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Achtes Buch. Der Rückschlag

I. In was für einem Spiegel Madeleine sein Haar ansieht

Der Morgen graute. Fantine hatte die Nacht über gefiebert und nicht geschlafen, aber doch umgaukelt von heitern Zukunftsbildern; gegen Morgen schlief sie endlich ein. Schwester Simplicia, die bei ihr gewacht hatte, benutzte die Gelegenheit, um einen neuen Trank zu bereiten. Die Wackre befand sich seit einigen Minuten im Laboratorium und beugte sich sehr tief über ihre Arzneien und Fläschchen, weil sie wegen der Dunkelheit nicht deutlich sehen konnte. Plötzlich wandte sie den Kopf seitwärts und stieß einen leisen Schrei aus. Madeleine stand vor ihr. Er war ganz still hereingekommen.

»Sie, Herr Bürgermeister!«

Er fragte leise:

»Wie geht es der Armen?«

»Augenblicklich nicht schlecht. Aber sie hat uns nicht wenig Sorge gemacht!«

Sie setzte ihm auseinander, was vorgegangen war. Fantine sei am Tage zuvor sehr krank gewesen; jetzt aber ginge es besser, weil sie glaubte, der Herr Bürgermeister sei gegangen, ihr Kind aus Montfermeil zu holen. Die Schwester getraute sich nicht, den Herrn Bürgermeister zu fragen; aber sie sah ihm an, daß er nicht dorther kam.

»Das ist recht,« bemerkte er. »Sie haben gut daran gethan, sie nicht eines andern zu belehren.«

»Ja, aber jetzt, wo sie den Herrn Bürgermeister ohne ihr Kind sehen wird, – was fangen wir da an?«

Er sann einen Augenblick nach.

»Gott wird uns etwas eingeben.«

»Man könnte aber doch nicht lügen,« erwiederte halblaut die Schwester.

Mittlerweile war es in dem Zimmer heller geworden, und das Tageslicht fiel gerade auf Madeleines Gesicht. Da hob zufälliger Weise die Schwester ihre Augen auf.

»Um Gottes Willen, Herr Bürgermeister! Was ist mit Ihnen vorgegangen, daß Ihr Haar ganz weiß geworden ist?«

»Weiß?« wiederholte er.

Schwester Simplicia hatte keinen eigenen Spiegel. Sie entnahm daher einen dem Besteck des Arztes, und überreichte ihn Madeleine. Dieser betrachtete sich darin und sagte:

»Sieh da!«

Aber so gleichgültig und leichthin, als denke er an etwas Andres.

Die Schwester ahnte, daß etwas Furchtbares vorgefallen sein mußte, und ein kalter Schauer überlief sie.

»Kann ich jetzt zu ihr?« fragte er nun.

»Werden der Herr Bürgermeister nicht das Kind zurückholen lassen?« forschte die Schwester furchtsam.

»Ja freilich, aber dazu gehören mindestens zwei bis drei Tage.«

»Wenn sie den Herrn Bürgermeister bis dahin nicht zu sehen bekäme, so würde sie nicht wissen, daß Sie zurück sind, man könnte ihr gut zureden, und sie würde sich gedulden. Und käme dann das Kind zurück, so würde sie naturgemäß glauben, daß der Herr Bürgermeister mit dem Kinde zurückgekommen wäre. Man brauchte ihr dann nichts vorzulügen.«

Madeleine sann eine Weile nach, und sagte dann mit ruhiger Entschiedenheit:

»Nein, liebe Schwester, ich muß zu ihr. Vielleicht fehlt mir später die Zeit dazu.«

Die Nonne schien das geheimnißvolle und sonderbare »Vielleicht« nicht zu beachten, und antwortete leiser und mit gesenkten Augen:

