Читать книгу: «Meine weisse Stadt und ich», страница 2

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Die Frage, die an ­meinen Grundfesten rüttelt

«Aber warum …»

«Ich muss jetzt los», sage ich in dem Versuch abzulenken. Ich zappele auf meinem Stuhl herum und blicke verzweifelt hierhin und dorthin.

«Aber warum …»

«Kellner!»

«Aber warum …»

«Warum was?»

«Warum bist du ausgerechnet nach Bern gekommen?»

Mit einem müden Seufzer lehne ich mich zurück und sehe mir mein Gegenüber genau an. Ich versuche, die flackernde Intensität in seinen Pupillen einzuschätzen und seine verborgenen Motive mit meinem analytischen Blick zu durchschauen. Vielleicht ist er sich der Bedeutung seiner Frage nicht be­wusst. Vielleicht ist er «dies» und nicht «das»; einer von «denen» statt «jenen» Typen. In diesem Fall kann ich ins Marzilibad gehen, mich in die Sonne legen, die Augen schließen und muss über derartige Dinge nicht mehr nachdenken. Der Drang zu flüchten, ist so stark, dass ich sie spüre, die kühle feuchte Brise, die über den Fluss weht und mein Gesicht erfrischt. Ich höre die Stimmen von Kindern, die über den Rasen laufen, ich sehe Männer und Frauen, die in der Sonne liegen. Trotz des Lärms im Mövenpick höre ich, wie die eierweißen Tischtennisbälle über die kühlen Betontische klickern.

Er wartet!

Aber was ist denn so besonders an einer so läppischen Frage?, höre ich Sie fragen.

Persönliche Probleme bei der ­Beantwortung der Frage

Es hängt immer davon ab, wer die Frage stellt, von dem Tonfall, in dem sie gestellt wird, und der Aura des Lichts in den Augen des Fragenden. Es hängt davon ab, ob er lächelt oder nicht, und wie er lächelt. Es hängt davon ab, ob ich mich sicher oder unsicher fühle, was wiederum stark vom Wetter und meinem Stoffwechsel an dem jeweiligen Tag beeinflusst wird. Und schließlich davon, ob der Wein mich meinen letzten Rappen kosten wird oder nicht.

Er könnte einer dieser Schweizer sein, die an Minderwertigkeitsgefühlen leiden und noch nie im Leben aus Bern her­ausgekommen sind. Der sich und die Gesellschaft, in der er lebt, hasst und nicht verstehen kann, warum jemand, der bei vollem Verstand ist, nach Bern kommt (als Tourist, für ein zwei Tage, ja, aber dreieinhalb Jahre!) Ich bilde mir ein, dass ich sehr gut verstehen kann, wie er sich fühlt, und vergleiche ihn mit Leuten, die ich zu Hause in Kansas, Texas oder Missouri kenne.

«Oh … mir gefällt Bern ganz gut. Es ist eine sehr schöne Stadt. Sehr sauber … Gut geführt. Gemütlich … solange man über das nötige Kleingeld verfügt, um sie wirklich zu genießen …»

In seinen Augen erscheint ein finsterer, misstrauischer Schimmer. Er vermutet Zynismus. Doch ich überzeuge ihn: «O ja, ich weiß. Viele Leute wundern sich, dass ich in eine so kleine Stadt mitten in Europa gekommen bin. Nun, für mich ist sie tatsächlich interessant. Mein Leben hier unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von dem, das ich in Kansas City ge­­führt habe. Dort habe ich nicht so gelebt, wie ich es mir ge­­wünscht hätte, sondern als Zwerg unter scheinbar normal großen Menschen. Folglich hatte ich zwergenhafte Loyalitäten, Aggressionen und Ängste, reale wie eingebildete. Denn das Leben war real und fantastisch zugleich. Außerdem war es ernst und vor allem gefährlich.

