich. Mein Platz war neben dem Fenster, durch das ich über die Dächer von Am­sterdam sah. Ansonsten konnte ich den Blick nicht von ihr abwenden. Sie war auf starke, überzeugende Weise ein Zentrum der Anziehungskraft für uns alle.

Später erfuhr ich, dass diese kleine Frau während des Krieges sehr mutig gewesen war. Die Nazis hatten sie mehrmals festgenommen, und jedes Mal war ihr die Flucht gelungen. Ihre Augen glühten wie Feuer, während sie die Musik in sich aufnahm, als wäre sie das Leben selbst. Wir anderen nahmen an diesem Ritual teil wie Besucher, die den Gottesdienst ei­ner Kirche besuchen, ohne deren Glauben anzugehören.

Dann war die Musik zu Ende. Sie servierte uns Kaffee, und ich hatte das Thema Grafologie vergessen. Wir unterhielten uns über Spinoza.

‹Wir sind alle Teil eines Ganzen, das Gott ist … egal auf welche Art man ihn wahrnimmt … Das ist alles, was er sagen wollte.› Sie sprach die Worte mit großer Eindringlichkeit aus.

‹Ja›, antwortete ich. ‹In der Ausgabe der Ethik, die ich gelesen habe, hatte der Herausgeber das Dokument der Exkommunikation beigefügt, das Spinoza von der Kirche vorgelesen wurde. Ich war erstaunt über die scheinbar unzähligen Arten, mit denen er von den Kanonikern des Kirchenrechts verflucht worden war. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er sich gefühlt haben muss, als Ausgestoßener unter seinen eigenen Leuten. Und das zu einer Zeit, als es in der westlichen Welt nur wenige Staaten gab, in denen ein Jude Asyl erhielt. Es machte mich sehr traurig …›

‹Sie sollten einen Spaziergang mit mir durch die Altstadt machen›, sagte der Grafologe. Seine Frau sah ihn mit schmerz­erfülltem Ausdruck in den Augen an. Ich fühlte mich unwohl. ‹Ich zeige Ihnen das Ghetto, in dem Spinoza lebte … Den Platz, wo die alte Synagoge stand.›

‹Den würde ich sehr gern sehen›, sagte ich und versuchte, den Gesichtsausdruck seiner Frau zu deuten.

Wir tranken unseren Kaffee aus, ich bedankte mich bei ihr für die wundervolle Musik und verabschiedete mich.

Es war ein sonniger und träger Tag. Langsam schlenderten wir durch die Altstadt von Amsterdam, vorbei an vielen Häusern, die gerade abgerissen wurden, und an anderen, die nur noch Ruinen waren. Nach einer Weile kamen wir zu einer Art Platz mit einem alten Springbrunnen aus Stein in der Mitte. ‹Hier halten wir unseren Markt ab, aber heute gibt es keinen›, erklärte er mir. Wir gingen weiter. Nachdem wir den Platz überquert hatten, zeigte er geradeaus und sagte: ‹Dort drüben stand die alte Kirche. Sie ist vor langer Zeit zerstört worden. Die da ist neu.› Die Mauern des Gebäudes waren gespickt mit Einschüssen von Maschinengewehren und Löchern von Mörsergranaten. So gut wie alle Fenster waren zersplittert. Ich sah ihn fragend an. ‹Der Krieg›, erklärte er.

Wir gingen weiter. Gelegentlich deutete er auf ein Gebäude oder ein Haus und machte eine erklärende Bemerkung. An einer Stelle zeigte er mir ein dreistöckiges Gebäude einige Straßen von der Synagoge entfernt und sagte: ‹Dorthin haben sie meine Familie verschleppt. Sie wurden alle umge­bracht.› Er sprach mit unterdrückter, halb erstickter Stimme. Da er einen Schritt hinter mir zurückgeblieben war, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Beim Klang seiner Stimme blieb ich abrupt stehen und versuchte, das beklemmende Gefühl, das mich überkam, abzuschütteln. Ich dachte an den schmerzerfüllten Ausdruck im Gesicht seiner Frau.

Sie hat es gewusst, dachte ich.

