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VII. Der Angekommene trifft Maßregeln, um wieder umzukehren

Es war nahe an acht Uhr Abends, als die Halbkutsche, die wir bis dicht vor ihren Bestimmungsort begleitet hatten, in den Thorweg des Postgebäudes zu Arras einfuhr. Madeleine stieg aus, gab auf die diensteifrigen Fragen der Kellner zerstreute Antworten, schickte das Aushülfspferd zurück und führte persönlich den Schimmel in den Stall; dann stieß er die Thür eines Billardsaales im Erdgeschoß auf, setzte sich und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Er hatte statt sechs Stunden vierzehn zu dieser Reise gebraucht. Es war nicht seine Schuld, das durfte er sich sagen; aber in seines Herzens Grunde bedauerte er es nicht.

Die Wirtin kam herein und fragte:

»Bleibt der Herr die Nacht hier? Will der Herr hier speisen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber der Stallknecht sagt, daß dem Herrn sein Pferd sehr müde ist.«

Jetzt brach er das Stillschweigen:

»Wird das Pferd nicht morgen früh wieder reisefähig sein?«

»Bewahre! Das Thier braucht mindestens zwei Tage Ruhe.«

»Ist das hier nicht das Postbüreau?«

»Ja, mein Herr.«

Die Wirthin führte ihn nach dem Büreau hin. Er zeigte seinen Paß vor und erkundigte sich, ob es sich möglich machen ließe, noch in derselben Nacht nach Montreuil-sur-Mer zurückzukehren. Da der Platz neben dem Kurier gerade noch nicht besetzt war, so belegte er ihn und bezahlte. »Mein Herr,« ermahnte ihn der Beamte, »seien Sie recht pünktlich. Die Abfahrt findet Punkt ein Uhr Nachts statt.«

Nachdem er dies besorgt, verließ er das Hotel und wanderte die Straßen entlang.

Er war in Arras nicht bekannt und ging in der Dunkelheit auf's Gerathewohl vor sich hin. Es hatte den Anschein, als wolle er durchaus nicht nach dem Wege fragen. Er ging über den kleinen Fluß Crinchon und gerieth in einen Wirrwarr von engen Gassen, wo er sich verirrte. Da sah er einen Herrn mit einer Stocklaterne und bequemte sich dazu, diesen zu fragen, sah sich aber erst nach allen Seiten um, als fürchte er, Jemand könne seine Frage mit anhören.

»Verzeihung, wie komme ich hier nach dem Gerichtsgebäude?«

»Sie sind nicht von hier, mein Herr,« antwortete der Angeredete, der ein ziemlich bejahrter Mann war. »Kommen Sie mit mir. Ich gehe gerade in die Gegend, wo das Gerichtsgebäude, d. h. die Präfektur, gelegen ist. Das Gerichtsgebäude wird nämlich jetzt reparirt, und vorläufig werden die Gerichtssitzungen im Präfekturgebäude abgehalten.«

»Dort tagt doch auch das Schwurgericht?«

»Gewiß, mein Herr. Was nämlich gegenwärtig die Präfektur ist, das war vor der Revolution der bischöfliche Palast. Herr de Conzié, der 1782 Bischof war, hat dazumal einen großen Saal darin bauen lassen, und in dem Saal werden jetzt die Verhandlungen geführt.«

Unterwegs bemerkte Madeleines Führer im Laufe des Gesprächs:

»Wenn der Herr einem Prozeß beizuwohnen wünscht, so ist es ein wenig spät dazu. Gewöhnlich sind die Sitzungen um sechs Uhr aus.

Als sie indessen auf dem großen Platz ankamen, wies der Herr auf vier hohe Fenster eines düstern Gebäudes, die erleuchtet waren.

»Sieh Einer an! Sie kommen noch zurecht! Sie haben Glück. Die vier Fenster da gehören zu dem Saal, wo das Schwurgericht seine Sitzung hält. Sie sind hell. Also ist die Verhandlung noch nicht zu Ende. Die Sache wird sich in die Länge gezogen haben, und nun halten sie eine Abendsitzung. Sie interessiren Sich für die Sache? Ist es ein Kriminalprozeß? Sind Sie als Zeuge vorgeladen?«

Er antwortete:

»Ich komme nicht wegen eines Prozesses. Ich wollte nur einen Rechtsanwalt sprechen.«

»Das ist was Andres. Die Thür da, wo die Schildwache steht. Sie brauchen dann blos die große Treppe hinaufzugehn.«

Er folgte der Weisung und befand sich nach wenigen Minuten in dem Saal, wo viel Leute waren und Zuhörer aus dem Publikum sich hier und da leise mit Anwälten unterhielten.