Aber hier in deiner alten Stadt habe ich an Statur gewonnen. Hier bin ich noch immer ein Zwerg, aber einer mit Dreimeilenstiefeln. Ich kann mich ein wenig freier bewegen und bin mehr oder weniger der Gesellschaft als Ganzes ausgesetzt. Meine Loyalitäten, Aggressionen und Ängste haben sich entsprechend meinem neuen Status verändert. Und trotzdem kommt mir das Leben hier genauso real und fantastisch vor wie das in Kansas City. Ich finde es auch genauso ernst und gefährlich wie das in Kansas City. Vor allem aber erscheint mir das Leben in deiner Stadt genauso interessant wie in mei­ner. Zweifelsohne gehören die Berner zu den interessantesten Menschen auf der Welt …»

Jetzt philosophiere ich ein wenig

«Sieh dir den Baum an», sage ich und zeige auf einen ima­ginären Baum mitten im Raum. «Da, zwischen den beiden Tischen, die die Kellnerin gerade für das Abendessen eindeckt.» Er betrachtet den Baum. «Und jetzt sieh dir den ande­ren an. Dort drüben – er wächst aus der Kasse am Tresen, da, wo gerade der gefrorene Hummer durch die Luft fliegt.» Er blickt gespannt auf den zweiten Baum und folgt dem Flug des gefrorenen Hummers in der schwungvollen Linie, die meine Fingerspitze in die Luft zeichnet. «Sie sehen gleich aus, nicht? Von hier wirkt es so, als hätten alle Blätter die gleiche Form und die gleiche Farbe. Aber stimmt das – haben sie wirklich die gleiche Form und die gleiche Farbe?»

«Nein», antwortet er ein wenig unbehaglich. Ich gebe ihm recht: «Stimmt, das haben sie nicht.» Dann fahre ich fort:

«Je länger du dir die beiden Bäume ansiehst, umso klarer wird dir, wie faszinierend sie sind. Sieh genau hin! Sieh dir an, wie das Licht auf sie fällt. Achte – achte auf die Schattierung der Blätter, die Muster, die sie auf dem Boden bilden. Heb sie auf. Halte sie gegen das Licht. Keins ist wie das andere, vor allem das Büschel an dem Zweig über dem Teich mit den kleinen blauen Fischen.» Staunend starrt er auf das Büschel imaginärer Blätter an dem Zweig, der über dem imaginären Teich mit den imaginären blauen Fischchen schwebt. «Aber halt!», rufe ich. «Dieses Muster siehst du nur jetzt. Es verändert sich. Es verändert sich mit jeder Minute, mit jedem Augenblick. Wie sieht es am Morgen aus? Am Abend? Oder mittags, wenn die Leute zum Essen nach Hause gehen? Und wie sieht es um zwei oder drei Uhr aus, wenn alle in ihre Büros zurückkehren? Ist es an einem sonnigen Augustnachmittag gegen vier dasselbe? Wenn der Wind im Oktober die Blätter mitgerissen hat? Oder wenn die Zweige im Januar von Eis bedeckt sind? Nein! Dabei haben wir nur die Oberfläche betrachtet, die banalsten Aspekte dieser beiden Bäume. Aber … », fahre ich fort, «… aber wenn du auch nur dieses bisschen von einem Baum in seiner Gänze wahrnimmst, kannst du das Himmelreich betreten, ohne deinen Pass vorzeigen zu müssen!»

Und was hat das mit Bern oder den Bernern zu tun?, fragt sein Gesichtsausdruck, doch noch ehe er es aussprechen kann, unterbreche ich ihn.

«Sind Menschen nicht komplexer, komplizierter und lebendiger als Bäume?» Bevor er «Ja» sagen kann, fahre ich fort:

«Sogar die Berner?»

Er runzelt die Stirn.

«Wie viel interessanter als Bäume sind Menschen, sogar Menschen aus Bern? Unendlich viel interessanter!», antworte ich auf meine eigene Frage. «Nun, und wenn ich schreiben will und mich für Menschen interessiere, kann ich dann nicht auch über die Berner schreiben, wenn ich dazu fähig bin?»

«Aber es gibt doch viel interessantere Orte für einen Schriftsteller», wendet er ein. «Paris, Rom, London!»

«Halt!», unterbreche ich ihn. «Zu Rom oder London kann ich nichts sagen, aber ich kann dir erzählen, warum ich nicht in Paris, Amsterdam oder München geblieben bin.» Und ich erzähle ihm Folgendes:

Warum ich nicht nach Paris ­gegangen bin

«Oh, ich dachte durchaus an Paris. Als ich in Amerika war, in Detroit in der Autoindustrie arbeitete und für diese Reise sparte, dachte ich, ich müsste unbedingt nach Paris! Und ich hatte einen guten Grund, denn ich war als Soldat dort gewesen und hatte mich in das Land verliebt. Schließlich hatte ich wundervolle Erfahrungen mit den Franzosen gemacht, noch bevor ich nach Paris gekommen war, in der Normandie und in Rouen. Damals hatte ich mir geschworen wiederzukommen. Verstehst du? Ich war sehr dafür. Aber als ich 1953 zurückkam, passierten viele unschöne Dinge.

