Читать книгу: «Les Misérables / Die Elenden», страница 23

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»Lieber Herr,« begann die Alte, »mein Junge sagt mir, Sie wünschten ein Kabriolett zu miethen.«

Diese einfachen Worte einer greisen, von einem Kinde geführten Frau preßten ihm heftigen Angstschweiß aus. Er glaubte die Hand wieder zu sehen, die ihn eben erst freigelassen. Sie wollte ihn jetzt wieder packen.

»Ja wohl, gute Frau,« antwortete er, »ich brauche ein Kabriolett. Aber –« setzte er eilig hinzu – »es ist hier keins zu bekommen.«

»Doch, doch!« erwiderte die Alte.

»Wo denn!« fragte der Stellmacher.

»Bei mir,« lautete der Bescheid.

Madeleine erschrak. Die Hand des Schicksals hielt ihn wieder fest.

Die Greisin besaß in der That in einem Schuppen eine Halbkutsche. Davon wollten aber der Stallknecht und der Stellmacher, die es ärgerte, daß der reiche Fremde ihnen entwischen sollte, nichts wissen.

Solch' ein greulicher Rumpelkasten! Das Jammergestell ruhte auf der bloßen Achse, hatte keine Federn! Dafür freilich hingen die Sitze im Innern an Lederriemen!! Es regnete hinein. Die Räder waren vom Rost zerfressen. Das Ding würde nicht viel weiter kommen. Der Herr sollte keine Fahrt damit riskiren u.s.w., u.s.w.

Das war Alles wahr, aber der alte Klapperkasten war ein Ding mit zwei Rädern, in dem man nach Arras kommen konnte.

Er bezahlte, was man von ihm verlangte, ließ den Tilbury bei dem Stellmacher, bis er wiederkommen würde ihn abzuholen, hieß seinen Schimmel an die Halbkutsche spannen, stieg auf und setzte seine Reise fort.

In dem Augenblick, wo sich der Wagen in Bewegung setzte, gestand er sich ein, daß der Gedanke, nicht weiter reisen zu können, ihm eine gewisse Freude verursacht hatte. Ueber diese Freude dachte er mit einer Art Verdruß nach und fand sie abgeschmackt. Freude über die Umkehr! Wozu? Hatte er denn die Reise nicht aus freiem Willen unternommen? Es zwang ihn ja Niemand dazu.

Es würde doch immer das geschehen, was ihm beliebte.

Als er zum Dorfe hinausfuhr, hörte er Jemand rufen: »Halt! Halt!« Er hielt sofort an mit einem krampfhaften, hastigen Ruck, denn vielleicht bedeutete die Verzögerung etwas Gutes.

Es war der Junge der alten Frau.

»Mein Herr, ich bin Derjenige, der Ihnen den Wagen verschafft hat.«

»Nun?«

»Sie haben mir nichts dafür gegeben.«

Er, der sonst so bereitwillig gab, fand diese Forderung unverschämt und beinahe niederträchtig.

»Also Du warst es? Du infamer Lümmel, Du kriegst nichts.«

Damit peitschte er auf sein Pferd los und jagte im schnellsten Trabe davon.

Er hatte in Hesdin viel Zeit versäumt, die er wieder einbringen wollte. Das Pferdchen besaß Courage und zog so gut, wie zwei; aber es war im Februar, es hatte geregnet und die Wege befanden sich in schlechtem Zustande. Dann war der Wagen, in dem er jetzt saß, nicht so leicht, wie der Tilbury. Außerdem eine Menge Steilungen auf dem Wege.

Er brauchte vier Stunden, um von Hesdin nach Saint-Pol zu gelangen. In vier Stunden sechs Meilen!

In Saint-Pol kehrte er in der ersten besten Herberge ein und ließ das Pferd in den Stall führen. Dem Versprechen gemäß, das er Scaufflaire gegeben hatte, hielt er sich, während das Pferd seinen Hafer verzehrte, in der Nähe der Krippe auf und hing trübseligen, verworrenen Grübeleien nach.