»Sie schläft, aber der Herr Bürgermeister können hinein.«

Er machte eine Bemerkung über die Thür, die schlecht zuging, und deren Geknarr die Kranke im Schlaf stören konnte, trat dann in Fantinens Zimmer, und schlug den Vorhang ihres Bettes auseinander. Sie schlief. Ihr Athem brachte, indem er sich ihrer Brust entrang, jenes Geräusch hervor, das solchen Kranken eigenthümlich ist, und ihre Angehörigen so ängstigt, wenn sie des Nachts sorgenvoll an ihrem Bette wachen. Aber diese mühevolle Athmung beeinträchtigte nur wenig die über ihrem Gesicht verbreitete, heitre Ruhe, die sie in ihrem Schlafe verklärte. Sie war sehr weiß geworden mit Ausnahme der hochrothen Wangen. Ihre langen, blonden Wimpern, die einzige Schönheit, die ihr von ihrer Jungfräulichkeit und Jugend übrig geblieben, zitterten, während sie doch geschlossen und gesenkt waren. Ihr ganzer Körper regte sich leise, als wollten sich unsichtbare Flügel ausbreiten und ihn davon tragen. Nie hätte man glauben können, daß eine nahezu hoffnungslose Krankheit sie in Todesgefahr gebracht hätte.

Wenn eine Hand sich einer Pflanze nähert, ihr eine Blüthe zu entreißen, so erbebt sie und scheint zugleich zurückzufahren und dem Räuber entgegenzukommen. So erzittert auch ein Menschenleib, wenn die Finger des Todes sich anschicken, die Seele zu pflücken.

Madeleine stand eine Weile unbeweglich vor dem Bett und betrachtete abwechselnd die Kranke und das Krucifix, wie vor zwei Monaten, als er sie zum ersten Mal in diesem Zufluchtsort aufgesucht. Genau so wie damals verhielten sie Beide sich auch heute: Sie schlief und er betete, nur daß ihr Haar jetzt grau und seins weiß geworden war.

Die Schwester war nicht mit hereingekommen. Und doch hielt er den Zeigefinger auf den Mund, als wäre in dem Zimmer Jemand, dem er Stillschweigen gebieten wolle.

Da that Fantine die Augen auf und fragte mit einem ruhigen Lächeln:

»Nun, wo bleibt Cosette?«

II. Fantine ist glücklich

Keine Ueberraschung, keine Aufwallung der Freude. Sie war die Freude selbst. Aus ihrer einfachen Frage: »Wo bleibt Cosette?« klang so viel Zuversicht, so feste Gewißheit, eine so selbstverständliche Ueberzeugung heraus, daß Madeleine kein Wort der Erwiderung fand. Sie fuhr fort:

»Ich wußte, daß Sie da waren. Ich schlief und sah Sie doch. Ich sehe Sie schon längst. Ich bin Ihnen die ganze Nacht hindurch mit den Augen gefolgt. Sie waren von Himmelsglanz umgeben und lauter Engelsgestalten schwebten um Sie.«

Er erhob die Augen zum Krucifix.

»Sagen Sie mir aber doch«, fragte sie, »wo ist Cosette? Warum haben Sie sie mir nicht auf das Bett gelegt, bis ich aufwachen würde?«

Er stammelte unwillkürlich und unbewußt einige Worte, deren er sich später nicht mehr entsinnen konnte.

Glücklicher Weise war inzwischen der Arzt hinzugekommen und half jetzt Madeleine aus der Verlegenheit.

»Mein Kind, beruhigen Sie sich! Ihr Kind ist da.«

Fantinens Augen leuchteten auf und verbreiteten Heiterkeit über ihr ganzes Gesicht. Sie faltete die Hände und in allen ihren Zügen spiegelten sich die sanftesten und die heftigsten Empfindungen ab, denen der Mensch im Gebet Ausdruck zu leihen vermag.

»O bringen Sie sie her!«

»Noch nicht, in diesem Augenblick noch nicht. Sie fiebern noch etwas. Der Anblick Ihres Kindes würde Sie aufregen und Ihnen schaden. Erst müssen Sie gesund sein.«

Sie fiel ihm heftig ins Wort:

»Ich bin ja gesund! Ich versichere Sie, ich bin gesund! Was der Mann für ein Esel ist! Ich will mein Kind haben, verstanden?«

»Sehen Sie, wie aufgeregt Sie sind! So lange Sie in diesem Zustande sind, werde ich dagegen sein, daß Sie Ihr Kind zu Gesicht bekommen. Es genügt nicht, daß Sie mit ihr zusammenkommen; Sie müssen für sie leben. Sobald Sie vernünftig sind, werde ich selbst sie Ihnen zuführen.«

Die arme Mutter ließ den Kopf hängen.