Die Sonne schien auf das stumpfe graue Gemäuer und auf die Pflastersteine der Straße und überzog sie mit einem hellen Glanz. Ich hörte nichts, nur seine Stimme, seinen Atem und die Stille, wenn wir verstummten. Ich sah das schöne Ge­sicht der Dichterin vor mir. Sie saß in dem lichtdurchfluteten Zimmer und sah mich unverwandt an. Sie hatte die Hände in ihrem Schoß verschränkt. Der wilde Kater tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und sprang auf ihren Schoß. Sie streichelte seinen Kopf und sagte: ‹Aus meinen Eltern haben sie Seife gemacht.› Ich zuckte zusammen, drehte mich um und sah ihn an, so laut war die Stimme, die ich soeben gehört hatte. Ich fragte mich, ob auch er sie gehört hatte. Als sich unsere Blicke kreuzten, wurde er kreidebleich. Die randlose Brille, die er trug, ließ seine Augen riesig und flüssig erscheinen, als blickten sie mich durch ein mit Wasser gefülltes Glas an.

‹Sie kamen alle um›, sagte er. ‹Nur … mich haben sie nicht mitgenommen. Sie kamen am Morgen in aller Frühe und nahmen meine Familie mit. Sie brachten sie dahin, zu diesem al­­ten Gebäude. Es waren schon viele andere da. Da standen sie …›

Ich wandte mich von ihm ab. Wie konnte er mir das er­zäh­len, dachte ich, nur zehn Jahre später? Und warum mir? Warum erzählte er ausgerechnet mir diese schreckliche Geschichte! Seine Stimme dröhnte in meinen Ohren, wiederholte die Einzelheiten, bis ich Lust hatte, ihm ins Gesicht zu spucken. Ich drehte mich wieder zu ihm um und legte ihm die Hand auf die Schulter. ‹Warten Sie!›, sagte ich. Aber er hörte mich gar nicht.

‹Sie haben mich nicht mitgenommen, weil ich nicht so aussah wie ein Jude. Wie um Himmels willen sieht ein Jude denn aus!› Schweigend kehrten wir langsam zurück. Wir sahen uns nicht an. Und beim Gehen dachte ich, er beichtet es allen Leuten, weil er seine Identität verborgen hat und nicht mit den Mitgliedern seiner Familie gestorben ist … Er assoziiert mich mit ihm, weil ich schwarz bin …

Bei dieser Vorstellung überkam mich ein Gefühl von Mitleid, vermischt mit Übelkeit; nicht aufgrund dessen, was er erlitten hatte, sondern weil mir bewusst wurde, dass er ein perverses Vergnügen daran fand, die intimen Einzelheiten des Todes seiner Familie zu erzählen, an dem Schmerz, den er sich selbst und anderen zufügte.

Wir kamen zum Stadtzentrum. Er musste nach rechts, ich geradeaus. Wir verabschiedeten uns und gingen unserer Wege. Ich sah den Grafologen nie wieder.

Inzwischen war ich so aufgewühlt, dass dieses Gefühl all meine Handlungen beherrschte. Ich hatte kein Zimmer finden können. Die Zeit verstrich, und ich machte mir Sorgen wegen meiner Stellung in der Welt. Überall lauerten Gefahren. Ich fasste einen Entschluss, den ich langsam in die Tat umsetzte, wenn auch sehr indirekt. Nachdem ich mich von dem Gra­fologen getrennt hatte, bestand meine erste entscheidende Reaktion darin, Descartes’ Haus aufzusuchen. Es erinnerte mich an sein Schicksal durch die Hand der Kirche, und das war alles andere als eine fröhliche Reminiszenz. Und für den Fall, dass das nicht reichte, um mir die Entscheidung, die ich getroffen hatte, vor Augen zu führen, schaute ich mir auch noch Rembrandts alte Residenz an, um mir erneut ins Gedächtnis zu rufen, wie er fast verhungert war, weil er sich ge­weigert hatte, so zu malen wie die Bürgerschaft es von ihm verlangte. Nach diesem Besuch spürte ich, wie die unsichtba­ren Flammen des Nationalsozialismus, des Judentums, des Katholizismus und des Puritanismus zu meinen Füßen flackerten. Ich erinnerte mich an die Hexenverfolgungen in New England. Ich sah, wie im tiefsten Winter zitternde Grüppchen von holländischen Puritanern – darunter auch Juden, zweifellos – an der windzerzausten Küste von Plymouth standen. Und dann spaltete sich der entscheidende Gedanke von meinen Gefühlen ab. Das war der Ort, aus dem sie geflohen waren! Und deshalb war klar: Das ist kein Ort für mich.»

