Читать книгу: «Meine weisse Stadt und ich», страница 5

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Diese Gedanken standen in gefährlicher Weise im Widerspruch zu den Erfahrungen, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden in Deutschland gemacht hatte, und sie beunruhigten mich. Offensichtlich hatte sich in Frankreich und auch in Deutschland nach dem Krieg vieles verändert. Ob andere deutsche Städte anders sind als München?, fragte ich mich. Lag es an meinen Freunden? Oder an mir?

Während ich mir über diese Fragen den Kopf zerbrach, sah ich wieder die Parolen an den Wänden und Zäunen von Paris vor mir, auf denen ‹Amis raus!› stand. Bei dieser Erinnerung zuckte ich zusammen. Und dann kam mir ein beruhi­gender Gedanke: Paris ist weit weg … Amsterdam ist weit weg … Die deutsche Landschaft entfernt sich … Meine Sinne wandten sich neuen Fragen zu, die sich in einer einzigen zu kristallisieren schienen: Was werde ich in Bern vorfinden?

Nun», setzte ich an, doch im gleichen Augenblick flammte die Beleuchtung auf, und das Mövenpick wurde von einem fahlen weißen Licht überflutet, einem kühlen, schmutzig-frostigen Glanz aus dem künstlichen Glasdekor am Rand des Balkons. In ihm gefror das intensive Grün der Blätter an dem imaginären Baum, der aus der Kasse wuchs, und dem anderen zwischen den beiden Tischen, die die Kellnerin schon vor langer Zeit für das Abendessen gedeckt hatte. Bei dieser Vorstellung musste ich schmunzeln. Nur ich konnte die Bäume sehen, alle anderen schauten zu, wie einer aufgeblasenen, modisch gekleideten Dame mit einer leichten Pelzstola und ihrem gleichermaßen aufgeblasenen Mann, dessen kahler Schädel leuchtend rosa wie ein gut genährter Magen glänzte, das Abendessen serviert wurde. Vor der Farbe des Schädels hob sich der Abend in einem intensiven Blau ab.

Meine Gefährten drängten mich fortzufahren, vor allem der Neue, der unbedingt wissen wollte, warum ich nach Bern gekommen war, doch ich bat sie, mich aufgrund der vor­ge­rück­ten Stunde zu entschuldigen. Ich machte ihn auf die fins­teren Blicke des Kellners aufmerksam und auf die Gefahr, wenn wir länger blieben. «Ich war früher mal Koch. Ich weiß, wie sich der Mann fühlt», erklärte ich. «In diesem Lärm kann man sich sowieso nicht mehr unterhalten. Außerdem bin ich zum Abendessen mit Freunden verabredet. Herr und Frau C. in Wabern (einem Vorort von Bern) haben mich zum Käsefondue eingeladen. Frau C. kann es nicht leiden, wenn man zu spät zu ihrem berühmten Fondue kommt, wenn es nämlich nicht sofort gegessen wird, verdirbt es, der Käse klumpt und bildet kleine Kugeln, so ähnlich wie Kaugummi. Und da ich kein Geld habe, um woanders zu essen, Gentlemen, nehmt ihr es mir hoffentlich nicht übel, wenn ich die Geschichte irgendwann anders zu Ende erzähle …»

Ich war hungrig, erschöpft und irgendwie auch deprimiert nach der Anstrengung, meine beschwerlichen Schritte nach Bern zurückzuverfolgen. Außerdem frustrierte es mich, dass ich es nicht geschafft hatte, ihnen klarzumachen, worum es mir ging. Mein Gegenüber war unzufrieden, ich spürte es. Es hatte ihm nicht gefallen, was ich über Europa, die Franzosen und die Deutschen gesagt hatte. Vielleicht war er Welschschweizer, Deutschschweizer, Schweizerdeutscher oder Schwei­zerfranzose – ich zog alle Möglichkeiten in Betracht, sah aber ein, dass es zu spät war; der Schaden war bereits angerichtet.