Erstens hatte ich den Fehler gemacht, im April zu reisen. Das Wetter war schlecht. Zwar war die Überfahrt auf der Isle de France sehr angenehm verlaufen, trotzdem war ich schockiert, als ich in Le Havre von Bord ging. Seit ich zehn Jahre zuvor in einer kalten regnerischen Nacht durch die zerbombten Ruinen der Stadt gefahren war, hatte sich die Stadt enorm verändert. Der Hafen war neu, die Stadt war neu, und es gab viele fremde Leute, die mich herumkommandierten. ‹Gehen Sie dahin! Gehen Sie dorthin!›, müssen sie wohl gesagt haben, sie sprachen nämlich eine Sprache, die ich nicht verstand – war das Französisch?

Und noch bevor ich meine Enttäuschung über Le Havre hinter mir lassen und alte Erinnerungen an dieses und jenes Erlebnis wieder abrufen konnte (Cherbourg war in der Nähe, und Barfleur, der kleine Hafen, an dem wir während der Invasion landeten, nur fünfundzwanzig Meilen entfernt), fand ich mich schnaufend und schwitzend im Zug wieder, umringt von meinem Gepäck, unter Fremden, die sich in unbekannten Sprachen unterhielten, während meine geliebte Normandie langsam in der Dämmerung versank. Namen fielen mir wieder ein, Gesichter tauchten auf, Geräusche und Gerüche. Irgendwo – in Barfleur! – gab es eine alte Kathedrale im Regen, und eine Fischerstochter mit hübschen Beinen und Gummistiefeln, deren Brust sich nervös hob und senkte, während ich einen rostigen Angelhaken aus der Handfläche ihres Vaters zog, ein Mädchen namens Françoise und eine Lehrerin, die Simone hieß … Der Schmerz, oh, dieser bittersüße Schmerz einiger kostbarer Augenblicke von vor zehn Jahren ging un­ter und wurde von der Dunkelheit verschlungen.

An den Baum müsste ich mich erinnern, dachte ich, während wir durch die Dämmerung fuhren … An dieses Haus! … Dort drüben neben der Ruine stand ein kleines Haus, das … Aber es war schon wieder verschwunden. Gleichgültig schoss der Zug daran vorbei.

Tja, egal, dachte ich, egal. Ich bin in Frankreich. Und bald bin ich in Paris!

Als ich Soldat war, begleitete meine Einheit, das 509. Hafenbataillon, die Versorgungszüge, die zu verschiedenen Versorgungsdepots in ganz Frankreich unterwegs waren. Wir waren in Barfleur stationiert, wo ich zum ersten Mal viele herrliche Dinge erlebte. Später wurden wir nach Rouen verlegt und von da verteilten wir uns in ganz Frankreich. Deshalb kannte ich mich mit den Straßen relativ gut aus und auch ein wenig mit Paris. Dort legten wir nach jedem Einsatz einen Zwischenstopp ein und warteten, dass der Fahrdienstleiter uns eine neue Strecke zuwies. Wenn er nichts für uns hatte, schickte er uns nach Rouen zurück. Normalerweise blieben wir ein paar Tage in Paris, manchmal sogar mehrere Wochen. Wenn wir einen Einsatz hatten, ging es meistens nach Nancy; wenn er keine fand, fuhren wir ins Hauptquartier zurück, nach Rouen, auf dem Champs de Course, am Ende der rue Elbuf. Dort hatte es schon im ‹Ersten› Weltkrieg ein Lager für amerikanische Soldaten gegeben.

Was hatte ich für eine schöne Zeit in Paris gehabt! Wie freundlich die Leute waren! Und die Frauen! Wo sonst gab es derartig bezaubernde Geschöpfe? Obendrein im April! All das ging mir durch den Kopf, während ich, ohne es zu merken, den alten Song ‹April in Paris› … vor mich hinsummte, lada da da da. Und mir sagte: Es war eine wirklich gute Idee, hierher zu kommen!

Galt Paris nicht als Zentrum der Kunst? Waren nicht buchstäblich alle großen Schriftsteller hier gewesen? Heine, Rilke und Hemingway? Welch herrliche Qualen hatten Balzac, Hugo und Maupassant in Faubourg Saint Germain erlitten!