Da kam die Frau des Gastwirtes in den Stall und fragte:

»Will der Herr nicht frühstücken?«

»Richtig, richtig! – Ich habe sogar ganz tüchtigen Appetit.«

Er folgte der Wirtin, die ein munteres, vergnügtes Aussehen hatte.

»Beeilen Sie sich,« mahnte er. »Ich habe Eile«.

Eine dicke flamländische Magd deckte rasch den Tisch. Er sah sie mit einem Gefühl des Behagens an.

»Das hat mir gefehlt,« meinte er. »Ich habe heute noch nicht gefrühstückt.«

Als das Essen aufgetragen wurde, fiel er über das Brot her, aß einen Bissen davon und legte es dann langsam auf den Tisch zurück.

»Wie kommt es, daß das Brot hier so bitter ist?« fragte er einen Fuhrmann, der an einem andern Tisch mit gutem Appetit speiste.

Der Fuhrmann aber war ein Ausländer und verstand ihn nicht.

Nun kehrte er in den Stall zu seinem Schimmel zurück.

Eine Stunde später hatte er Saint-Pol hinter sich und fuhr auf Tinques zu, das von Arras nur noch fünf Meilen entfernt ist.

Was that er während dieser Fahrt? Woran dachte er? Er sah sich, wie am Morgen, die Bäume, die Strohdächer, die Aecker an, wie sie an ihm vorüberwanderten, und die Landschaft, die an jeder Biegung des Weges eine andere wurde. Eine solche Betrachtung genügt bisweilen dem Menschen und befreit ihn fast von der Nothwendigkeit zu denken. Nichts Trübsinnigeres, nichts, das die Tiefen des Herzens stärker aufwühlt, als tausenderlei Dinge zum letzten Male sehen! Reisen heißt, jeden Augenblick an seinen Anfang und an sein Ende erinnert werden. Vielleicht beschäftigte sich sein Geist mit unbestimmten Vergleichen zwischen den Veränderungen des Horizontes und den Wechselfällen des menschlichen Lebens. Bei unserer Reise durch das Dasein sehen wir beständig alle Gegenstände uns fliehen. Helles und Dunkles wechseln mit einander ab. Man sieht etwas vorüberkommen, streckt eilig die Hände aus, es zu erfassen; jedes Ereigniß bezeichnet eine Biegung des Weges und ehe man sich dessen versieht, ist man alt geworden. Dann fühlt man einen Ruck, Alles ist finster, man erblickt ein dunkles Thor, das Pferd des Lebens, das Einen gezogen hat, bleibt stehen und ein tief vermummter Unbekannter spannt es in der Finsterniß aus.

Es dämmerte schon, als die Kinder, die in Tinques aus der Schule kamen, den Fremden vorbeifahren sahen. Allerdings waren die Tage noch kurz zu dieser Jahreszeit. Madeleine hielt an diesem Orte nicht an. Aber als er eben im Begriff stand, aus dem Dorf hinauszufahren, richtete sich ein Chausseearbeiter, der Steine einrammte, in die Höhe und sagte:

»Das Pferd da ist schön müde!«

In der That ging das arme Thier nur noch im Schritt.

»Fahren Sie nach Arras?« forschte der Arbeiter.

»Ja.«

»Wenn Sie Sich nicht mehr beeilen, werden Sie nicht früh ankommen.«

Madeleine hielt an und fragte ihn:

»Wie weit ist es noch von hier bis Arras?«

»Beinah gute sieben Meilen.«

»Wie so? Nach dem Postbuch sind es nur fünf und eine Viertelmeile.«

»Ja so, Sie wissen wohl nicht, daß der Weg neu gepflastert wird? Eine Viertelstunde weiterhin ist er gesperrt. Da geht's nicht weiter«

»Wirklich?«

»Sie schlagen den Weg links ein, nach Caremcy, fahren über den Fluß, und wenn Sie in Camblin sind, wenden Sie Sich rechts. Dann sind Sie auf dem Wege, der von Mont-Saint-Eloy nach Arras führt.«

»Aber es dunkelt schon: Ich werde mich verirren.« »Sie sind wohl nicht aus dieser Gegend.«