Es schnürt einem immer das Herz zusammen, wenn man diese schwarz gekleideten Männer in Gerichtssälen beisammen sieht. Wie selten sind Erbarmen und Mitleid das Ergebniß solcher Gespräche! Statt dessen fast immer im Voraus beschlossene Verurtheilungen. Der Beobachter denkt leicht an Hummeln, die mit Gebrumm in der Erde dunkle Gänge wühlen.

Der Raum, in dem er sich befand, und der nur von einer Lampe erleuchtet wurde, war nur ein Vorzimmer. Eine, in dem Augenblick, verschlossene, zweiflügelige Thür trennte ihn von dem Saal, wo das Schwurgericht seine Sitzung abhielt.

Die Dunkelheit war so groß, daß Madeleine kein Bedenken trug, sich an den ersten Advokaten zu wenden, dem er gerade begegnete:

»Wie weit ist die Verhandlung gediehen, wenn ich fragen darf?«

»Sie ist zu Ende.«

»Zu Ende!«

Dies kam mit solcher Betonung heraus, daß der Advokat sich umwendete:

»Verzeihung, mein Herr, Sie haben wohl ein persönliches Interesse an dem Fall?«

»Nein, ich kenne Niemand hier. Hat es eine Verurteilung gegeben?«

»Gewiß. Anders konnte die Sache nicht werden.«

»Zuchthaus?«

»Auf Lebenszeit«

Mit so schwacher Stimme, daß man ihn kaum verstehen konnte, fuhr Madeleine fort:

»Seine Identität ist also festgestellt worden?«

»Was für eine Identität?« Es handelte sich überhaupt nicht um dergleichen. Die Sache lag sehr einfach. Die Frau hatte ihr Kind umgebracht, der Kindesmord ist nachgewiesen worden, die Geschworenen haben die Frage, ob die That vorsätzlich war, verneint und sie auf Lebenszeit verurtheilt.

»Also eine Frau?«

»Ja freilich. Die unverehelichte Limosin. Wovon sprachen Sie eigentlich?«

»Wenn die Verhandlung aber zu Ende ist, wie kommt es dann, daß noch Licht im Saal ist?«

»Das betrifft die andre Verhandlung, die vor ungefähr zwei Stunden angefangen hat.«

»Welche andre Verhandlung?«

»O, auch ein Fall, der klar genug ist. Da handelt es sich um einen rückfälligen Verbrecher, einen ehemaligen Galeerensklaven, der einen Diebstahl begangen hat. Auf seinen Namen kann ich mich jetzt nicht besinnen. Sieht der Kerl banditenmäßig aus! Den würde ich blos seiner Physiognomie wegen zu Zuchthaus verdonnern.«

»Verzeihung, kann man wohl in den Saal hineingelangen?«

»Kaum. Der Andrang ist ein gar zu starker. Aber jetzt ist ein Teil Leute weggegangen. Wenn die Sitzung wieder aufgenommen wird, können Sie es versuchen.«

»Wo ist der Eingang?«

»Die große Thür da!«

Der Rechtsanwalt ging davon. Während der wenigen Augenblicke, die das Gespräch gedauert hatte, waren alle nur möglichen Empfindungen fast zu gleicher Zeit auf den unglücklichen Madeleine eingestürmt. Die Worte des Advokaten hatten ihm abwechselnd wie Eisnadeln und glühendes Eisen das Herz durchbohrt. Als er erfuhr, daß die Sache noch nicht zum Abschluß gediehen war, athmete er auf; aber er hätte nicht angeben können, ob ihm bei dieser Kunde wohl oder wehe um's Herz war.

Er näherte sich mehreren Gruppen und hörte, was man sich erzählte. Da in dieser Sitzungsperiode sehr viel Prozesse zu erledigen waren, so hatte der Vorsitzende für den heutigen Tag zwei einfache Fälle angesetzt. Mit dem Kindsmord hatte man angefangen und jetzt beschäftigte man sich mit dem Rückfälligen. Der Mann sollte Aepfel gestohlen haben; aber für diese Beschuldigung waren keine ausreichenden Beweise erbracht; nur das war jetzt festgestellt, daß er schon im Zuchthause zu Toulon gesessen hatte. Das verschlimmerte seine Sache. Uebrigens war das Verhör des Angeklagten und die Vernehmung der Zeugen beendigt; aber die Rede des Vertheidigers und des Staatsanwalts mußte noch gehört werden; vor Mitternacht konnte die Sache nicht vorbei sein. Der Kerl wurde ganz gewiß verurtheilt; denn der Staatsanwalt war ein schneidiger Mann, dem die Angeklagten nicht so leicht entschlüpften. Ein gescheidter Mann, der dichtete!