Ich werde mir ein schäbiges kleines Zimmer im Quartier Latin nehmen, dachte ich, mit einem alten Bett, einem Tisch zum Schreiben und einer Kerze. Und einen halb zerfallenen Kamin sollte es haben. Ich werde Käse essen und Rotwein trinken, vielleicht ein bisschen Haschisch rauchen und unvergessliche Texte schreiben. Im Übrigen werde ich mir eine schöne, dekadente Geliebte zulegen, die ich in meinen Geschichten unsterblich mache. Ich werde leiden … und betastete zum Trost die schwarze Brieftasche aus Kunstleder mit den Zwanziger- und Fünfziger-Reiseschecks …

Ich vergaß Le Havre im Dunkeln. Ich vergaß Rouen und die Normandie. Die Müdigkeit fiel von mir ab, und ich atmete die heiße, stickige Luft ein, als wäre sie süß wie der Duft von Chanel Nr. 5. Um eine Flasche davon zu kaufen, hatte ich zusammen mit etwa dreißig Millionen anderen amerikanischen Soldaten an einem bewölkten Morgen vor zehn Jahren Schlange gestanden …

Gegen neun Uhr abends kam ich an. Als der Zug im Bahnhof Gare du Nord einfuhr, musste ich schockiert feststellen, dass ich nicht länger der Held, der ‹große Befreier›, der Adressat eines freundlichen Lächelns und ernsthafter Bitten war, sondern nur ein Tourist unter vielen, dessen Gepäck inspiziert, kontrolliert, überprüft und in ein Taxi verladen wurde, ohne dass ich die geringste Ahnung hatte, wohin es gehen sollte. Ich musste mich durch eine Horde von Amerikanern kämpfen, um diese Folter zu ertragen! Der Kampf war umso mühseliger, weil ich alles sechsmal fragen musste! Diese dummen Esel verstanden mich nicht mal, wenn ich sie in ihrer eigenen Sprache ansprach. Der Taxifahrer versprach, mir bei der Suche nach einem Hotel behilflich zu sein, fuhr aber lange Umwege – davon war ich überzeugt. Vor zehn Jahren hatte ich eine Tour zum Quartier Latin gemacht und wusste, dass das Viertel nicht weit vom Bahnhof Gare du Nord entfernt war. Und wenn wir dann endlich zu einem Hotel kamen, war es unweigerlich voll. Schon seit Stunden ausgebucht. Als ich am Ende eins fand, das noch ein Zimmer frei hatte, war es viel zu teuer. Mittlerweile war ich jedoch so erschöpft, dass ich es nahm und den Wucherpreis zahlte.

Beim Anblick des Betts wurde mir klar, wie müde ich war. Doch als ich das kleine Waschbecken für Frauen in der Ecke entdeckte (ich glaube, man nennt es Bidet), das diskret hinter einem Paravent, bemalt mit japanischen Damen bei ihrer Toilette, verborgen war, kam ich wieder zur Besinnung. Ich schleppte meinen geschundenen, müden Körper die Treppe hinunter, trat auf die kühle Straße hinaus und machte mich auf, um Paris, das Paris von einst, zu genießen. Die Namen der Straßen und Viertel hallten in meinen Ohren wider.

Wo hatten wir in jener Nacht vor zehn Jahren noch so viel Spaß gehabt? … Irgendwo gab es einen Club namens Can Can, fiel mir jetzt wieder ein: Aber wo? … Und ein Viertel namens Strasbourg Saint-Denis, in dem früher ein großes Restaurant gewesen war. Wir hatten dort gegessen. Ganz in der Nähe war ein Theater. Es hieß, es sei das größte der Welt. Wenn die Lichter erloschen, funkelten dort künstliche Sterne. Es sah aus wie ein echter Himmel … mit Wolken und allem Drum und Dran. Das Rex!

Alles kam wieder hoch. Müde, aber entschlossen stolperte ich weiter. Plötzlich schwankte die Straße hin und her, so wie das Schiff auf der Überfahrt. Mir wurde schwindelig. Die Sehnen in meinen Knöcheln ächzten wie altes Leder, und die Knorpel in den Kniescheiben knirschten, als wären sie rostig. Wo waren meine Füße? Sie fühlten sich an wie abgebrochene Schienbeine, die auf die harten Pflastersteine prallten. Trotzdem wanderte ich blind durch eine Straße nach der anderen, auf der Suche nach weichen, warmen Farben, Gelächter, dem Duft von Parfüm und einer Begleiterin, mit der ich mir das diskrete kleine Waschbecken hinter dem seidenen Paravent mit den japanischen Damen teilen konnte.