»Nein.«

»Na ja! Und dabei lauter Querwege. – Mein Herr, wollen Sie einen guten Rat von mir annehmen. Ihr Pferd ist müde. Kehren Sie um. In Tinques ist eine gute Herberge, wo Sie dann übernachten können. Morgen fahren Sie dann weiter.«

»Ich muß noch heute Abend dort sein.«

»Das ist was Andres.« Dann fahren Sie aber trotzdem bis zur Herberge zurück und holen Sie Sich noch ein Pferd zur Aushülfe. Sie können sich dann auch ein Stück führen lassen.«

Madeleine befolgte den Rath, kehrte um und kam eine halbe Stunde später an derselben Stelle wieder vorüber, aber in schnellem Trabe und mit einem guten Aushülfspferde. Ein Stallknecht der sich Postillon titulierte saß auf der Deichsel.

Indessen merkte Madeleine, daß die Zeit verging.

Schon war es finstre Nacht.

Sie fuhren in den Querweg hinein, der schlecht im Stande war. Der Wagen stürzte von einem Geleise in's andre. Madeleine feuerte den Postillon an:

»Immer Trab und doppeltes Trinkgeld.«

Da zerbrach in Folge eines heftigen Stoßes das Ortscheit.

»Mein Herr, ich weiß nicht mehr, wie ich mein Pferd anspannen soll. Auf diesem Wege führt es sich sehr schlecht bei Nacht; wenn Sie in Tinques übernachten wollen, können wir morgen in aller Frühe in Arras sei.«

»Hast Du einen Strick und ein Messer?« erwiederte er.

»Ja, mein Herr.«

Er schnitt einen Baumast ab und machte sich daraus ein Ortscheit zurecht.

So wurden wieder zwanzig Minuten Zeit versäumt; aber sie konnten nun im Galopp die Fahrt fortsetzen. Die Ebene war in Dunkelheit gehüllt. Ein niedriger kurzer und schwarzer Nebelstreifen lagerte auf den Hügeln und stieg stellenweise wie Rauchwolken empor. In den Wolken sah man hie und da weißliche, lichte Flecken. Ein starker Seewind rumorte überall am Horizont, als fuhrwerke er mit großen Möbeln herum. Alles, was man bemerken konnte, sah graulig aus. Womit treibt auch nicht der gewaltige Nachtwind sein Spiel!

Die Kälte drang ihm bis in's Mark. Seit dem Tage vorher hatte er nichts gegessen. Es fiel ihm wieder jene Nacht ein, wo er ziellos über die große Ebene bei Digne hin und hergeirrt war. Das war acht Jahre her, und es kam ihm vor, als sei es gestern gewesen.

Aus der Ferne ließ sich eine Thurmuhr hören.

»Was schlägt die Uhr?« fragte er den Stallknecht.

»Sieben, mein Herr. Um acht sind wir in Arras. Wir haben nur noch drei Meilen zurückzulegen.«

Erst jetzt fiel ihm ein – und er wundert! sich, daß er nicht früher auf den Gedanken gekommen war –. Daß all die Mühe vielleicht umsonst aufgewandt wäre; daß er nicht einmal wußte, zu welcher Stunde die Verhandlung des Prozesses angesetzt war; daß er sich danach hätte erkundigen sollen; daß er thöricht sei, so darauf los zu fahren, ohne danach zu fragen, ob es auch einen Zweck habe. Dann rechnete er: Gewöhnlich fingen die Sitzungen des Schwurgerichts um neun Uhr Vormittags an. Die Verhandlung der Anklage wegen des Apfeldiebstahls konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Dann kam die Feststellung der Personalien an die Reihe, vier bis fünf Zeugen zu vernehmen, die Reden des Staatsanwalts und des Vertheidigers, die alle Beide nicht viel zu sagen haben würden. Kurz er rechnete aus, daß er erst nach Beendigung der Verhandlung eintreffen würde.

Der Postillon trieb die Pferde zu noch größerer Eile an. Sie waren über den Fluß gefahren und hatten Mont-Saint-Eloy hinter sich.