«Und da bist du nach Bern gekommen?», fragte der junge Mann, der mich zu dieser Erklärung veranlasst hatte.

«Nicht sofort. Zuerst bin ich nach Deutschland gefahren.»

«Nach Deutschland!», riefen alle verblüfft.

Ich nippte an meinem Glas. Der Wein schmeckte sehr sauer. Meine Lippen waren trocken. Ich warf einen Blick auf die Uhr über dem Eingang. Es war bereits spät. Ich sollte wirklich gehen … sagte ich mir, während ich darüber nachdachte, warum ich nach Deutschland gegangen war und es dann wieder verlassen hatte. Es kam mir jetzt seltsam vor, dass ich das getan hatte. Ich hatte oft daran gedacht, eine Geschichte darüber zu schreiben. Ich brauchte nur den passenden Ansatz, eine erste Zeile. Meine Gefühle kreisten um diese Spannung, die Deutschland war, und ich begann zu sprechen, ohne mir dessen oder der anderen ringsum bewusst zu sein.

Warum ich Deutschland verlassen habe

«Ich bekam einen Brief von einem Freund. Er hieß David und war ein rothaariger Südstaatler aus den Smoky Mountains in Tennessee, der mittlerweile in Kalifornien lebte. Er schlug mir vor, einen Bekannten in Bern zu besuchen, den ich einmal auf einer Party in seiner Wohnung auf dem St. James Square in Philadelphia kennengelernt hatte. Ich fühlte mich wie Lazarus, als ihm ein neues Leben versprochen wurde. Gehorsam verließ ich drei Tage später Amsterdam, vorgeblich auf dem Weg nach Bern.

Doch unterwegs legte ich einen Zwischenstopp in Deutschland ein. Vielleicht bleibe ich eine Weile hier, sagte ich mir und vergaß vorübergehend den Ruf, der mich von den Toten erweckt hatte. Nun, der Grund, warum ich einen so außergewöhnlichen Gedanken hatte, vor allem angesichts dessen, was ich euch soeben über meine Gefühle in Amsterdam erzählt habe, war, dass ich auf dem College einen Zimmergenos­sen gehabt hatte, der sich an der medizinischen Fakultät einer deutschen Universität beworben hatte. Er beherrschte die Sprache ziemlich gut, nachdem er sie mithilfe eines hübschen Fräuleins erlernt hatte. Dieses Fräulein hatte er mir an langweiligen Abenden, wenn wir es uns nicht leisten konnten, den Campus zu verlassen, liebevoll bis in die kleinsten Einzelheiten beschrieben. Der eigentliche Grund dafür, dass er sich an einer ausländischen Universität dreitausend Meilen von zu Hause entfernt beworben hatte, war natürlich der, dass die amerikanischen Universitäten völlig überfüllt waren. Es gab kaum genug Studienplätze für die berechtigten Einhei­mischen, ganz zu schweigen von Juden, Chinesen, Japanern, Indianern und Schwarzen.

Die Universität befand sich in München. Auf dem Weg nach Bern kam ich durch München. Wir könnten uns wiedersehen, dachte ich, und erinnerte mich an die schöne Zeit, die wir auf dem College verbracht hatten. Vielleicht bringt mir ein hübsches Fräulein Deutsch bei. Ich könnte Goethe in seiner eigenen Sprache lesen … Ja! Ich werde in München bleiben, schreiben, studieren, die Kirchen genießen und mich kultivieren lassen …