Es fing an zu regnen. Mir war kalt; ich fühlte mich müde und verloren und fand den Weg zurück zum Hotel nicht mehr. Ich bog in eine Gasse in der Nähe eines Kinos ein. Davor stand ein großes Plakat mit dem Bild von Fernandel; er trug eine weiße Segeltuchhose und Tennisschuhe und einen komi­schen Hut auf dem Kopf. Aus einem Toreingang sprach mich eine Frau an. Sie war alt, und ihr Haar war an den Wurzeln dunkel und am Gesicht blond. Auf dem Kinn prangte ein künstlicher schwarzer Leberfleck. Insgesamt hatte sie drei davon. Als ich aus dem Regen in das muffige alte Treppenhaus trat, fragte ich mich, ob sie es war, an die ich mich zu er­in­nern versuchte. Wir tranken Kognak, und ich erzählte ihr, dass ich Jimmy heiße … Und dann zog ich einen Reisescheck aus meiner schwarzen Brieftasche und gab ihn ihr. Als ich mein Hotel endlich wiederfand, war es sehr spät, und bis ich einschlief, fast Morgen. Ich schlief bis in den Mittag.»

«Monsieur?»

Ein Kellner stand vor unserem Tisch. Während ich mit meinen Erfahrungen in Paris beschäftigt war, hatte mein Gegenüber ein weiteres Glas Wein bestellt.

«Willst du nicht auch eins?», fragte er.

«Nein danke», gab ich zurück.

Der Kellner runzelte die Stirn, denn es war Essenszeit, und wir besetzten einen Tisch in der Mitte. Er wollte, dass wir gingen, damit er ihn neu decken und vielleicht einer vierköpfigen Gästegruppe eine der teuren Mövenpick-Spezia­­litäten servieren konnte, mit denen sich ein ansehnliches Trinkgeld verdienen ließ. Da ich selbst einmal Koch gewesen war, fühlte ich mich unbehaglich und schlug vor, jetzt aufzubrechen. Doch meine Freunde wollten, dass wir noch blieben und unsere Unterhaltung zu Ende führten. Der junge Mann rechts von mir, dem zuliebe ich diese Erklärung begonnen hatte, war der Ungeduldigste von allen und wollte unbedingt wissen, wie mein Aufenthalt in Paris verlaufen war.

«Ist das alles, was du über Paris zu sagen hast?», fragte er. Ich merkte, dass er enttäuscht war und mich wegen meiner vermeintlich typisch amerikanischen Beschränktheit verspottete. Sein Tonfall nervte mich, und um meine Meinung über Paris zu rechtfertigen, ging ich ein wenig verzweifelt zum ernsteren Teil der Geschichte über.

Der ernstere Teil

«Oh, ich weiß schon, was dir zu Paris einfällt», begann ich. «Die Liebe, der Zauber, Liberté, Fraternité, Égalité! Der Louv­re, Montmartre und all das. Ich war schon überzeugt, bevor ich überhaupt da war. Es heißt, Paris sei der Ort, wo alle gu­­ten Amerikaner nach dem Tod enden. Ich war auf dieses Himmel­reich genauso gespannt wie meine Landsleute. Aber nachdem ich einen ganzen Tag vergeblich versucht hatte, im Quartier Latin ein Hotelzimmer zu bekommen, weil man mich für einen Nordafrikaner hielt, musste ich meine anfängliche Meinung revidieren …»

«In Paris!», riefen meine Freunde aus.

«In Paris!», erwiderte ich triumphierend. «Ich lernte ein paar nordafrikanische Studenten kennen. Die erklärten es mir. Sie lebten schon seit vielen Jahren dort, sie hatten keine Sprachprobleme und waren zumindest auf dem Papier Franzosen, also mussten sie es wissen …»

«Du hast einen Komplex!», riefen meine Freunde wie aus einem Mund.

«Wahrscheinlich», räumte ich ein. «Ich hatte viele Komplexe. Trotzdem verstehe ich nicht, warum ich es so schwer hatte, ein Zimmer zu bekommen. Deshalb machte ich ein Experiment …»

«Was für ein Experiment?», fragte der junge Mann, der diese Unterhaltung angeregt hatte.

«Nun, ich stand am Schalter des American Express, als eine recht hübsche junge weiße Amerikanerin hörte, wie ich Französisch sprach und mir ein Kompliment machte. Ich bedankte mich und verwickelte sie in ein Gespräch.