«Ein anderes Mal», sagte ich, stand auf und verabschie­dete mich. Ich trat durch die Schwingtür des Mövenpicks auf den Bahnhofplatz und fühlte mich nackt und beschämt. Bruchstücke von Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, und das Geräusch, das sie verursachten, vermischte sich mit dem Verkehrslärm. Ich ging quer über die Straße Richtung Spitalgasse, schlenderte unter den Lauben von Loeb hindurch und ignorierte die modisch gekleideten Schaufensterpuppen un­ter den kristallenen Lüstern und die Menschenmenge, die durch die großen Eingänge strömte. Ohne es zu merken, ging ich in Richtung Sherrers, einem kleinen Restaurant in der Marktgasse, in dem ich oft aß, weil es so preiswert war. Dort setze ich mich in Ruhe hin, sagte ich mir. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich kein Geld mehr hatte. Madame C.s Käsefondue!, dachte ich, drehte mich um und stieß mit einem Mann mittleren Alters zusammen, der eine Melone trug und seinen schwarzen Pudel an einer gelben Leine führte. «Pardon!», entschuldigte ich mich, denn mir war klar, dass ich mich beeilen musste, wenn ich noch rechtzeitig zu Madame kommen wollte. Bis nach Wabern waren es gut fünfzig Minuten zu Fuß, und für ein Trambillet hatte ich kein Geld.

Woran ich unterwegs dachte

Ich dachte so gut wie gar nichts, bis ich die Monbijoustraße erreichte, wo viele Menschen unterwegs waren. Diskret beäugte ich die Knöchel, Hüften und Brüste der vielen hübschen Mädchen, ihr unablässiges Auf und Ab. Doch als ich in die Monbijoustraße eingebogen war, die Bundesstraße auf der linken Seite überquert hatte und am Olivetti-Schreibmaschinenladen und am Tea Room Rendez-vous vorbeigekommen war, lichteten sich die Menschenmassen. Während die Leute in Häusern, aus deren Fenstern rosiges Licht strömte, bei Café complet, Rösti, Bratwurst und Apfelkuchen saßen, ging mir Folgendes durch den Kopf:

Ich vermisse mein eigenes rosiges Fenster am Abend! Ich vermisse meine Schweinekoteletts mit Bratäpfeln und brauner Sauce, die frischen warmen Biscuits dazu und den damp­fenden Tee, um alles runterzuspülen. Ich werde immer in ei­­ner fremden Stadt sein, in die Fenster fremder Leute blicken, an den Tischen fremder Menschen essen … Dann ein anderer Gedanke: Ich habe vorhin nicht alles gesagt, was ich dachte … oder fühlte. Einiges von dem, was ich sagte, stimm­te, egal wie schlecht ich mich ausgedrückt habe, es stimmte – früher einmal! Aber wie lächerlich es mir jetzt vorkommt!

Der Abend fühlte sich weich und kühl an, als ich an der Wander AG vorbeikam. Ich dachte an Little Orphan Annie und an Daddie Warbucks und daran, wie erstaunt – ja, gekränkt – ich gewesen war, als ich bei einem Streit, den ich unbedingt gewinnen wollte, entdeckte, dass Ovomaltine ein Schweizer Produkt war. Das ist nicht fair, dachte ich nun, lief die Monbijoustraße weiter hinauf, folgte den Gleisen des Trams um die Ecke und kam an dem Seniorenheim vorbei.

Aus seinen Fenstern fiel blasses Licht. Gegenüber auf dem weiten grünen Feld stapfte ein müder Bauer, der sehr alt aussah, vor seinem riesigen grauen Pferd über einen frisch gepflügten Acker. Als ich den Duft von Erde und feuchtem Gras einsog, fiel mir ein, wie mir mal jemand erzählt hatte, dass die Berner, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, fünfundachtzig oder sechsundneunzig und zwei Drittel, glaube ich, einen Schaukelstuhl vom Staat geschenkt bekommen. Mein Informant meinte, das erkläre vielleicht, warum die Berner sich bemühten, so lange wie möglich zu leben. Dann fragte er, ob mir nicht aufgefallen sei, wie vorsichtig sie seien. Wie praktisch, dachte ich, und lächelte in mich hin­ein, während ich zusah, wie sich die Gestalt langsam in der Dunkelheit verlor. Wie praktisch, so nah am Seniorenheim zu wohnen. Mein Lächeln und meine Gedanken lösten sich in kleine Wellen auf, die sich in meinen ganzen Körper ausbreiteten, bis seine Hitze in die abendliche Kühle ausstrahlte. Es lag an der Anstrengung und dem Rhythmus des Gehens, und als meine Augen auf die untergehende Sonne fielen, die sich durch einen Streifen Grün im Westen brach, entdeckte mein Körper sein Lied! …

An einer Ecke blieb ich stehen und ließ ein Auto vorbei. Noch zwanzig Minuten, sagte ich mir und hoffte, dass ich mich nicht verspäten würde, wünschte, Madame C. würde mir statt des Käsefondues nur ein Stückchen Fleisch und Brot und vielleicht eine Tomate und eine grüne Paprika vorsetzen.