»Ich bitte Sie recht sehr um Verzeihung, Herr Doktor. Früher wären mir solche Worte nicht entfahren; aber es ist mir so viel Unglück passirt, daß ich oft nicht weiß, was ich rede. Ich begreife, daß Sie die Aufregung fürchten und werde warten, so lange es Ihnen beliebt. Ich sehe sie, ich verwende kein Auge von ihr seit gestern Abend. Wenn sie mir jetzt gebracht würde, so würde ich mit ihr ganz ruhig sprechen. So sehr bin ich schon mit dem Gedanken sie wiederzusehen vertraut. Ist es nicht ganz natürlich, daß ich Sehnsucht nach dem Kinde habe, das man mir eigens aus Montfermeil geholt hat? Ich bin nicht wüthend. Ich weiß, daß ich glücklich sein werde. Die ganze Nacht habe ich immerzu was Weißes gesehen und Leute, die mich anlächelten. Wann es dem Herrn Doktor beliebt, wird er mir meine Cosette bringen. Ich habe kein Fieber mehr, ich bin gesund; ich fühle, daß mir nichts mehr fehlt; aber ich werde thun, als wäre ich krank und still liegen, den Damen hier zu Gefallen. Wenn man sehen wird, daß ich mich ruhig verhalte, wird man einsehen, daß man mich meine Tochter sehen lassen darf.«

Madeleine hatte sich auf einen Stuhl neben dem Bett niedergelassen. Sie wandte sich nach ihm hin, um sich mit ihm zu unterhalten und bemühte sich dabei sichtlich recht ruhig und »artig« zu sein, wie sie sich ausdrückte. Kam sie sich doch wegen ihrer Krankheit schwach, wie ein kleines Kind vor. Indem sie sich aber diesen Zwang anthat, konnte sie doch nicht umhin Madeleine mit Fragen zu überhäufen.

»Haben Sie eine angenehme Reise gehabt, Herr Bürgermeister? Ach, wie gut sind Sie doch, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, sie zu holen! Erzählen Sie mir wenigstens, wie sie aussieht. Hat sie die Fahrt gut ausgehalten? Schade, daß sie mich nicht wiedererkennen wird! Es ist so lange her, da hat das arme Dingelchen mich vergessen. Kinder haben ja kein Gedächtniß. Das hat ein Hirn, wie ein Vögelchen. Heute sieht das dies, morgen jenes und übermorgen hat es Beides verschwitzt. Hatte sie denn auch reine Wäsche? Hielten die Thénardiers sie hübsch ordentlich und sauber? Gaben sie ihr auch genug zu essen? Ach, wenn Sie wüßten, wie viel Sorgen ich mir die ganze Zeit über um das alles gemacht habe! Aber jetzt ist's ja vorbei. Ich bin überglücklich. Ach, wie gerne möchte ich sie sehen! Herr Bürgermeister, wie denken Sie? Ist sie hübsch? Nicht wahr, meine Tochter ist ein schönes Kind? Sie müssen im Postwagen sehr gefroren haben. Könnte man sie nicht auf ein ganz kleines Weilchen her bringen? Ich würde sie dann gleich wieder fortlassen. Was meinen Sie? Sie haben ja zu befehlen, und wenn Sie wollten ...«

Er ergriff ihre Hand: »Cosette ist hübsch geworden. Sie ist gesund und munter. Aber beruhigen Sie sich. Sie sprechen zu lebhaft. Auch halten Sie Ihre Arme aus dem Bett und davon wird Ihr Husten schlimmer.«

In der That unterbrachen starke Hustenanfälle sie fortwährend in ihrer Rede.

Fantine murrte nicht und begann, da sie fürchtete, sie hätte durch allzu leidenschaftliche Klagen das Vertrauen zu ihrer Standhaftigkeit erschüttert, von gleichgültigen Dingen zu reden.