Er wird überrascht sein, mich zu sehen, sagte ich mir, als der Zug in den Bahnhof einfuhr und ich zum nächsten Taxistand eilte. Es setzte mich an einem düster wirkenden Gebäude ab, anscheinend in einem Vorort der Stadt. Die Mittagssonne schien auf zwei dürre Bäume im Vorgarten. Es war ein warmer Tag, dennoch herrschte im Treppenhaus eine kühle und abweisende Atmosphäre, als ich die Stufen hinaufstieg. Ich hatte das Gefühl, als ginge ich in einen muffigen feuchten Keller hinunter. Es war absolut still. Die Fenster in den Türen der Wohnungen bestanden aus dunkel gefärbtem Glas. Dahinter tauchten gelegentlich Gesichter auf, die mich schweigend ansahen. ‹Wissen Sie vielleicht, wo …?›, begann ich, und schon war das Gesicht wieder verschwunden. Im dritten Stock öffnete sich eine Tür einen Spaltbreit, als ich dar­an vorbeikam, und ich hörte eine Frau lachen. Müde stieg ich weiter zum nächsten Stockwerk hinauf und überprüfte im Vorbeigehen die Namen auf den kupfernen Namensschildern. Schließlich fand ich im obersten Stock den Namen meines Freundes. Ich klingelte und wartete mehrere Minuten. Gerade als ich ein zweites Mal läuten wollte, ging die Tür ein wenig auf, und durch den Spalt blickten mich zwei misstrauische Augen an.

Es war nicht mein Freund, sondern Rufus Grey, ein anderer Student aus meinem College, den ich fast vergessen hatte.

‹Du!›, rief ich erstaunt.

Er öffnete die Tür ganz und sah mich an, vorsichtig, zögernd, ehe er mich hereinbat. Nachdem er mich eine Zeitlang gemustert hatte, schien er mich wiederzuerkennen. Er stieß einen Seufzer aus und sagte: ‹VO, Mann›, denn alle nannten mich VO nach den Initialen meines Namens. ‹Was machst du denn hier?›

Grey hatte sich stark verändert, wie ich sah, nachdem ich die Wohnung betreten hatte. Er war drei- oder vierunddreißig, ein ehemaliger Soldat, klein gewachsen, muskulös und kräftig. Aber er war auch sehr feinfühlig und ernst. Er hatte dunkelrote Sommersprossen, direkt unterhalb der runden kleinen Augen, was dem ernsten Gesicht einen komischen Touch gab. Seine Ohren waren geradezu lächerlich klein und eng an den runden Kopf gedrückt. Er trug einen schlichten braunen Anzug, der dringend gebügelt werden musste, obwohl er ziemlich neu und modisch geschnitten war.

‹Komm rein, komm rein›, sagte er.

Ich betrat den Raum und fragte mich, was hier los war. Er wirkte nervös. Sein Gesicht war müde und angespannt, die Augen rot unterlaufen und feucht, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Ich fragte ihn, wo mein Freund wäre, und setzte mich auf den Platz in der Nähe des Fensters, den er mir mit einer Geste angedeutet hatte. Verzweifelt breitete er die Arme aus.

‹Sieh dich doch mal um …› Er zeigte auf das schmutzige ver­wahrloste Zimmer. Es sah so aus, als hätte jemand in aller Eile gepackt und war dann verschwunden. Überall lag schmutzige Wäsche herum. In einer Ecke stapelten sich verstaubte Bü­cher. Der ausgebleichte Linoleumboden war mit Staubflusen und schmutzigen Papierresten übersät. In der Mitte lag ein Haufen Glasscherben neben einer leeren Weinflasche, und auf dem Tisch standen mehrere mit Essensresten verkrus­tete Teller, mitsamt Messern, Gabeln und Löffeln.

‹Was ist passiert?›, fragte ich.

‹Ich dachte, ich werde noch verrückt …›, sagte er leise und ein wenig abwesend, während er sich auf eine Holzkiste setzte, die als Nachttisch diente. ‹ Aber ich werde nicht verrückt!› Dann sah er mich an, als wäre ihm gerade ein verwirrender Gedanke gekommen. ‹Warum bist du hier?›

Ich erklärte ihm, dass ich meinen Freund besuchen wollte, daran gedacht hatte, mich in München niederzulassen und erstaunt sei, ihn nicht anzutreffen. Ein bitterer Ausdruck flog über Greys Gesicht.