Aber … erneut kräuselten sich meine Gedanken, und schon klopfte ich an Madame C.s Tür und sagte: «Guten A-bend!», während mir der Geruch nach Käse und Weißwein in die Nase stach …

Bevor ich an diesem Abend in meinem dunklen Zimmer einschlief, dachte ich darüber nach, wie unzufrieden ich das Mövenpick verlassen hatte. Ich hatte nur eine Formel wiederholt, die ich schon unzählige Male ausgesprochen hatte, weil man mir unzählige Male dieselben Fragen gestellt hatte. Die Erklärung, die ich abgegeben hatte, war alles andere als vollständig gewesen. Dem jungen Mann hatte ich nur das gesagt, was ich schon anderen jungen Männern gesagt hatte, die dies waren und nicht das. Stimmt, ich war froh, dass ich nicht mit einem der Kerle konfrontiert gewesen war, der das war, denn das sind echte Bastarde! Nicht weil ihre Eltern unverheiratet gewesen waren, als sie geboren wurden – wer spricht denn heute schon darüber! – sondern weil sie mit ihren dreckigen Pfoten gern in den intimsten Teilen meines Bewusstseins bohren.

Jeden Augenblick kann einer von denen auftauchen. Sie könnten hinter jedem x-beliebigen Felsen lauern. Das Musterbeispiel ist normalerweise ein cleverer junger Mann, der amerikanische Zeitungen liest. Er hat Italien, Paris und Spanien besucht und spricht deren Sprachen mit einem starken Schweizer Akzent. Er ist ein Mann von Welt, und das will er mir zeigen. Zudem würde er, egal wo, andere Leute gern damit beeindrucken, dass er au courant ist, amerikanisches Englisch spricht, ein äußerst interessanter Mensch ist und jedermann kennt. Für gewöhnlich kommt er auf mich zu, grüßt mich auf vertraute Art (‹Amerikaner sind nun mal so, weißt du›, scheint er zu sagen) und nennt mich beim Vornamen. Vielleicht hat er ihn zufällig aufgeschnappt oder von einem Bekannten erfahren, der ihn von einem Mädchen hörte, mit dem ich an einem Samstagabend Weihnachten vor einem Jahr im Bierhübeli getanzt habe! Manchmal ruft er ihn von der anderen Straßenseite, aus einer Menschenmenge heraus, die gerade aus dem Kino strömt, um halb fünf, halb sieben, halb neun oder halb elf. Meistens macht er sich in ei­­nem Café an mich heran, aber eher im Casino oder Em­bassy Tearoom, wo die hübschen Mädchen ein- und ausgehen, sich umschauen und lächeln, ihren Kaffee oder Tee trinken und sich unterhalten. Einmal tauchte er im Bali auf, zwischen zwei Schlucken Bier.

«Hi, Wince!» oder «Hal-lo, Winsen!», rief er über den Lärm des Klaviers, den Glanz der kitschigen Lampen, das nervöse Lachen der Bardame mit dem tiefen Ausschnitt hinweg und streckte mir seine klebrige Hand entgegen. «Was gibt’s Neues! Was für eine Überraschung, dich zu sehen!» Er hatte mich also nicht gesehen, als er mich vor knapp zwanzig Minuten beim Verlassen des Sultan Tea Rooms angesprochen hatte! «Was, du bist noch immer in Bern? Ich verstehe nicht, wie du es hier aushältst!»

Mit einem mörderischen Ausdruck in den Augen sah ich zu diesem Herrn auf. Ich sah mit einem mörderischen Ausdruck zu ihm auf, weil an diesem bestimmten Tag eine melan­cholische Stimmung in der Luft lag. Ich hatte gerade eine Absage von einer Zeitschrift erhalten, deren Redakteur mir versichert hatte: «Dass wir Ihre Geschichte ablehnen, sagt nichts über deren Qualität aus, es bedeutet lediglich, dass sie nicht in unsere Zeitschrift passt.» Ich hatte meine letzten sechzig Rappen ausgegeben, um diese kleine Unannehmlichkeit mit einem Bier hinunterzuspülen. Obendrein ging der Sommer zur Neige. Ich hatte es an diesem Tag gespürt, zwischen halb vier und halb fünf, als ich auf dem kleinen Uferweg mit Blick auf den Damm stand, da, wo der Fluss hinter der Bekleidungsfabrik Schild gegenüber der Schwellenmätteli-Sauna und dem Tea Room in einen Kanal übergeht. Dort unten hatte ich mir gewünscht, ich wäre jünger und der Sommer wäre sonniger gewesen. Ich hatte mit den Veränderungen gehadert, die das rote Laub, dann die kahlen Äste, die kalten Winde und der Schnee in mein Leben bringen würden. Was soll aus mir werden?, hatte ich mich gefragt und auf das schäumende eiskalte blaugrüne Wasser hinabgeschaut. Habe ich das Zeug zu einem Schriftsteller? Habe ich den Mut, zu springen? Das Wasser sieht verlockend aus. Wenn es bloß nicht so kalt wäre! …