‹Was machst du hier in Paris?›

‹Ich bin Journalistin. Ich hoffe, dass ich mit meinen Artikeln für die Herold Tribune meinen Urlaub finanzieren kann. Früher habe ich für eine kleine Zeitung in meiner Heimatstadt in Ohio geschrieben. Und du?›

‹Ach, ich würde auch gern eine Weile in Paris verbringen und schreiben. Aber es sieht nicht besonders gut aus; bis jetzt habe ich es nicht geschafft, ein Hotelzimmer im Quartier Latin zu bekommen. Woanders will ich nicht wohnen. Jedes Mal heißt es, man habe keine Zimmer frei. Aber das glaube ich nicht. Bestimmt hat es mit meiner Hautfarbe zu tun und dem, was sie über meine vermeintliche Herkunft aussagt.›

‹Du glaubst wohl, du bist noch immer in Amerika!›, lachte sie. ‹Das hier ist Paris!›

‹So heißt die Stadt, stimmt›, entgegnete ich, ‹aber in Amerika wäre es zu diesem Durcheinander gar nicht gekommen, jedenfalls nicht da, wo ich herkomme, denn dort hätte ich ein weißes Hotel gar nicht erst betreten!›

‹Ich bin ganz sicher, dass du dich irrst, und ich kann es dir beweisen!›

‹Wie denn?›

‹Indem ich in denselben Hotels nachfrage wie du.›

Ich hatte nichts anderes vor, also willigte ich ein und klapperte den ganzen Vormittag mit ihr das Viertel erneut ab. Ich zeigte ihr das jeweilige Hotel und wartete an der Ecke, während sie nach einem Zimmer fragte. Und jedes Mal hätte sie nicht nur ein Zimmer bekommen, sondern sich auch noch eins aussuchen können.

‹Ich verstehe das nicht›, sagte sie. ‹Trotzdem darfst du deswegen nicht allzu skeptisch oder verbittert sein.›

‹Ach wo, ganz bestimmt nicht›, sagte ich. Und dann äußer­ten wir beide die Hoffnung, dass am Ende alles gut würde, sie die Artikel für den Herold Tribune schreiben könne und ich ein Zimmer finden und meine Karriere als Schriftsteller beginnen würde. Anschließend tranken wir noch einen Kaffee zusammen und verabschiedeten uns.»

Das beschäftigte meine Freunde für eine Weile, dann konnte ich mit meiner Geschichte fortfahren, ohne dass sie mich unterbrachen.

«Am Ende fand ich tatsächlich ein Zimmer, in der rue Monsieur le Prince, im Quartier Latin. Es war ein winziges Loch, das auf einen dunklen Alkoven mit Oberlicht hinausging. Durch die fadenscheinigen, schmutzig-grauen Gardinen fiel kaum Licht in den Raum. Der Boden des Alkovens bildete das Glasdach des Foyers und war mit Abfällen, vergilbten feuchten Zeitungen, schmuddeligen Lumpen und Pfützen verdächtig aussehender Flüssigkeiten bedeckt. Der ganze Flur stank nach Pissoir. In meinem Zimmer gab es ein Bett, einen kleinen Tisch mit einer billigen Holzlampe statt einer Flasche mit Kerze und einen Stuhl. Es hatte weder einen halb zerfallenen Kamin noch eine dekadente Geliebte, die mich hätte trösten können. Die Atmosphäre war muffig und deprimierend. Die Laken auf dem Bett waren klamm. Als ich mich reinlegte, hatte ich das Gefühl von Pilzen an einem Baum. Es gab weder ein Kopfkissen noch eine Bettdecke, und es war zwar April, aber kalt genug für ein Holzfeuer. Das winzige Licht, eine nackte gelbe Glühbirne an der Decke, war so schwach, dass ich nicht mal das einzige Buch, das ich dabeihatte, lesen konnte, Homers Odyssee. (Die Holzlampe funktionierte nicht).