Madeleine fragte den Gerichtsboten, der vor der Eingangsthür des Schwurgerichtssaales stand:

»Wird die Thür bald aufgemacht?«

»Sie wird überhaupt nicht aufgemacht werden.«

»Wie! Sie wird nicht aufgemacht, wenn die Verhandlung beginnt? Sie ist doch jetzt unterbrochen?«

»Die Verhandlung hat schon wieder angefangen, aber die Thür wird nicht wieder aufgemacht.«

»Warum?«

»Weil der Saal schon überfüllt ist.«

»Was? Kein Platz mehr?«

»Kein einziger. Die Thür ist zu. Es darf Niemand mehr hinein.«

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Zwei oder drei Plätze hinter dem Herrn Vorsitzenden sind wohl noch frei, aber die vergiebt der Herr Vorsitzende nur an hohe Beamte.«

Mit diesen Worten drehte ihm der Gerichtsbote den Rücken zu.

Madeleine ging mit gesenktem Haupte davon, durch das Vorzimmer hindurch und die Treppe hinunter mit langsamen Schritten, als zaudere er. Offenbar pflog er Rath mit sich selber. Der heftige Kampf, der seit dem Tage vorher in seinem Innern tobte, war noch nicht zu Ende und nahm in jedem Augenblick nur eine neue Form an. Als er auf dem Treppenabsatz angelangt war, lehnte er sich an das Geländer und kreuzte die Arme über die Brust. Plötzlich knöpfte er seinen Rock auf, zog sein Portefeuille hervor, entnahm ihm einen Bleistift, riß ein Blatt ab und schrieb bei dem Licht der Laterne: Madeleine, Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer. Dann stieg er eilig die Treppe wieder hinauf, drängte sich durch das Publikum an den Gerichtsboten heran und sagte mit gebieterischem Ton: »Ueberbringen Sie diesen Zettel dem Herrn Vorsitzenden.«

Der Gerichtsbote nahm den Zettel in Empfang, warf einen Blick darauf und gehorchte.

VIII. Eine Vergünstigung

Der Bürgermeister war, ohne daß er eine rechte Ahnung davon hatte, eine Art Berühmtheit. Nachdem die ganze Gegend um Boulogne seines Lobes voll geworden, verbreitete sich der Ruf seiner Tüchtigkeit und Herzensgüte auch über die drei oder vier angrenzenden Departements. Abgesehen von dem großen Verdienst, daß er in dem Hauptorte seiner Gegend die Glasindustrie in Flor gebracht hatte, gab es unter den hunderteinundvierzig Kommunen des Arrondissements Montreuil-sur-Mer nicht eine, die ihm nicht irgend eine Wohlthat verdankte. So hatte er seiner Zeit mit seinem Kredit und seinem Kapital die Tüllfabrik in Boulogne, die Flachsspinnerei zu Frévent und die hydraulische Leinwandfabrik in Boubers-sur-Canche gehalten. Ueberall sprach man den Namen des Herrn Madeleine mit Hochachtung aus. Arras und Douais beneideten das glückliche kleine Montreuil-sur-Mer um seinen Bürgermeister.

Der Gerichtsrath, der während dieser Sitzungsperiode in Arras den Vorsitz führte, kannte wie jeder Andere den Namen des so hoch und so allgemein verehrten Mannes. Als daher der Gerichtsbote leise die Thür öffnete, sich von hinten über den Stuhl des Vorsitzenden beugte und ihm den erwähnten Zettel überreichte, mit den Worten: »Der Herr wünscht der Sitzung beiwohnen zu dürfen«, nickte der Vorsitzende lebhaft und mit einem Ausdruck der Hochachtung, ergriff eine Feder, schrieb einige Worte auf den Zettel und übergab ihn dem Gerichtsboten mit der Weisung: »Ersuchen Sie den Herrn Bürgermeister näher zu treten.«

Der Unglückliche, dessen Geschichte wir erzählen, war mittlerweile an derselben Stelle und in derselben Haltung stehen geblieben. Da wurde er aus seinen Gedanken durch eine Stimme geweckt, die zu ihm sagte: »Wollen der Herr Bürgermeister mir die Ehre erweisen und mir folgen?« Es war derselbe Gerichtsbote, der ihm kurz zuvor den Rücken zugedreht und der sich jetzt bis zur Erde verneigte, indem er ihm den Zettel überreichte. Madeleine faltete ihn auseinander und las bei dem Schein der Lampe, in deren Nähe er gerade stand, die Worte: »Der Vorsitzende des Schwurgerichts heißt den Herrn Bürgermeister mit ergebender Hochachtung willkommen.«

Er zerknitterte das Papier in seiner Hand, als enthielten diese Worte für ihn einen herben, unangenehmen Sinn.