«Warum kommst du nicht nach Hause?», hatte meine Mut­ter mir gerade erst geschrieben. «Dein Cousin hat eine Frau, einen guten Job und ein schönes kleines Haus mit einer Hütte für den Hund. Jetzt verdient er achttausend im Jahr. Du würdest mindestens genauso gut abschneiden mit deiner Ausbildung, Reiseerfahrung usw. …»

Machen wir es noch komplizierter:

Ich war nicht zufrieden mit meiner letzten Geschichte. Ich musste sie umschreiben. Aber ich hatte schon lange nichts mehr zu Papier gebracht – seit etwa einem Monat, vielleicht auch zwei –, die Zeit verfliegt so schnell! Vielleicht war es so­­­gar noch länger her, seit ich zuletzt etwas geschrieben hatte. Ich hatte eine Menge guter Bücher gelesen, und nicht mal die Tatsache, dass ihre Autoren tot waren, tröstete mich. Zwan­zigmal hatte mich irgendein Unmensch oder vorlauter Streithammel an diesem Tag mit einem unheimlichen Grinsen gefragt: «Na, was macht das Schreiben?» Und ich hatte geantwortet:

«Ich komme voran …» und mich gefragt: Wann? Wie? Ich kam mir nutzlos und lächerlich vor mit meinem Stapel leerer weißer Blätter in meiner Aktentasche.

«Schon was verkauft?», wollte mein wohlwollender Freund wissen, bevor ich ihm sagte, dass ich noch was vorhätte.

Noch mehr Komplikationen:

An diesem Tag, als der Mann, einer von denen, mich gefragt hatte, wie ich es bloß in Bern aushielt, war ich mit drei Monaten Miete im Rückstand und schuldete dem Rendez-vous vier Kaffees. Ich hatte mir von allen Leuten, die dazu in der Lage waren, Geld geliehen. Meine Freunde beschleunigten die Schritte, sobald sie mich auf der Straße sahen. Ich hatte ein bisschen Hunger. Es gab Freunde, die mich zum Essen eingeladen hätten, aber heute konnte ich sie nicht besuchen, weil ich vorhatte, morgen zu ihnen zu gehen. Die unveröffentlichten Manuskripte, die sich auf meinem Tisch stapelten, verschafften mir keine Befriedigung, und es machte auch keinen Spaß, mich in Edgar Allan Poes oder Mozarts Elend zu wälzen, ein beliebter Zeitvertreib, den ich mir gewöhnlich für die düstersten Stunden aufhob. An diesem Tag, als der Sommer in den Herbst überging, dachte ich an zu Hause, an meine Mutter und meinen Vater, an meine Jugend, an meine Pläne und meine Ambitionen. Ich dachte an die Liebe einer Frau und ein Familienleben. Ich haderte. Zweifel übermannten mich. Ich saß im Bali vor meinem Bier und klammerte mich an den letzten Strohhalm, in der Hoffnung, dass er mich vor dem Ertrinken retten würde.

Und dann kam der Angriff.

«Hi, Wince!» oder «Hal-lo, Winsen!», rief er über den Lärm des Klaviers, den Glanz der kitschigen Lampen, das nervöse Lachen der Bardame mit dem tiefen Ausschnitt hinweg und streckte mir seine klebrige Hand entgegen. «Was gibt’s Neues! Was für eine Überraschung, dich zu sehen!» Er hatte mich also nicht gesehen, als er mich vor knapp zwanzig Minuten beim Verlassen des Sultan Tea Rooms angesprochen hatte! «Was, du bist noch immer in Bern? Ich verstehe nicht, wie du es hier aushältst!»