»Montfermeil ist ein recht hübscher Ort, nicht wahr? Die Pariser machen viel Landpartieen dorthin. Verdienen die Thénardiers viel Geld? Ich glaube, es kommen da nicht viel Reisende durch. Ihre Gastwirthschaft ist eine erbärmliche Winkelkneipe.«

Madeleine hielt noch immer ihre Hand fest und sah sie schwermüthig an; offenbar war er gekommen, ihr Dinge zu sagen, mit denen er sich jetzt nicht hervorwagte. Der Arzt war fortgegangen und nur Schwester Simplicia war bei ihnen geblieben.

Plötzlich brach Fantine das allgemeine Schweigen mit dem Ausruf:

»Ich höre sie! O Gott, ich höre sie!«

Sie machte eine Bewegung mit dem Arm, als wollte sie um Stillschweigen bitten, hielt den Athem an und lauschte mit Entzücken.

Draußen auf dem Hof spielte ein Kind, die Tochter der Portierfrau oder irgend einer Arbeiterin. Dergleichen Zufälle treten ja immer auf und leiten in geheimnißvoller Weise schreckliche Schicksalswenduugen ein. Die Kleine draußen spielte, lief, tummelte sich, um warm zu werden, lachte und sang.

»Oh!« rief Fantine, »das ist meine Cosette! Ich erkenne sie an der Stimme.«

Das kleine Mädchen ging, wie es gekommen war, und ihre Stimme verhallte. Fantine horchte noch einige Zeit, dann verdüsterte sich ihr Gesicht und Madeleine hörte sie leise sagen: »Das ist recht schlecht von dem Doktor, daß er mein Kind nicht zu mir läßt. Er sieht überhaupt recht bösartig aus.«

Indessen gewann die Heiterkeit wieder die Oberhand bei ihr. Sie fing, indem sie sich wieder hinlegte, ein Selbstgespräch an.

»Wie glücklich wir leben werden! Herr Madeleine hat uns ein Gärtchen versprochen. Da wird mein Töchterchen spielen können. Sie wird jetzt schon die Buchstaben kennen, und ich werde sie lesen lehren. Im Garten kann sie den Schmetterlingen nachlaufen. Wie werde ich mich freuen, wenn ich ihr erst dabei zusehen werde! Dann wird sie auch konfirmirt werden. Richtig; aber wie lange ist das noch hin?«

Sie zählte an den Fingern:

»Eins, zwei, drei, vier ... Sie ist sieben Jahr alt ... Also in fünf Jahren. Da trägt sie einen weißen Schleier, durchbrochene Strümpfe und sieht schon beinahe wie eine Erwachsene aus. Liebste Schwester, Sie können sich nicht vorstellen, wie dumm ich bin. Jetzt denke ich gar an die Konfirmirung meiner Tochter!«

Und sie lachte.

Madeleine hatte inzwischen Fantinens Hand, losgelassen und hörte ihr zu, wie man dem Winde zuhört, in tiefsinnige Gedanken versunken. Plötzlich hielt sie inne mit sprechen; er hob mechanisch den Kopf in die Höhe und sah Fantine an.

Sie sprach nicht, sie athmete nicht mehr; sie saß halb aufgerichtet da, die mageren Schultern halb entblößt; ihr kurz zuvor so seliges Gesicht war jetzt erdfahl, und sie starrte, rötlich erschrocken, mit weit aufgerissenen Augen nach dem anderen Ende des Zimmers hin.

»Um Gottes Willen, Fantine, was fehlt Ihnen?« rief Madeleine.

Sie antwortete nicht, wandte nicht die Augen von dem Gegenstand, den sie anblickte, sondern berührte nur mit der einen Hand seinen Arm und bedeutete ihm mit der anderen, daß er sich umsehen solle.

Er wandte sich und sah – Javert.

III. Javert freut sich

Folgendes hatte sich nämlich ereignet.