Dann folgte er dem Gerichtsboten.

Ein paar Minuten nachher stand er allein in einem von zwei Kerzen erleuchteten, mit Tafelwerk verkleideten Kabinett von strengem Aussehen. Noch klangen ihm die Worte des Gerichtsboten in den Ohren: »Der Herr Bürgermeister befinden Sich im Berathungszimmer. Sie brauchen blos die Thür da aufzuklinken, so befinden Sie Sich in dem Sitzungssaal hinter dem Stuhl des Herrn Vorsitzenden.« Mit diesen Worten vermischte sich noch eine unklare Erinnerung an enge Treppen und dunkele Korridore, durch die er so eben hindurchgekommen.

Der Gerichtsbote hatte ihn also allein gelassen, und der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Er bemühte sich jetzt seine Gedanken zu sammeln, aber vergeblich. Denn gerade, wenn man sie am nöthigsten braucht, um sie mit der Wirklichkeit zu verknüpfen, reißen die Fäden der Ideen im Gehirn. Madeleine befand sich jetzt an dem Ort selber, wo die Richter berathen und verurtheilen. Er sah sich mit stumpfer Gemüthsruhe in diesem stillen und fürchterlichen Zimmer um, wo so viele Existenzen vernichtet worden waren, wo bald sein Name ausgesprochen werden, in dem sein Geschick an einen Wendepunkt gelangen sollte. Er sah die Wände, sah sich selber an und staunte, daß er hier stand.

Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts genossen, und war auf den holprigen Wegen empfindlich gerüttelt worden; aber er fühlte jetzt keinen Hunger, keine Müdigkeit, überhaupt nichts.

An der Wand hing in einem schwarzen Rahmen und unter Glas ein alter Brief von Jean Nicolas Pache, Bürgermeister von Paris und Minister, wohl irrthümlich vom 9. Juni des Jahres 2 datirt, worin Pache der Commune das Verzeichniß der bei ihm in Haft gehaltnen Minister und Abgeordneten übersandte. Diesen Brief studierte Madeleine, und wer ihn dabei hätte beobachten können, würde leicht auf den Gedanken gekommen sein, er müsse ihn sehr interessiren, denn Madeleine verwandte kein Auge davon und las ihn zwei bis drei Mal durch. Gleichwohl verstand er nicht, was er las. Er dachte in dem Augenblick an Fantine und Cosette.

In diese Gedanken versunken wandte er sich von dem Briefe ab, und sein Blick fiel auf die Thür, die ihn von dem Sitzungssaal trennte. Er hatte sie so gut wie vergessen. Bei diesem Anblick wurden seine Augen allmählich starr und nahmen einen Ausdruck der Bestürzung – des Entsetzens an. Angstschweiß trat zwischen seinen Haaren hervor und rieselte über seine Schläfen herab.

Einen Augenblick machte er mit Entschiedenheit jene Gebärde, die da bedeutet: Bin ich denn dazu gezwungen? Dann wandte er sich rasch um, sah die Thür, zu der er hereingekommen, ging darauf zu und eilte hinaus. Jetzt war er nicht mehr in dem Schreckenszimmer, sondern draußen, in einem langen schmalen Korridor mit Treppenstufen und Schaltern, wo Laternen ein trübes Licht verbreiteten, demselben, wo er eben hergekommen war. Er athmete auf, lauschte. Kein Geräusch vorn noch hinten. Nun rannte er, als hätte er Verfolger hinter sich.

Als er um mehrere Ecken herumgebogen war, horchte er wieder. Immer noch dieselbe Stille und dasselbe düstere Halbdunkel. Er war außer Athem und schwankte, so daß er sich an die Wand anlehnen mußte. Die Steine waren kalt, der Schweiß auf seiner Stirn eisig, und er richtete sich wieder auf, indem ihn schauderte.

Hier stand er nun, bebend vor Kälte und wohl noch aus einem andern Grunde, und sann nach.