Mit einem mörderischen Ausdruck in den Augen sah ich zu diesem Herrn auf. Ich vermaß sein fliehendes Kinn, schätzte den Grad an Entschlossenheit in seinem gehetzten Blick ab und gab mir Mühe, den Anflug von Mitgefühl zu unterdrü­cken, der in mir aufstieg, als ich sein verängstigtes junges Gesicht betrachtete. Herzlos und entschlossen wartete ich darauf, dass er nach links oder rechts auswich und aus dem Gleichgewicht kam. Er täuschte mit der Linken –

«… aber wieso bist du überhaupt nach Bern gekommen?» und streifte mein Kinn mit der Rechten. Ich wich dem Schlag aus. Denn was er eigentlich hatte sagen wollen, war: Wieso bist ausgerechnet du nach Bern gekommen? Mit anderen Worten: Wieso bist du nicht in Amerika geblieben? Und das wiederum hieß: Ich weiß, warum du nicht in Amerika geblieben bist, du armer Teufel! Bist du nicht heilfroh, in Bern zu sein, wo die Leute nicht so gemein zu dir sind?

Ich wehrte mich.

«Tja, ich bin hergekommen, um den Untergang der europäischen Kultur zu studieren. So einfach ist das!», rief ich ausgelassen und zeigte diskret auf einen mickrigen jungen Mann, der am anderen Ende des Tresens saß. «Hast du so was schon mal gesehen? Ein erwachsener Mann, der sein Bier mit Strohhalm trinkt! … Ich habe gehört, dass die Schweiz eins der primitivsten Länder Europas ist, mit dem niedrigstmöglichen Grad an Kultur und unglaublich dekadent.»

Ich grinste in mich hinein, während er auf seinem Sitz her­umzappelte. Ich mochte ihn nicht, allerdings nicht, weil er so war, wie er war, sondern, weil er sich selbst nicht mochte und mich zwang, die Kleinlichkeit meines Charakters zu offenbaren, die mich dazu brachte, derart hässliche Dinge zu sagen. Aber ich durfte keinesfalls zulassen, dass er mich kampflos besiegte.

«Aber», setzte ich hinzu und dachte, das wird die Stimmung ein wenig aufhellen, «wenn man schreiben will, muss man die eigene Perspektive erweitern und sein Land, sich selbst und seine Landsleute aus einer gewissen Distanz betrachten. Daher könnte man gewissermaßen sagen, ich sei in die Schweiz gekommen, um mir über meine Identität als Amerikaner und Schwarzer in der westlichen Welt klar zu werden.»

«Aber warum ausgerechnet in der Schweiz? Und obendrein in Bern?», fragte er, in der Hoffnung, dass ich ihm ho­nig­süße Beteuerungen über den demokratischen Geist der Schweizer um den Bart schmierte.

«Das war Zufall. Ich hätte wie ein typischer Amerikaner mit meinen dreitausend Dollar einunddreißig Länder in zwei Wochen besuchen und erschöpft nach Hause zurückkehren können, mit einem Haufen Souvenirs, die ich genauso gut im Untergeschoss von Macy’s hätte kaufen können, ohne auch nur das Geringste über Europa zu wissen, ohne mir irgendwas angeschaut zu haben, nichts, was ich mir nicht auch hätte aneignen können, wenn ich mir ein Reisemagazin gekauft und es an einem langweiligen Sonntagnachmittag in meinem Wohnzimmer durchgeblättert hätte. Ja, das hätte ich machen können, aber ich bin zum Schreiben nach Europa gekommen, und um schreiben zu können, braucht man Ruhe. Außerdem habe ich mir gesagt, dass man mehr über Europa erfahren kann, wenn man in einer Stadt bleibt, sie wirklich kennenlernt und mit ihren Bewohnern zusammenlebt. Dann würde ich zumindest über einen Teil der Europäer eine Menge erfahren, und das würde mir helfen, mithilfe von Vergleichen einige ihrer allgemeineren Eigenschaften zu verstehen. Ob Schweizer, Holländer, Deutsche, Italiener oder Spanier, es gibt eine typisch europäische Sichtweise, die sich auf bestimmte Bräuche und Vorstellungen gründet, die ihnen allen gemein sind, nicht wahr?» Er stimmte mir zu und war sichtlich froh, dass die Unterhaltung einen banaleren und dennoch objektiveren Ton angenommen hatte. «Und wo sonst würde man bleiben wollen, wenn man Europas Herzschlag hören wollte, wenn nicht in Bern?»

«Ach, komm, du machst doch bloß Witze!» Er lachte. Es war ein spontanes, nicht beabsichtigtes Lachen. Es enthielt einen Funken von Freude, der auch mich froh stimmte, denn bislang hatte ich nur eine böse Grimasse auf seinem Gesicht gesehen, einen hektischen Ausdruck in seinen Augen (obwohl er ziemlich jung war, höchstens zweiundzwanzig, und ein wirklich hübscher Kerl). Er lachte so, wie er vielleicht als Vierjähriger gelacht haben musste. Mir ging es jetzt auch besser, weil die Unterhaltung eine neue Wende genommen hatte. Meine eigenen Probleme verblassten, als ich daran dachte, dass sich hier eine neue menschliche Beziehung herauskristallisierte. Ein intuitiver Funke schoss mir durch den Kopf, und ich griff nach den Worten, während sie durch das Licht stolperten und dann wieder in den dunkleren Regionen primitiver Gedanken versanken.