‹Du hast sie wohl nicht mehr alle! Sie haben ihn verjagt. Es ist die Hölle hier!›

‹Was soll das heißen?›

‹Die Leute hier, Mann. Sieh dir das Zimmer an. Es kostet hundertfünfzig Mark im Monat. Zwei Mark extra für ein Bad! Kein fließendes Wasser. Angeblich wird es geheizt, aber da kannst du lange warten, Mann.›

‹Kann man sich nicht bei den amerikanischen Behörden beschweren?›

‹Ha! Denen ist das egal, Mann. Die Vermieterin ist ein Miststück. Und man kann nichts tun. Sie machen uns fertig …›

Allmählich erfuhr ich von Rufus Grey, dass das Leben in München alles andere als angenehm war. Er meinte, die Professoren und Studenten an der Universität seien abweisend, ja sogar feindselig, und dass man in einer fremden Sprache studieren musste, mache alles nur noch schlimmer. Er sagte, sie würden die ganze Zeit angestarrt und ausgelacht, und die meisten Frauen wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Seiner Ansicht nach waren die Leute verbittert und nachtragend, wegen des Krieges. ‹Der Nationalsozialismus ist alles andere als tot›, erklärte er.

‹Mag sein, dass ich Komplexe habe›, fügte er nachdenklich hinzu. ‹Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei noch immer in Georgia.› Dann sagte er in einem ziemlich zynischen Ton, dass mein Freund, um dessentwillen ich so weit gereist war, wahrscheinlich auch welche gehabt hatte, denn er habe es hier nicht mehr ausgehalten. ‹Er ist auseinandergefallen wie eine feuchte Brezel. Er hat sich in den Hurenhäusern volllaufen lassen und sein Studium vernachlässigt. Er ist zu ei­nem dreckigen, vulgären und schlampigen Penner geworden, Mann.›

Ich war sprachlos. Zu Hause hatte mein Freund nie getrunken, er war ein pflichtbewusster Student gewesen, viel gewissenhafter als ich, da ich immer dazu neigte, aufs Geratewohl die Bibliothek zu durchforsten, sodass ich oft die Verbindung zu den Themen verlor, auf die ich mich für mein Studium hätte konzentrieren sollen. Ich war derjenige, der ihn gelegentlich überredet hatte, ins Kino zu gehen oder sich einen Tag freizunehmen. Grey erzählte mir auch, dass mein Freund in letzter Zeit sehr arrogant und anmaßend gewesen sei.

‹Man konnte einfach nicht mehr mit ihm zusammenleben. Nicht mal ich oder seine anderen amerikanischen Freunde. Mehrere davon sind Juden. Wir wohnen alle hier in derselben Pension. Gestern hat er dann das Fass zum Überlaufen gebracht, als er völlig betrunken einem der jüdischen Studenten eine Flasche auf dem Kopf zertrümmerte. Seit Wochen hält er jeden weißen Mann, der ihm in Deutschland über den Weg läuft, für einen Nazi … Sie haben sich übel geprügelt. Natürlich hatte der Junge was dagegen, eins über die Rübe zu kriegen. Vor allem von einem ‘Nigger’, wie er es ausdrückte. Das war ein großer Fehler. Aber er war stinksauer. Sie bewarfen sich mit Tellern. Und als wäre das alles nicht schlimm genug, versammelten sich die Nachbarn vor der Haustür und auf der Straße und lachten sich krumm, weil zwei Amerikaner, ein weißer und ein schwarzer, nicht einmal dann miteinander auskamen, wenn sie nicht in Amerika waren. Ekelhaft!›

Ich fand es sehr traurig und beunruhigend, dass mein Freund sich so sehr verändert hatte. Doch wenn ich es mir recht überlege, kann ich nicht behaupten, dass das, was ihm passiert war, ungewöhnlich ist; ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es oft zu derartigen Szenen kommt, vor allem in größeren Städten, wenn alte Erinnerungen an die Heimat hochkommen oder wenn mich jemand bittet, einem Euro­päer die Rassenprobleme in Amerika zu erklären. Die Minderheiten, die von der Mehrheit unter Druck gesetzt werden, egal, wo sie leben oder arbeiten, bekämpfen sich manchmal gegenseitig, sei es aus Selbsthass, aus Angst oder, was noch erbärmlicher und zugleich auf geradezu perverse Art schön ist, aus der gewalttätigen und komplizierten Leidenschaft ei­ner unaussprechlichen Liebe heraus. Vermutlich ist das eine von mehreren Erklärungen für das rätselhafte ‹Problem›, das Weiße und Schwarze im Süden Amerikas miteinan­der haben, wie es beispielsweise ein oder zwei amerikanische Schriftsteller, Mr. Faulkner und Mr. Caldwell gelegentlich bezeichnen. Aber wie schwer fällt es diesen Herren und den wenigen anderen, aber auch mir selbst, diese Wahrheit zu akzeptieren.