Es hatte so eben halb eins geschlagen, als Madeleine den Sitzungssaal des Schwurgerichts verließ. Er war in seiner Herberge gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um mit der Briefpostkutsche abzufahren. In Montreuil-sur-Mer traf er dann kurz vor sechs Uhr Morgens ein und ließ es sich vor allen Dingen angelegen sein, den Brief an Laffitte aufzugeben. Dann war er nach dem Krankensaal gegangen, um Fantine zu besuchen.

Kaum hatte er sich aber aus dem Sitzungssaal entfernt, als der Staatsanwalt zur Besinnung gelangt war und das Wort ergriffen hatte, um sein Bedauern über die Erkrankung des ehrenwerthen Bürgermeisters von Montreuil-sur-Mer auszusprechen, zu betonen, daß seine Ueberzeugung durch den – noch aufzuklärenden – Zwischenfall in keiner Weise erschüttert sei und die Verurtheilung Champmathieus, des wirklichen Jean Valjean, zu beantragen. Diese Hartnäckigkeit des Staatsanwalts lief aber ersichtlich der allgemeinen Ansicht, der Stimmung des Publikums, des Gerichtshofes und der Geschworenen, zuwider. Es wurde dem Vertheidiger denn auch nicht schwer, ihn zu widerlegen und nachzuweisen, daß in Folge der von Madeleine, d. h. dem wahren Jean Valjean, gemachten Enthüllungen, der Fall eine wesentlich andere Gestalt angenommen und die Geschworenen jetzt einen Unschuldigen vor sich hätten. Selbstredend hatte er die schöne Gelegenheit wahrgenommen, einige mustergültige, aber leider nicht ganz neue Epiphonemata über Irrthümer der Justiz u. s. w. u. s. w. zum Besten zu geben; der Vorsitzende war der Ansicht des Vertheidigers beigetreten und nach wenigen Minuten hatten die Geschworenen Champmathieu von der Instanz entbunden.

Indessen brauchte aber doch der Staatsanwalt einen Jean Valjean und da ihm Champmathieu aus den Händen entwischte, so hielt er sich an Madeleine.

Gleich nach der Freilassung Champmathieus schloß er sich mit dem Vorsitzenden ein. Sie konferirten über die Nothwendigkeit, den Bürgermeister von Montreul-sur-Mer verhaften zu lassen. Nun die erste Erschütterung vorüber war, hatte der Vorsitzende auch wenig dagegen einzuwenden. Man mußte doch der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen. Außerdem aber war, um die volle Wahrheit zu sagen, der Vorsitzende zwar ein guter und einsichtsvoller Mann, aber zugleich auch gut königlich gesinnt und es hatte ihn verletzt, daß Madeleine von der Landung des »Kaisers Napoleon« und nicht von »Buonaparte« gesprochen hatte.

Es wurde also der Haftbefehl ausgefertigt, den der Staatsanwalt durch einen Expressen an Javert gelangen ließ.

Wir haben schon angegeben, daß Dieser unmittelbar nach seiner Vernehmung nach Montreuil-sur-Mer zurückgekehrt war.

Javert stand eben aus dem Bett auf, als der Expresse eintraf und ihm den Verhaft- und den Vorführungsbefehl übergab. Selber ein gewiegter Polizist, setzte er Javert in wenigen Worten auseinander, was in Arras vorgefallen war. Der von dem Staatsanwalt unterzeichnete Verhaftsbefehl lautete: »Dem Polizei-Inspektor Javert wird hiermit aufgegeben, den Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer, Madeleine, der in der heutigen Sitzung als der entlassene Zuchthaussträfling Jean Valjean agnoscirt worden ist, gefänglich einzuziehen.«

Niemand hätte unserem Javert ansehen können, was in ihm vorging, als er das Vorzimmer zu dem Krankensaal betrat. Er hatte sein gewöhnliches Aussehen, war kalt, ruhig, ernst und so bedächtig wie immer die Treppe hinaufgestiegen. Aber die ihn genauer kannten, hätten einen gewaltigen Schreck bekommen. Man denke: Die Schnalle seines Halskragens saß statt im Genick am linken Ohr! Dieses Toilettendetail bedeutete, daß in Javert's Seele ein gewaltiger Sturm tobte.

Javert war ein ganzer Mann, der es mit seiner Toilette so streng nahm, wie mit seiner Pflicht.