«Aber es stimmt doch. Die Schweiz liegt genau in der Mitte von Europa, und Bern ist ihre Hauptstadt. Im Kirchenfeld finden sich Botschaften und Vertretungen aus aller Herren Länder. Man braucht nur an einem x-beliebigen Tag vor dem Bahnhof zu stehen», sagte ich, vielleicht ein bisschen allzu enthusiastisch, «ja, vor dem Bahnhof zu stehen, und wenn sich zwei Kulis auf einem Reisfeld in der oberen Mongolei streiten – vorausgesetzt es gibt überhaupt Reisfelder in der oberen Mongolei –, kann man spüren, wie der Nachhall dieses Streits den Verkehr erschüttert! Und zwei Stunden später, wenn die Zeitungen erscheinen, kann man die Einzelheiten in den Schlagzeilen lesen. Hausfrauen werden aufgefordert, Vorräte anzulegen. Das Rote Kreuz wird in Alarm versetzt. Heftige Schwankungen bringen die Börsenticker durcheinander. Die lokalen Geschäftsaussichten schießen in ungeahnte Höhen oder zittern am Rande eines tiefen Abgrunds.»

Er lachte wieder wie ein entzücktes Kind, und ich fuhr fort, froh über sein Lachen, mitgerissen vom Strom meiner Gedanken.

«Weißt du was …? Als Präsident Eisenhower die Einfuhrzölle für Schweizer Uhren anhob, hielt mich eines verreg­neten Tages vor Radio Bern ein Straßenfeger an, ein netter, freundlicher Mann; ich hatte ihn in den letzten beiden Jahren fast jeden Tag gesehen und mich oft mit ihm unterhalten. Er fegte gerade einen Haufen Pferdemist zusammen, ganz frisch, denn er dampfte noch. Doch jetzt ließ er seine Schaufel fallen und verlangte aufgebracht eine Erklärung für Mr. Eisenhowers Handelspolitik!

‹Was meinen Sie?›, fragte ich ein wenig schüchtern, denn ich musste Französisch sprechen und fühlte mich in dieser Sprache nicht so sicher. Aber auch, weil mich seine Wut überraschte, denn er war immer sehr freundlich zu mir gewesen. Ganz kurz dachte ich, dass ich ihn missverstanden hatte und er böse war, weil ich in meiner Achtlosigkeit Asche aus meiner Pfeife auf seinen sauberen Trottoir hatte fallen lassen.

‹Wie? Sie wissen nicht, was Monsieur Eisenhower macht?›, schrie er zornig und sah mich an, als wäre ich schuld an dem Haufen Pferdemist, den er gerade hatte fallen lassen.

‹Nein›, entgegnete ich. ‹Ich habe keine Ahnung.›

‹Lesen Sie denn keine Zeitung?›

‹Nein – ich habe schon seit Monaten keine Zeitung mehr gelesen, und Politik hat mich seit der Emanzipationsproklamation zur Abschaffung der Sklaverei nicht interessiert.›

Er starrte mich sprachlos und ungläubig an.

‹Er hat – er hat die Zölle angehoben – für Schweizer Uhren!› Es bereitete ihm große Mühe zu sprechen, er fasste sich an die Brust. Ich trat einen Schritt auf den alten Mann zu, um ihn aufzufangen, falls er umkippte. ‹Jeder weiß, dass Schweizer Uhren – dass Schweizer Uhren – die besten der Welt sind! Sie haben es ja selbst gesagt! Und – und – und weil die ameri­ka­nischen Uhrmacher neidisch sind, wollen sie – wollen sie die Einfuhr von Schweizer Uhren unterbinden. Dabei sind es die Amerikaner, die ständig davon sprechen, dass die wirtschaftlichen Einnahmen der ganzen Welt zugutekommen sollen und dass sie den armen Ländern helfen wollen, helfen! Jetzt verlieren zwanzigtausend Menschen ihre Arbeit! Die Amerikaner sind Dummköpfe! Sie praktizieren nicht, was sie predigen. Demokratie! Kein Wunder, dass Verbrecher wie McCarthy Ihr Land regieren. Und Sie!› Ich sah den Zorn in seinen freundlichen alten Augen. ‹Ein schwarzer Mann! Und Sie lesen keine Zeitung!›