Kurz nach dem Streit, der offensichtlich am Abend zuvor stattgefunden hatte, war mein Freund aus Deutschland verschwunden. Grey erzählte, er habe nur eine kühle, unpersönliche Notiz gefunden, in der mein Freund ihm mitteilte, dass er weg sei. Und das erklärte zweifelsohne den Zustand, in dem ich Grey vorgefunden hatte, tief verzweifelt und einsam in einem offensichtlich unfreundlichen Land.

Die beiden mussten gut befreundet gewesen sein, wenn er so darunter litt! Ob mein Freund sein Studium in Amerika wieder aufgenommen hat oder nicht, kann ich nicht sagen. Nachdem ich München verlassen hatte, habe ich Grey nicht mehr geschrieben. Aber ich weiß, dass er inzwischen verheiratet ist und einen Sohn und eine Tochter hat. Das erfuhr ich von einem Freund, der mir später schrieb und ihn zufäl­lig erwähnte.

Seltsam, dass es so gekommen ist, dachte ich niederge­schla­gen, als ich mich von Grey verabschiedete, der noch im­mer auf der Kiste saß. Mein Freund war so ein guter Student gewesen. Er hatte sich so sehr darauf gefreut, in Europa zu stu­dieren und ein großartiger Arzt zu werden.

‹Ja›, hatte ich immer zu ihm gesagt. ‹Du wirst nach Deutschland gehen und ein großartiger Arzt werden.› Und er antwortete:

‹Und du musst nach Paris gehen und mindestens ein Dostojewski oder Proust werden.› Davon träumten wir damals, als wir in unseren Betten lagen, lange nachdem das Licht ausgegangen war …

Es ist so schade, dachte ich, als ich in eine breite, eintönige Straße einbog, in der nicht ein einziger Baum stand. Unter der sengenden Sonne überkam mich allmählich ein beklemmendes Gefühl. Und als ich unterwegs auf kleine Gruppen von Passanten stieß, dachte ich mit zunehmendem Unbehagen und Bedauern an Amsterdam – aber auch mit Sehnsucht. Dort war es mir besser ergangen. Grey hatte mir geraten, nicht in München zu bleiben, und ich beschloss, seinen Rat zu beherzigen.

Bis zum Stadtzentrum war es ein langer Weg. Die Sonne wurde zunehmend heißer und greller. Ich fragte einen Mann nach dem Weg zum Bahnhof. Er zeigte geradeaus, sagte etwas, was ich nicht verstand, und ging dann weiter. Ich lief in die Richtung, in die sein Finger gezeigt hatte. Nach einer Weile war ich vom Laufen und den deprimierenden Gedanken an meine Freunde so müde, dass ich beschloss, die Nacht in einem Hotel zu verbringen. Als ich mich dem Zentrum näher­te, bekam ich Durst. Ich betrat ein Lokal, das aussah wie ein Café, um bei einem Bier zu verschnaufen. Doch das Café entpuppte sich als Bierhalle.

Andererseits ist Bierhalle noch stark untertrieben. Der Saal, den ich ahnungslos betreten hatte, war ein Bierstadion! Riesig, mit einem feuchten Betonboden und vielen kleinen Ab­flüssen, durch die verschüttete Flüssigkeiten abfließen konnten. Es stank nach Bier, Urin und Schweiß. Reihen von langen Holztischen zogen sich vom Eingang bis zur hinteren Wand quer durch die Halle. An den Tischen saßen auf langen Holzbänken mit dünnen Stahlbeinen unzählige Menschen in allen Größen und Formen, mit unterschiedlich roten Gesichtern und tranken Bier aus riesigen Humpen. Kräftige Kell­nerinnen schleppten mit Krügen voller schäumender brauner Flüssigkeit beladene Tabletts und setzten sie vor Männern und Frauen mit roten Nasen und wässrigen Augen ab, die das Bier dann durstig hinunterstürzten.