Die ganze Nacht, den ganzen Tag über hatte er so gesonnen, und jetzt hörte er in seinem Innern nur noch eine Stimme, die zu ihm sprach: »Es muß sein!«

So verfloß eine Viertelstunde. Endlich senkte er den Kopf auf die Brust, seufzte qualvoll, ließ die Arme hängen und kehrte um, langsam und überwältigt von seinem Schmerz. Es war, als hätte ihn ein Verfolger auf der Flucht eingeholt und bringe ihn jetzt zurück.

Er ging also nach dem Berathungszimmer zurück. Das Erste, worauf sein Blick fiel, war die glänzende Klinke, die ihm wie ein Unglücksstein in die Augen leuchtete. Er sah sie an, wie ein Lamm in das Auge eines Tigers blickt.

Er konnte die Blicke nicht davon abwenden.

Ab und zu that er einen Schritt und kam näher heran.

Hätte er aufgehorcht, so wäre aus dem Saale nebenan ein verworrenes Gesumme an sein Ohr gedrungen; aber er hörte nicht hin.

Endlich, ohne zu wissen wie, stand er vor der Thür, griff krampfhaft nach der Klinke und öffnete die Thür.

Er befand sich in dem Sitzungssaal.

IX. Ein Ort, wo man sich eine Überzeugung bildet

Madeleine trat vor, machte mechanisch die Thür hinter sich zu und blieb stehen, um in dem Saale Umschau zu halten.

Es war ein großer schwach erleuchteter, bald mit Lärm erfüllter, bald stiller Raum, wo die Gerechtigkeit in ärmlicher und schauriger Majestät mitten unter dem Volke prangte.

An dem einen Ende des Saales, wo er selber stand, zerstreute Richter im abgetragenen Amtskleid, mit dem Abknabbern ihrer Nägel oder mit Schlafen beschäftigt; an dem anderen Ende zerlumpter Pöbel; Advokaten in allen möglichen Stellungen; Soldaten mit ehrlichen und groben Gesichtern dazu; altes fleckiges Getäfel; ein schmutziger Plafond; einige mit gelb gewordener, grüner Sersche überzogene Tische; schmuddlige Thüren; mit Nägeln in dem Getäfel befestigte Lampen, die mehr Rauch, als Helligkeit verbreiteten; auf den Tischen Talglichter in kupfernen Leuchtern; Mangel an Licht, an Zierrath, an Heiterkeit, und darüber waltete die strenge Erhabenheit des von Menschen geschaffenen Gesetzes und der von Gott gewollten Gerechtigkeit.

Niemand beachtete ihn. Alle Augen waren auf einen Punkt gerichtet, eine, an eine kleine Pforte gelehnte Bank, linker Hand von dem Stuhl des Vorsitzenden. Aus dieser Bank, die von mehreren Talglichtern beleuchtet war, saß ein Mann zwischen Gendarmen.

Dieser Mann war »Er.«

Madeleine sah ihn, ohne daß er ihn zu suchen brauchte. Seine Augen richteten sich von selbst dahin, als hätten sie gewußt, wo er saß.

Madeleine glaubte sich selber zu sehen, gealtert, allerdings nicht dasselbe Gesicht, aber dieselbe Haltung und dieselbe Erscheinung, dasselbe starre Haar, derselbe scheue und wilde Ausdruck der Augen, derselbe Kittel; kurz so, wie er damals in Digne umherirrte, mit haßerfülltem Herzen.

Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß er wieder so werden könne.

Der Mensch sah aus, als sei er mindestens sechzig Jahre alt. Zudem roh, stumpf, verschüchtert.

Als Madeleine eintrat, waren Alle ausgewichen, ihm Platz zu machen. Der Präsident hatte sich umgewendet, und da er errieth, daß der Ankömmling der Herr Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer sei, sich verneigt. Der Staatsanwalt, den öfters Amtsgeschäfte mit ihm zusammenführten, erkannte ihn und verneigte sich gleichfalls. Er beachtete das kaum. War er doch gleichsam von Traumnebeln umsponnen und mit dem Schauspiel vor ihm beschäftigt.

Richter, Gerichtsschreiber, Gendarmen, grausame Zuschauer, das hatte er schon einmal gesehen, ehemals, vor siebenundzwanzig Jahren. Diese Schrecknisse fand er jetzt wieder; sie waren da vor ihm, sie existirten. Nicht eine Arbeit seines Gedächtnisses hatte sie da hingezaubert, es waren wirkliche Gendarmen und Richter, wirkliche Zuschauer, Menschen aus Fleisch und Blut. Damit lebte seine ganze gräßliche Vergangenheit wieder auf; der alte Abgrund gähnte ihm entgegen.