‹Tja›, sagte ich. ‹Ich stimme Ihnen zu, es ist in der Tat ei­gen­artig. Aber da ich die Fakten nicht kenne, kann ich mich dazu auch nicht äußern. Im Übrigen ist es wahr, dass die Ame­rika­ner nicht immer das praktizieren, was sie predigen. Da haben Sie vollkommen recht. Auch ich habe eine Menge Beweise für diese bedauerliche Tatsache. Und mit Sicherheit sind viele Politiker und Regierungsbeamte Dummköpfe. Aber was die Uhren angeht, das Wann und Warum, dazu kann ich nichts sagen, weil ich, wie schon gesagt, keine Zeitung lese. Und ich werde wohl auch nicht so schnell wieder damit anfangen …›

Der alte Mann wetterte noch zehn Minuten gegen die Ame­rikaner, bevor ich mich aus dem Staub machen konnte. Und glaubst du, das wäre das Ende gewesen?», fragte ich den jungen Mann, gerade als die Bardame sich bückte, um ein Messer aufzuheben, das ihr aus der Hand gefallen war, und die tiefe Spalte zwischen ihren Brüsten offenbarte, die so stramm standen, als wären sie dazu abgerichtet. «Glaubst du, dass die Sache damit abgeschlossen war? Von wegen. Ich bekam einiges zu hören, von meinem Coiffeur und von weitläu­figen Bekannten, denen ich zufällig auf der Straße begegnete. Auch die Kellner und Kellnerinnen in den Cafés und Tea Rooms machten sich Luft. Monatelang war es das einzige Thema in unzähligen hitzigen Unterhaltungen!

Sieh mal», bettelte ich. «Ich wette mit dir, dass nicht ei­ner von tausend Amerikanern, es sei denn, es betrifft ihn direkt, die geringste Ahnung davon hat, dass man die Zölle auf Schweizer Uhren angehoben hat! Ich will nicht sagen, dass es schlecht ist, wenn Leute so empfindlich sind, ich sage es nur, um meinen Standpunkt klarzumachen, nämlich dass die Schweiz ein idealer Ort ist, um nicht nur Europa, sondern die ganze Welt zu beobachten.»

«Dann willst du wohl für immer hierbleiben?»

«Warum sollte ich?»

«Na ja, du weißt ja viel besser als ich, wie es bei euch im Sü­den zugeht. Diese Leute da unten müssen verrückt sein. Das ist etwas, was wir Europäer nicht verstehen. Wie können Menschen so tief fallen? Warum macht die Regierung dem nicht ein Ende, wenn Amerika doch immer behauptet, es sei eine Demokratie? Ich habe nichts gegen – gegen – Nig – Schwarze. Sie sind – du bist genauso viel wert wie – wie ich – wie jeder andere …» Er sah mich lange und eindringlich an, und seine Verwirrung zeigte sich in seinem Ausdruck, einem Ausdruck echter Befriedigung, durchsetzt von sadistischer Freude, als hätte er einen wunden Punkt in meiner Selbstgefälligkeit berührt. Er wartete.

«Oh, das kann ich nicht erklären …, jedenfalls nicht einfach so…» Ich geriet ins Taumeln unter der sinnlosen Last, diesem jungen Mann in einer überfüllten, lauten Bar bei ei­nem leeren Glas Bier zu «erklären», warum die amerikanische Regierung nichts dagegen unternahm, als ließen sich die Rassenkonflikte in Amerika in einem einzigen Wort zusammenfassen! «Amerika ist so groß …», sagte ich und hatte das Gefühl, er glaubte, dass ich dem Thema ausweichen wollte, «und in vielen Gegenden so unterschiedlich.»

«Trotzdem verstehe ich nicht, wie jemand, nur weil er weiß ist, so grausam zu jemand anderem sein kann, nur weil der ein – weil der schwarz ist.»

«Nun», seufzte ich lustlos angesichts dessen, was mir als unglaubliche Naivität erschien, während ich an den Satz dachte, der meine Sicht der Dinge in Amsterdam so erschüttert hatte: «Aus meinen Eltern haben sie Seife gemacht.» – «Europa ist auch nicht viel anders.»

«Was? Jetzt hör aber auf.»