Wenn also eine Schnalle an seiner Uniform nicht richtig saß, so mußte etwas ganz Ungewöhnliches, eine großartige Umwälzung in seinem Innern vorgegangen sein.

Er hatte sich aus dem nächsten Wachtposten einen Korporal nebst vier Mann geholt, hatte dann seine Leute auf dem Hof warten heißen und sich von der arglosen Portierfrau, die daran gewöhnt war, Leute in Waffen bei dem Herrn Bürgermeister zu sehen, den Weg zu Fantinens Zimmer zeigen lassen.

Hier angelangt, schloß er die Thür auf und schlich sich leise, wie eine Krankenwärterin oder ein Spion hinein.

Genau genommen trat er nicht in das Zimmer ein. Er blieb auf der Thürschwelle stehen, den Hut auf dem Kopfe, die linke Hand in dem, bis ans Kinn zugeknöpften Rock. Sein Ellbogen umfing den Bleiknopf seines gewaltigen Stocks, der hinter seinem Rücken verschwand.

So stand er etwa eine Minute lang, ohne bemerkt zu werden. Plötzlich aber hob Fantine den Kopf hoch, erblickte ihn und zeigte ihn Madeleine.

In dem Augenblick, wo des Bürgermeisters Blick dem seinen begegnete, nahmen Javerts Züge einen grausigen Ausdruck an. Sein Gesicht glich dem Antlitz eines Teufels, der ein verloren geglaubtes Opfer wiederfindet.

Die Gewißheit, daß er endlich Jean Valjean in seinen Klauen hielt, ließ alle Empfindungen, die er im Herzen hegte, nach außen hervortreten. Der aufgewühlte Grund stieg an die Oberfläche. Den Aerger darüber, daß er eine Zeit lang einer falschen Fährte nachgegangen, beschwichtigte die stolze Genugthuung darüber, daß er von Anfang an das Richtige geahnt und lange Jahre hindurch einem bessern Instinkt gefolgt war. Seine Zufriedenheit gab sich in seiner hochmüthigen Haltung kund, und die ganze Widerwärtigkeit und Scheußlichkeit des boshaften Triumphes lagerte auf seiner engen Stirn.

Javert war selig, als wäre er im Himmel. Ohne sich klare Rechenschaft davon zu geben, war er sich doch einigermaßen bewußt, daß er, Javert, die Gerechtigkeit, die Aufklärung, die Wahrheit verkörpere, insofern sie Feinde alles Bösen sind. Er schwebte als Schutzengel im Glorienschein der Autorität, der Vernunft, der Ordnung, die seiner bedurften und dankbar zu ihm aufschauten, und schleuderte den Strahl der Rache auf das Verbrechen, das Laster, die Rebellion, die Hölle. Aber so verdammenswert Javerts Gefühle waren, Gemeines haftete ihnen nicht an.

Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Ueberzeugungstreue, Pflichtgefühl sind Eigenschaften, die, irre geleitet, sich auf eine abscheuliche Art äußern können, die aber auch dann noch die Merkmale des Großen, Majestätischen behalten. Die erbarmungslose ehrliche Freude eines Schwarmgeistes, der im Dienste eines edlen Prinzips einen scheußlichen Frevel verübt, hat immer etwas, das Achtung gebietet. Javert war, ohne es zu ahnen, beklagenswert, wie jeder Unwissende, der einen Triumph davonträgt und beweist, wie böse das Gute sein kann.

IV. Die Obrigkeit macht ihr Recht geltend

Seit dem Tage, wo der Bürgermeister sie aus den Händen Javerts befreite, hatte Fantine ihn nicht wieder gesehen. Als er jetzt vor ihr auftauchte, konnte ihr kranker, schwacher Kopf keinen andern Gedanken fassen, als daß er gekommen sei, sie zu holen. Sie konnte den Anblick des fürchterlichen Menschen nicht ertragen, vergrub ihr Gesicht in ihre Hände und schrie angstvoll:

»Herr Madeleine, retten Sie mich!«

Jean Valjean – wir werden ihn fortan nicht anders nennen – hatte sich erhoben und sagte jetzt mit seiner sanftesten und mildesten Stimme zu Fantine:

»Seien Sie unbesorgt. Er kommt nicht Ihretwegen.«

Dann wandte er sich zu Javert mit den Worten:

»Ich weiß, was Sie wollen.«

»Vorwärts marsch!« brüllte Javert.