Ich beschloss, ein Bad zu nehmen und erfuhr, dass das erst am folgenden Abend möglich war und ich in Zukunft dieses Privileg im Voraus anmelden musste. Ein Bad kostete hundertfünfzig Francs extra, Seife nicht inbegriffen. Als es dann so weit war, ging ich vor Kälte zitternd zum Badezimmer im obersten Stock des Gebäudes und musste zu meinem Kummer feststellen, dass die Wanne nur halb so groß war wie eine normale Badewanne. Ich würde aufrecht sitzen und mich so waschen müssen. Ich würde mich nicht der Länge nach ausstrecken und lange und genüsslich im heißen Wasser aalen können. Und jetzt frage ich euch, liebe Hedonisten, für die ein heißes Bad gleich nach der beglückenden Umarmung eurer Liebsten kommt, was in aller Welt könnte schlimmer sein als das? Abgesehen von dem, was mich als Nächstes erwartete: Das Wasser war nur lauwarm! Das schlug dem Fass den Boden aus. Nach dem Baden beschwerte ich mich beim Hotelmanager, der meine Empörung mit einem kühlen, zynischen Lächeln quittierte. Dann äußerte er etwas, was ich nicht verstand, das sich aber so anhörte, als bäte er den lieben Gott um Geduld, um die Prüfungen seines unglückseligen Lebens meistern zu können.

Zitternd kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ich hatte Hunger. Aber dann dachte ich, wie grässlich es wäre, wenn ich mich jetzt anziehen und durch eine Straße nach der anderen laufen müsste, bis ich ein preiswertes Restaurant fand, um mir dann den Kopf über eine Karte zu zerbrechen, die ich nicht einmal lesen konnte, und da verging mir der Appetit. Und weil ich im Halbdunkel meines Zimmers auch nicht lesen konnte, beschloss ich, mich hinzulegen. Ein bisschen Schlaf würde mir guttun, sagte ich mir. Schließlich war ich ja nur ein bisschen müde. Nach einem erquickenden Schlaf würde ich am nächsten Morgen frisch und fröhlich aufwachen. Also packte ich alles, was ich im Zimmer finden konnte, um mich warm zu halten, auf das Bett und kroch unter die feuchten Laken. Aber die Kühle drang trotzdem herein. Und die Matratze hing durch. Ich bekam Kopfschmerzen. Als sich endlich der erste verlockende Anflug von Wärme einstellte, merkte ich, dass ich auf die Toilette musste. Ich zog ein oder zwei Muskeln zusam­men und beschloss, zu warten, bis es vorbeiging.

Ich war fast eingeschlafen.

Da brach unten auf der Straße plötzlich Gelächter aus: ein Mädchen und ein Junge, oder zwei Mädchen und ein Junge oder vielleicht zwei Jungen und ein Mädchen. Ich hörte Schritte auf dem Flur. Sie kamen an meinem Zimmer vorbei und blieben kurz stehen. Sie küssten sich. Dann gingen sie weiter. Das Licht aus dem Zimmer über mir fiel in den Alkoven, und ich sah ihre Schatten an der Wand hin und her tanzen. Dann erlosch das Licht.

Jetzt werde ich schlafen, dachte ich. Und dann hörte ich ein neues Geräusch, das in Wirklichkeit nicht neu war, sondern ziemlich alt. Die Sprungfedern im Bett über mir began­nen zu quietschen, begleitet von Stöhnen, unterdrücktem Gelächter und unverständlichem Murmeln, auf das eine gera­dezu quälende Stille folgte. Nach einer Weile wurde diese Stille vom Geräusch zweier nackter Füße über mir unterbro­chen: Patsch, patsch, patsch, vom Bett zur Tür, den Gang entlang, bis irgendwo in der Dunkelheit ein Scharnier quietschte. Es folgte ein leises, pieselndes Plätschern, das Gurgeln der Kette und das Rauschen der Spülung. Dann patsch, patsch, patsch, ging es den Gang zurück, von der Tür zum Bett. Und zu den quietschenden Sprungfedern.

Jetzt werde ich schlafen, dachte ich. Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand und zog mir das Laken über die Ohren. Erneut ächzte das Bettgestell. Und wieder patsch, patsch, patsch hörte ich nackte Füße über mir, aber leiser, weicher, vom Bett zur Tür und den Gang entlang. Dann das Plätschern von Wasser, ein schneller dünner Strahl, das Gurgeln des Abzugs, das Rauschen der Spülung und dann: Patsch, patsch, patsch, zurück über den Gang, leise, weich, von der Tür zum Bett. Das Ächzen des Bettes, wieder und wieder, unter der Last des endlosen Hin und Hers. Das Licht erlosch. Endlich wurde es still.