«Nein, ich meine es ernst. Kannst du die Deutschen im letzten Krieg verstehen? Das heißt diejenigen, die Nazis ­wa­­ren? Weißt du, wie viele Juden vergast oder lebendig verbrannt wurden? Wie viele Seifenstücke man aus ihnen gemacht hat? Das ist natürlich keine Sklaverei, wie wir sie in Amerika hatten, aber was spielt das für eine Rolle? Es ist ge­nau wie die Sklaverei ein Beispiel für die Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber seinesgleichen, wie ein berühmter englischer Dichter es einmal ausgedrückt hat. Sag mir, verstehst du die Engländer? Was glaubst du, wie viele Menschen in den Diamantenminen umgekommen sind? Oder von Belgiern und Franzosen einfach abgeschlachtet wurden? Wie viele Polen von den Russen umgebracht wurden? Wie viele Japaner in Hiroshima bei lebendigem Leib verbrannt sind? Die Liste ist endlos. Wenn es dich nicht überzeugt, such dir ein Beispiel aus, das näher an deiner Heimat ist. Eins, das du besser verstehen kannst. Die Schweizer Söldnerheere gehörten zu den grausamsten auf der Welt. War es nicht so? Wie heißt es noch: ‹Wo ein Schweizer Stiefel hintritt, wächst kein Gras mehr.›»

«Nun – das ist lange her.»

«Von wegen», wandte ich ein. «Die Kohleminen in Belgien, die Clochards in Paris und Italien, ganz zu schweigen vom Mittleren und Nahen Osten oder Südafrika. Versteh mich nicht falsch. Ich will Amerika nicht entschuldigen und auch nicht die Menschenrechtsverletzungen, die in der übrigen Welt begangen werden. Aber sieh dir eure eigene Geschichte an, die Verbrechen, die während der Industriellen Revolution an Menschen begangen wurden und auch davor, such dir irgendeine Zeit aus, egal, in welchem Land. Mit den Gebeinen dieser sinnlos abgeschlachteten Menschen könnte man neue Welten bauen. Ihre Asche würde alle Meere trockenle­gen!»

Mein Gegenüber sah mich nachdenklich an. Ich trank den letzten Schluck Bier. Es schmeckte bitter. Obendrein fühlte ich mich nicht wohl. Noch war ich nicht auf den Kern der Sache zu sprechen gekommen! Was mich nach Bern verschlagen hatte, war komplizierter und schrecklicher als meine persönlichen Streitigkeiten, Politik oder die Ermordung von ein paar Millionen Menschen.

«Ich muss gehen», sagte ich, und als ich aufstand, merkte ich, dass auch er die Spannung spürte.

«Darf ich dich zu dem Bier einladen?», fragte er.

«Es ist bereits bezahlt», entgegnete ich.

«Nun, dann vielen Dank für das interessante Gespräch», sagte er.

«Oh, ich habe zu danken …»

«Tja …»

«Bis dann.»

Wir trennten uns, weil wir uns selbst ein bisschen leid wa­ren. Wir mussten durch dieselbe Tür, deshalb ließ ich mir beim Bezahlen Zeit, damit er vorausgehen konnte. Ich folgte ihm langsam, um ihn nicht einzuholen oder am Eingang un­ten mit ihm zusammenzustoßen. Vorsichtig trat ich auf den Trottoir und bog nach rechts und dann wieder nach rechts ab, Richtung Bärenplatz. Die Sonne steckte hinter dicken, schweren Wolken fest. Es war ein kühler, feuchter Tag. Ich kam am Grotto vorbei und sah mit leeren Augen die Menschen an, die dort saßen und mich mit leeren Augen ansahen. Es wird regnen, dachte ich. Ja, es wird regnen, noch ehe es Abend wird … so wie in den letzten beiden Wochen auch … Ich ging durch den mittleren Torbogen des Bundeshauses und bemerkte, dass der riesige Kronleuchter in der Lobby noch brannte. Ich stieg die Steintreppe zur Terrasse hinunter, an den Geranientöpfen vorbei. Alte Männer und Frauen und Frauen mit Kindern saßen auf grauen Bänken und schauten über die grauen Mauern der Terrasse auf den Gurten, der von Dunst umhüllt war. Man konnte ihn kaum erkennen. Die Aare hingegen wirkte metallisch-grün, als sie sich einen Weg durch die Bäume bahnte und dann rasch verschwand! Auf der linken Seite schob sich der Verkehr träge über die Kirchenfeldbrücke. Englische Touristen in Sandalen schlenderten mit ihren uralten Boxkameras über den Schultern ein wenig arrogant an mir vorbei. Ich setzte mich auf eine Bank und dachte erneut darüber nach, wie ich die Frage beantworten sollte …

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9783038552406
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