Er schrak zurück, drückte die Augen zu und rief in seinem innersten Herzen: »Nun und nimmermehr!«

Und die Tragik seines Geschicks, die alle seine Gedanken bis zum Wahnsinn verwirrte, fügte es, daß ein anderes Ich von ihm da vor ihm saß! Den Mann auf der Anklagebank nannten Alle Jean Valjean!

Vor seinen Augen führte sein Phantom ein ungeheuerliches Schauspiel auf, das den schrecklichsten Augenblick seines Lebens darstellte.

Alles war hier wieder vertreten, dasselbe Gepränge, dieselbe nächtliche Stunde, fast dieselben Gesichter. Nur daß über dem Präsidenten ein Kruzifix hing, was zur Zeit seiner Verurtheilung nicht der Brauch war. Als sein Urtheil gefällt wurde, war Gott nicht da.

Entsetzt über den Gedanken, daß man ihn sehen könnte, sank er auf einen Stuhl nieder, der hinter ihm stand, und machte sich einen Haufen auf einander geschichteter Cartons, die auf dem Tisch der Richter lagen, zu Nutze, um sein Gesicht zu verstecken. Er konnte jetzt sehen, ohne gesehen zu werden. Allmählich erholte er sich von seinem Schrecken, bekam wieder Fühlung mit der Wirklichkeit und wurde ruhiger, so daß er der Verhandlung folgen konnte.

Unter den Geschwornen erblickte er Bamatabeis.

Er sah sich auch nach Javert um, konnte ihn aber nicht entdecken, weil ihm der Tisch des Gerichtsschreibers die Bank, auf der die Zeugen saßen, verdeckte. Zudem war, wie schon erwähnt, der Saal mangelhaft erleuchtet.

Als Madeleine hereinkam, war der Rechtsbeistand des Angeklagten gerade mit seiner Rede fertig geworden. Die allgemeine Aufmerksamkeit war aufs äußerste gespannt. Seit drei Stunden häufte sich eine erschreckliche Anzahl von Beweismomenten auf dem Haupte jenes unbekannten Menschen, jenes verkommenen, entweder überaus stumpfsinnigen oder überaus pfiffigen Patrons. Der Mann war, wie wir schon gesagt haben, ein Strolch, den man auf einem Felde aufgegriffen hatte, als er aus einem benachbarten Garten einen Ast voll reifer Aepfel davon trug. Wer war dieser Mensch? Erhebungen waren angestellt, Zeugen waren vernommen worden; die Aussagen stimmten überein, die ganzen Erörterungen hatten Klarheit geschafft. Die Anklagebehörde sagte: »Wir haben hier nicht blos einen Apfeldieb vor uns, sondern einen Räuber, einen bannbrüchigen, rückfälligen Verbrecher, einen ehemaligen Zuchthausinsassen, ein überaus gefährliches Subjekt, einen Uebelthäter Namens Jean Valjean. auf den die Gerechtigkeit seit langer Zeit fahndet, und der vor acht Jahren, als er eben aus dem Zuchthaus entlassen war, auf öffentlicher Landstraße einen kleinen Savoyarden Namens Gervais mit bewaffneter Hand beraubt hat, ein § 383 des Strafgesetzbuches vorgesehenes Verbrechen, für das er sich späterhin zu verantworten haben wird, wenn erst die Frage nach der Identität des Angeklagten gelöst ist. Er hat sich eines neuen Diebstahls schuldig gemacht. Also handelt es sich hier um einen Rückfall. Verurteilen Sie ihn wegen des letzten Vergehens; der ältere Fall möge später abgeurtheilt werden. – Diese Anklagen, diesen Zeugenaussagen gegenüber nahm der Angeklagte eine verdutzte Miene an, machte Gebärden, die Nein bedeuten sollten, oder er blickte zur Decke empor. Das Sprechen wurde ihm schwer, seine Antworten bekundeten Verlegenheit, aber von Kopf bis zu Fuß war sein ganzes Wesen eine einzige Ableugnung. Er saß wie ein Blödsinniger unter all diesen Feinden, die mit ausgesuchter Schlauheit Armeen von Gründen gegen ihn ins Feld führten, und wie ein Fremder in der Gesellschaft, die über ihn herfallen wollte. Dabei drohte ihm die äußerste Gefahr, die Wahrscheinlichkeit erklärte sich mehr und mehr gegen ihn, und Alle erwarteten mit mehr Spannung, als er selber, ein schreckliches Urtheil. Stand ihm doch möglicher Weise nicht etwa blos das Zuchthaus, sondern sogar die Todesstrafe bevor, wenn die Identitätsfrage gegen ihn entschieden wurde, und wenn der Fall Gervais mit einer Verurtheilung endete. Welcher Art in aller Welt war der Stumpfsinn dieses Menschen? Schwachsinn oder Pfiffigkeit? Begriff er die Sache zu gut oder gar nicht? Alles Fragen, die von dem Publikum und, allem Anschein nach, auch von den Geschwornen verschieden beantwortet wurden. Dieser Prozeß hatte nicht nur etwas Furchtbares, sondern auch Räthselhaftes; die Entwicklung des Dramas war nicht blos eine grausige, sondern auch eine unklare.