Ich ging hinein, setzte mich in den Lärm, winkte eine Kellnerin herbei und sagte: ‹Bier›. Kurz danach stellte sie mir das Glas vor die Nase. Gerade, als ich es zu meinen Lippen führte, setzte sich ein junges, pummeliges Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren mit einem frechen Grinsen und einer Zahnlücke (sie sah aus wie aus einem Gemälde von Frans Hals), hinter mich und schob mir ihre plumpe Hand zwischen die Beine. Um ein Haar hätte ich mich übergeben. Sie sagte etwas auf Deutsch, das ich sehr gut verstand, obwohl die einzigen Worte, die ich kannte, Ja, Hamburger und Nein waren. Daher entschied ich mich für Nein, lächelte ihr kurz zu, und sobald sie ihre Hand weggezogen hatte, stand ich auf. Als ich den Saal schließlich verließ, beschloss ich, die Nacht doch lieber nicht in München zu verbringen. Allerdings stellte sich heraus, dass mir am Ende gar nichts anderes übrig blieb, weil der Zug zu einem ungünstigen Zeitpunkt abfahren sollte.

Todmüde taumelte ich auf der Suche nach einem billigen Hotel durch die Stadt. Die Luft war heiß und staubig von den vielen Gebäuden, die abgerissen oder neu gebaut wurden. Der Krieg, dachte ich und erinnerte mich an das Ghetto in Amsterdam. Nachdem ich durch viele Straßen gelaufen war und viele Fremde, die aussahen wie Militärs, Taxifahrer, Gepäckträger und Bahnbeamte, befragt hatte – offensichtlich trug hier jeder eine Uniform mit Schulterklappen –, landete ich bei einer sehr charmanten jungen Frau am Informationsschalter des Bahnhofs, die ausgezeichnet Englisch sprach. Sie erklärte mir genau, wo ich ein gemütliches und preiswertes Zimmer finden würde, und half mir, den Fahrplan zu entzif­fern. Ich bedankte mich bei ihr und lief zu Fuß zu dem Hotel, das sie mir empfohlen hatte. Dort ging ich sofort auf mein Zimmer, drehte den Schlüssel im Schloss um und fiel schwer auf mein Bett. Am nächsten Morgen gegen elf wachte ich auf. Und kurz nach eins stieg ich in den Zug nach Bern …

Während der Zug aus dem Bahnhof fuhr, ließ meine Beklemmung nach. Ein alter Nervenkitzel, den ich seit meiner Zeit als Soldat kannte, versetzte mich in Erregung, der Reiz des Unterwegseins mit einem neuen Ziel vor Augen. Als ich klein war, enthielt ‹morgen› immer die Verheißung auf etwas, was ich mir wünschte, egal was, aber heute nicht haben konnte … Vielleicht haben deshalb romantische und geheimnisvolle Dinge eine so wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Vielleicht habe ich deshalb immer befürchtet, dass das Unbekannte, das für mich mit all seinen unzähligen Möglichkeiten so kostbar ist, von der positivistischen Tendenz in ihrer ganzen Absurdität – heute fälschlicherweise als ‹wissenschaftlich› bezeichnet – einfach ausgeschlossen und ignoriert wird, weil es nicht berechenbar ist.

Wie heftig spürte ich das, als die düsteren Häuser, die an Kasernen erinnerten, grünen Feldern und Weiden wichen und die offene Landschaft mit den sanften Farben des Frühlings verschmolz! Blumen blühten, Kühe grasten, Bauern bestellten ihr Land. Wir kamen an einem Bach vorbei, ich holte tief Luft, und plötzlich kam mir ein Gedanke:

Ich kenne schwarze amerikanische Soldaten, die während des Krieges in Deutschland waren, und Soldaten, die nach dem Krieg hier Dienst taten und die Deutschen so liebten, dass sie deutsche Frauen heirateten und sie mit nach Amerika nahmen – was wirklich heldenhaft war! Es gab sogar welche, die nie nach Amerika zurückgekehrt wären, wenn sie gekonnt hätten … Jedenfalls haben sie das behauptet …

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