Er verfuhr nicht wie gewöhnlich, gab nicht an, weswegen er gekommen sei, zeigte nicht den Vorführungsbefehl vor. Für ihn war Jean Valjean ein räthselhafter, unfaßbarer Gegner, ein teufelhafter Ringer, mit dem er sich nun schon fünf Jahre herumbalgte, ohne ihn werfen zu können. Diese Verhaftung war nicht die Einleitung zu einem Kampfe, nein, das Ende. Deshalb unterließ er alle weitläufigen Erklärungen und donnerte nur: »Vorwärts marsch!«

Dabei trat er keinen Schritt vor, sondern warf auf Jean Valjean nur seinen Raubthierblick, mit dem er die unglücklichen Opfer des Elends zu fasciniren und an sich heranzuziehen gewohnt war.

Dies war der Blick, der vor zwei Minuten Fantine bis ins innerste Mark durchschauert hatte.

Als Javert aufschrie, hatte Fantine die Augen wieder geöffnet. Aber der Herr Bürgermeister war da. Was hatte sie also zu fürchten?

Jetzt trat Javert bis in die Mitte des Zimmers vor und sagte:

»Nun, wirst Du bald kommen?«

Die Unglückliche blickte um sich. Es war Niemand da, als die Nonne und der Herr Bürgermeister. Wem galt das verächtliche Du? Doch nur ihr! Sie zitterte.

Da sah sie etwas Ungeheuerliches, wie sie Ungeheuerlicheres auch nicht im ärgsten Fieberwahnsinn erschaut hatte.

Sie sah, wie der Spitzel Javert den Herrn Bürgermeister am Kragen packte, sah den Herrn Bürgermeister demüthig das Haupt neigen. Ihr war, als ginge die Welt unter.

»Herr Bürgermeister!« rief sie aus.

Javert lachte teuflisch auf.

»Mit der Bürgermeisterschaft ist's vorbei!«

Jean Valjean wehrte sich nicht gegen die Hand, die seinen Rockkragen fest hielt, und sagte blos:

»Javert ...«

»Herr Inspektor!« »hast Du mich zu nennen.«

»Herr Inspektor, ich möchte Ihnen ein Wörtchen unter vier Augen sagen.«

»Laut! Sprich laut! Mit mir spricht man laut!«

Jean Valjean aber fuhr noch leiser fort:

»Ich habe Ihnen eine Bitte vorzutragen.«

»Ich sage Dir, Du sollst laut sprechen!«

»Es darf aber kein Andrer hören als Sie.«

»Ist mir egal! Ich will nichts hören.«

Jean Valjean wandte sich nach ihm um und sagte rasch und ganz leise:

»Gewähren Sie mir drei Tage Frist! Blos drei Tage, damit ich die kleine Tochter der armen Frau da herholen kann. Ich bezahle, was nöthig ist. Sie können mich begleiten, wenn Sie wollen.«

»Du spaßt!« schrie Javert. »Hör' mal, für dämlich habe ich Dich bis jetzt nicht gehalten! Drei Tage Frist willst Du haben, damit Du mir abschrammen kannst. Und da sagt er, das Kind will er holen! Der Spaß ist gut! Donnerwetter, der Spaß ist gut!«

Fantine erschrak.

»Mein Kind holen! Sie ist also nicht hier? Antworten Sie, Schwester: Wo ist Cosette? Ich will mein Kind haben! Herr Madeleine! Herr Bürgermeister!«

Javert stampfte mit dem Fuß auf.