Der Vertheidiger des Angeklagten hatte also schon seine Rede gehalten, eine Rede in jenem feierlichen und pompösen Stil, dessen sich ehemals alle Advokaten bedienten und der heutzutage nur noch bei den Staatsanwälten beliebt ist. – Der Vertheidiger also hatte sich über den Apfeldiebstahl des Weiteren ausgelassen, einen simplen Gegenstand, zu dessen Erörterung elegante Floskeln nicht paßten; aber Bénigne Bossuet selber hat einst, mitten in einer hochfeierlichen Leichenrede, eine Anspielung auf ein vulgäres Huhn machen müssen und mit Pomp die schwierige Aufgabe gelöst. Der Verteidiger hatte gezeigt, daß der Diebstahl nicht materiell bewiesen war. Sein Klient, den er als Vertheidiger mit gutem Bedacht Champmathieu nannte, war von Niemand bei dem angeblichen Einbruch in den Garten gesehen worden. Man hatte den Zweig in seinem Besitz gefunden, aber er behauptete, der Zweig habe an der Erde gelegen, und er habe ihn einfach aufgehoben. Wo sei ein Beweis für das Gegentheil? Gewiß war der Zweig von einem Diebe, der über die Mauer geklettert war, abgerissen und dann weggeworfen worden. Aber womit beweise man, daß Champmathieu dieser Dieb war? Nur mit dem Umstande, daß er ehemals im Zuchthaus gesessen habe. Der Rechtsanwalt leugnete nicht, daß diese Thatsache leider richtig erwiesen sei. Denn der Angeklagte sei in Faverolles wohnhaft gewesen, habe das Handwerk eines Baumputzers betrieben; auch könne der Name Champmathieu sehr wohl aus Jean Mathieu umgewandelt sein; alles dies sei richtig; endlich hätten vier Zeugen mit Sicherheit in Champmathieu den Sträfling Jean Valjean wiedererkannt; diesen Ermittelungen und Aussagen könne er, der Vertheidiger, nur die Thatsache gegenüberstellen, daß sein Klient Alles bestreite. Zwar habe er ein Interesse daran, zu leugnen. Aber gesetzt auch, er sei der Sträfling Jean Valjean, wäre damit bewiesen, daß er die Aepfel gestohlen habe? Das sei doch nur eine Muthmaßung; keinesfalls ein Beweis. Allerdings, das müsse er, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gestehen, daß der Angeklagte ein schlechtes Vertheidigungssystem angenommen habe. Er leugne hartnäckig Alles, daß er den Diebstahl begangen, und daß er ein ehemaliger Galeerensklave sei. Das Eingeständnis letzterer Thatsache wäre vernünftiger gewesen und würde ihm Ansprüche auf die Nachsicht der Richter verschaffen; er habe ihm auch dazu gerathen; aber Angeklagter habe sich dessen hartnäckig geweigert, in der Meinung, er könne Alles retten, wenn er nichts gestehe. Das sei unrecht; aber solle man nicht Rücksicht nehmen auf die Unzulänglichkeit seiner Intelligenz? Die lange Haft im Zuchthaus, das lange Elend nachher hätten den Unglücklichen abgestumpft, verthiert. U.s.w., u.s.w. Angeklagter vertheidige sich schlecht; sei dies aber ein Grund ihn zu verurteilen? Was den Fall Gervais betreffe, so befasse er sich nicht damit, da er nicht zur Sache gehöre. Der Vertheidiger beschloß also seine Rede mit einer inständigen Bitte an die Geschworenen und den Gerichtshof, sie möchten, wenn ihnen Jean Valjeans Identität gehörig erwiesen scheine, über ihn die Polizeistrafen als bannbrüchigen Verbrecher verhängen, nicht aber die entsetzliche Strafe, die rückfällige Verbrecher trifft.