Ich drehte mich mit dem Gesicht zum Fenster und versuch­te einzuschlafen. Die Schatten, die ich gesehen, und die gedämpften Geräusche, die ich gehört hatte, erinnerten mich an den Mief, der durch den Gestank der Toilette und des Mülls auf dem Glasdach noch verstärkt wurde. Meine Gedanken erfüllten mich mit Einsamkeit und Verzweiflung. Kurz vor dem Einschlafen kroch ein schmutziges fahles Licht durch das Fenster. Es wurde hell …

Das alles ertrug ich einen ganzen Monat», erklärte ich meinen belustigten Freunden. «Ich wanderte durch die Straßen und besuchte die Museen, bis mir übel wurde. Ich saß allein, immer allein, in Café-Restaurants, im Regen und im Wind, und sprach nur mit Kellnern oder Leuten, die mir irgendwas andrehen wollten. Und bei fast allem, was ich kaufte, berechnete man mir zu viel. Kein Franzose beachtete mich. Die Reiseschecks wurden immer weniger und ich immer nervöser. Ich kann Dostojewski nur aus vollem Herzen zustimmen, die Bewohner von Paris sind materialistisch und größenwahnsinnig. Und als ich auf den Wänden ‹Amis raus!› las, war ich bereit, dieses Land zu verlassen, egal wohin und ohne Be­­dauern!

Eines Morgens lernte ich einen Holländer und seine amerikanische Frau auf der Terrasse einer Brasserie am Boulevard Saint-Michel kennen. Sie saßen am Nebentisch. Ich ließ mir eine dumme Ausrede einfallen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, in dessen Verlauf er folgenden Satz äußer­te: ‹Das Leben in Amsterdam ist wunderbar!› Er beschrieb das Hafenviertel und die Grachten, und da er Schriftsteller war, machte er das sehr gut. Er war ein attraktiver junger Mann mit blonden Locken, einem kurzen Bart und wässrigen Augen. Seine Frau war auffallend hübsch – dunkles Haar und große dunkle Augen –, und sie war sich dessen bewusst. Sie stimmte mir zu, dass das Leben in Paris für Ausländer schrecklich sei, und er schwärmte von seiner Heimat. Während sie sprachen, kamen mir sofort Unmengen passender Bilder von Holland in den Sinn.

So saß ich auf dem verregneten, düsteren Boulevard Saint-Michel und sah dem endlosen Strom von französisch spre­chen­den Menschen zu, die sich für nichts anderes interessierten, als dem trägen Impuls zu folgen, der sie die Straße auf und ab trieb. Die Aussicht, das Land von Rembrandt, Spinoza und Descartes zu besuchen, erschien mir mehr als rosig. Und während ich sie beobachtete, dachte ich, dass ich Montaigne, Rabelais und Villon deshalb so leidenschaftlich verehrte, weil die Franzosen eine so wichtige Rolle in meinem Leben gespielt hatten. Trotzdem kam es mir seltsam vor, dass ich die moderne französische Malerei, die Musik und Poesie so inständig lieben konnte. Baudelaire und Rimbaud waren meine engsten Freunde. Ich hätte den letzten Franc für einen Film von Jouvet ausgegeben! Warum konnte ich all das fühlen und die Menschen trotzdem so unsympathisch finden? Irgendetwas stimmte grundsätzlich nicht, doch damit kam ich damals einfach nicht zurecht …

‹Wenn Amsterdam so schön und das Leben so billig ist, wenn ihr beide Holländer seid und hier Probleme habt, warum lebt ihr dann nicht in Amsterdam?›, fragte ich ihn mit der Logik eines Pferdehändlers aus Missouri.

‹Meine Frau ist Jüdin›, entgegnete er. Ein hübsches Lächeln flog über ihr Gesicht. ‹Meine Eltern waren dagegen, dass wir heiraten …›

‹Um es milde auszudrücken!›, sagte sie und warf das dichte schwarze Haar über die Schulter.

‹Wir haben Amsterdam verlassen, um unser eigenes Leben leben zu können›, erklärte er. ‹Weil ein Schriftsteller vor allem frei sein muss, um so handeln und denken zu können, wie er will.›

‹Ich glaube, da hast du recht›, gab ich zurück. Seine Begleiterin stimmte mir mit einem spöttischen Lächeln zu. ‹Euer Mut hat mich zutiefst berührt, und obendrein habt ihr mir eine Lösung für mein eigenes Problem gezeigt.›

Kurz danach verabschiedete ich mich. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Amsterdam. Ich weiß nicht mehr, um wie viel Uhr, aber es war der erste Zug, den ich nehmen konnte.»

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