»Nun fängt Die auch noch an! Wirst Du's Maul halten, Kanaille! Nettes Land, wo man die Zuchthäusler zu Bürgermeistern ernennt und wo Dirnen wie Gräfinnen gehalten werden. Aber das wird jetzt anders werden. Es war auch Zeit.«

Er sah Fantine fest an, packte Halstuch, Hemde und Kragen seines Arrestanten noch derber und sagte:

»Von einem Herrn Madeleine und einem Herrn Bürgermeister ist hier nicht die Rede. Hier handelt's sich um einen Spitzbuben, einen Räuber, einen Galgenvogel, Namens Jean Valjean. Den führe ich jetzt ab. Verstanden?«

Fantine stemmte die Hände vor sich auf das Bett und fuhr jäh in die Höhe. Dann starrte sie Jean Valjean, Javert, die Nonne an; riß den Mund auf, um zu sprechen, stieß aber nur ein Röcheln aus der Kehle hervor, schlug die Zähne aneinander, streckte angstvoll die Hände aus und griff mit den geöffneten Händen um sich, wie ein Ertrinkender und fiel endlich auf das Kissen zurück. Dabei schlug ihr Kopf heftig auf den eisernen Rand des Bettgestells auf und sank auf ihre Brust herab.

Sie war tot.

Jean Valjean ergriff Javert's Hand und zwang ihn ohne Mühe, als hätte er mit einem Kinde zu thun, ihn loszulassen.

»Sie haben sie umgebracht!« rief er.

»Wirst Du bald ein Ende machen?« antwortete wüthend Javert. »Ich bin nicht hier, um Redensarten zu hören. Das können wir uns ersparen. Unten steht die Wache. Fix oder Du kriegst die Daumenschrauben zu kosten.«

In einer Ecke des Zimmers stand eine alte eiserne Bettstelle, die stark demolirt war, obgleich sie noch von den Schwestern des Nachts benutzt wurde. Auf diese Bettstelle schritt Jean Valjean jetzt zu, brach im Nu, was für einen Mann von seiner Muskelkraft leicht genug war, die Querstange am Kopfende, die ohnehin nicht mehr fest saß, ab und faßte Javert scharf ins Auge. Der fand es rathsam, sich rückwärts nach der Thür hin zu konzentriren.

Nun schritt Jean Valjean, die eiserne Stange in der Faust, langsamen Schrittes auf Fantinens Bett zu. Hier wendete er sich um und sagte mit kaum hörbarer Stimme:

»Ich möchte Ihnen nicht rathen, mich jetzt zu stören.«

Javert zitterte.

Er wollte einen Augenblick die Wache rufen, aber während der Zeit konnte Jean Valjean ihm entwischen. Er blieb also, faßte seinen Stock bei dem dünnen Ende und lehnte sich an die Thürbekleidung, ohne Jean Valjean aus den Augen zu lassen.

Jean Valjean seinerseits stützte den Ellbogen auf den Knauf der Bettstelle und die Stirn auf seine Hand. Dann betrachtete er stumm, in tiefe Gedanken versunken, die tote Fantine und auf seinem Gesicht war nur ein Ausdruck unendlichen Mitleids zu lesen. Nachdem er so eine Weile verharrt hatte, beugte er sich zu der Leiche nieder und sprach leise zu ihr:

Was sagte er zu ihr? Was konnte der Verstoßene wohl der Toten sagen? Niemand auf Erden hat seine Worte gehört. Vielleicht die Tote? Ueber allem Zweifel erhaben ist aber, daß Schwester Simplicia, die einzige Zeugin dieses Vorgangs, oft erzählt hat, in dem Augenblick, wo Jean Valjean sich zu Fantinens Ohr niederneigte, habe ein seliges Lächeln die blassen Lippen der Toten umspielt.

Dann nahm Jean Valjean Fantinens Kopf in seine Hände, legte ihn sorgsam, wie eine Mutter ihr Kind bettet, auf das Kissen nieder, band ihr Hemd oben zu und schob ihr Haar unter ihre Haube zurück. Hierauf drückte er ihr die Augen zu.

Fantinens Antlitz überstrahlte in diesem Augenblick eine seltsame Helle, die des Jenseits.

Nun kniete Jean Valjean vor der Toten nieder, ergriff sanft ihre Hand und küßte sie.

Dann stand er aus und sagte zu Javert:

»Jetzt machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

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