Jetzt antwortete der Staatsanwalt dem Vertheidiger in einer energischen und blumenreichen Rede, nach Art aller Staatsanwälte.

Er wünschte dem Vertheidiger Glück zu seiner »Aufrichtigkeit« und machte sie sich weidlich zu Nutze. Aus allen Zugeständnissen seines Vorredners schmiedete er sich Waffen gegen den Angeklagten. Der Vertheidiger gebe offenbar zu, daß der Angeklagte Jean Valjean sei. Dies nahm er ad notam. Der Angeklagte sei also Jean Valjean. Dieser Punkt sei hiermit erwiesen und lasse sich nicht mehr anfechten. Hier schweifte der Herr Staatsanwalt mittels einer geschickten Antonomasie vom Thema ab, indem er auf die Quellen und Ursachen der Verbrechen zu sprechen kam, und donnerte machtvoll gegen die Unsittlichkeit der Romantiker, denen die Kritiker der Quotidienne und der Oriflamme den Titel »satanische Schule« angehängt hatten. Auf den Einfluß dieser schändlichen Schriftsteller führte er mit einer großartigen Logik Champmathieus oder richtiger Jean Valjeans Vergehen zurück. Nach gründlicher Erörterung dieses Punktes ging er zu Jean Valjeans Persönlichkeit über. Beschreibung Jean Valjeans: »Ein Ungeheuer, wie die Hölle nie ein scheußlicheres ausgespieen« u.s.w. Frei nach Racine, dessen berühmte Episode zwar für den Gang der betreffenden Tragödie überflüssig ist, der gerichtlichen Beredtsamkeit aber als eine unschätzbare Fundgrube tagtäglich schätzbare Dienste leistet. Selbstredend erbebten auch Publikum und Geschworene bei dieser schönen Charakterisirung Jean Valjeans. Darauf eine schwungvolle Wendung, die im höchsten Grade geeignet war, dem Redner die Bewunderung des Journal de la Préfecture zu sichern: Und ein solcher Mensch u.s.w. u.s.w., ein Landstreicher, ein Bettler u.s.w. u.s.w., ohne Existenzmittel u.s.w., der durch sein Vorleben zu allen Schandthaten fähig geworden und durch seinen Aufenthalt im Zuchthaus nicht gebessert ist, wie das an dem kleinen Gervais begangene Verbrechen sattsam beweist, u.s.w. u.s.w., ein solcher, beim Diebstahl auf frischer That, in der Nähe der soeben überkletterten Gartenmauer, im Besitz des Diebstahlsobjektes ertappter Mensch leugnet das delictum fragrans, Diebstahl, Einbruch, leugnet Alles, leugnet seinen Namen, seine Identität. Hundert anderer Beweise, auf die wir nicht mehr zurückkommen, zu geschweigen, erkennen ihn vier Zeugen wieder, Javert, der pflichtgetreue Polizei-Inspektor Javert, und drei von den ehemaligen Genossen seiner Schande, Brevet, Chenildieu und Cochepaille. Was setzt er dieser erdrückenden Einstimmigkeit entgegen? Er streitet Alles ab. Welche Verstocktheit! Meine Herren Geschworenen, ich lebe und sterbe der Ueberzeugung, Sie werden den Arm der Gerechtigkeit nicht aufhalten wollen u.s.w. u.s.w. Dieser Rede hörte der Angeklagte mit offenem Munde, höchlich erstaunt und nicht ohne eine gewisse Bewunderung zu. Es überraschte ihn augenscheinlich, daß Jemand so schön reden könne. Hin und wieder, bei den »energischsten« Stellen, wenn der sittliche Unwille des Staatsanwalts überquoll und eine Fluth kräftiger Schimpfworte über den Angeklagten ergoß, wiegte Dieser langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, eine Art schwermüthiger und stummer Protest, mit dem er sich seit dem Anfang der Verhandlung begnügte. Zwei oder drei Mal hörten die ihm zunächst saßen, wie er halblaut sagte: Das kommt davon, daß er Herrn Baloup nicht gefragt hat! – Auf dieses stumpfsinnige, offenbar berechnete Verhalten machte der Staatsanwalt die Geschworenen auch aufmerksam. Es bekunde nicht etwa Dummheit, nein! Schlauheit, List, seine Gewohnheit, die Gerechtigkeit zu hintergehen und lege die »tiefe Verderbtheit« dieses Menschen zu Tage. Er endigte mit einem Vorbehalt bezüglich des Falles Gervais und beantragte eine strenge Verurtheilung, also lebenslängliches Zuchthaus.

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