Die Nacht wurde immer dunkler.

VI. Schwester Simplicia wird auf die Probe gestellt

Mittlerweile schwamm Fantine in einem Meer von Wonne.

Sie hatte die Nacht schlecht zugebracht. Heftige Anfälle von Husten, stärkeres Fieber, wüste Träume. Am Morgen, als der Arzt kam, phantasirte sie. Er machte eine sehr ernste Miene und bat, daß man ihn sofort benachrichtigen möchte, sobald Herr Madeleine kommen würde.

Den ganzen Vormittag war sie trübsinnig, sprach wenig und fältelte ihr Laken, indem sie dabei Rechnungen – wahrscheinlich von Entfernungen – anstellte. Ihre Augen waren tief eingesunken und starr. Sie schienen fast erloschen, flammten aber von Zeit zu Zeit stark auf und glänzten wie Sterne; als erfüllte sie, je mehr sie sich dem irdischen Licht unzugänglich wurden, himmlische Klarheit.

Jedes Mal wenn Schwester Simplicia sich nach ihrem Befinden erkundigte, antwortete sie: »Mir geht es gut. Nur möchte ich Herrn Madeleine sehen.«

Vor einigen Monaten, damals, als Fantine des letzten Ueberbleibsels ihrer Erden- und Daseinsfreude verlustig ging, glich sie nur noch einem Schatten von dem was sie vor Zeiten gewesen, jetzt war ihr Anblick ein Schrecken erregender. Die körperlichen Leiden hatten das Werk, daß die moralischen begonnen, vollendet. Diese Fünfundzwanzigjährige besaß eine runzlige Stirn, welke Wangen, zusammengefallene Nasenlöcher, eingeschrumpftes Zahnfleisch, einen bleifarbnen Teint, einen knochigen Hals, magre Arme und Beine, eine glanzlose Haut, und ihre blonden Haare waren mit grauen vermischt. Ach! wie sehr ähnelt doch die Krankheit dem Alter.

Um zwölf kam der Arzt wieder, schrieb einige Rezepte, erkundigte sich, ob der Herr Bürgermeister in den Krankensaal gekommen sei, und schüttelte den Kopf.

Madeleine besuchte die Patientin gewöhnlich gegen drei Uhr Nachmittags. Da Pünktlichkeit seinerseits sie glücklich machte, so war er pünktlich.

Gegen halb drei wurde Fantine unruhig. Sie fragte in zwanzig Minuten die Nonne mehr als Zehn Mal: »Schwester, wieviel Uhr ist es?«

Endlich schlug es drei Uhr. Beim dritten Schlage richtete sie sich, die sich für gewöhnlich vor Schwäche kaum zu rühren vermochte auf, faltete krampfhaft ihre fleischlosen, gelben Hände, und die Nonne hörte sie so stark aufseufzen, als wolle sie eine Last von ihrer Brust wälzen. Dann wandte sie sich seitwärts und heftete ihre Augen auf die Thür.

Es kam Niemand, die Thür that sich nicht auf.

So saß sie, regungslos, als athmete sie kaum, die Augen unverwandt auf die Thür gerichtet. Die Schwester wagte nicht zu ihr zu sprechen. Da schlug es ein Viertel auf vier, und Fantine ließ den Kopf wieder auf das Kissen zurücksinken.

Sie sprach kein Wort und fing wieder an, Falten in ihr Laken zu machen.

Es schlug halb, dann voll. Niemand kam. Jedes Mal, wenn die Kirchturmuhr sich vernehmen ließ, richtete sich Fantine auf, blickte nach der Thür und sank dann wieder auf ihr Kissen zurück.

An wen sie dachte, ließ sich leicht errathen, aber sie nannte seinen Namen nicht, klagte nicht, tadelte nicht. Nur, daß sie schrecklich hustete. Tiefe Trübsal hatte sie befallen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und ihre Lippen waren blau. Zeitweise lächelte sie.

Als es fünf Uhr schlug, hörte die Schwester, wie sie sanft vor sich hin flüsterte: »Da ich morgen fort muß, könnte er doch heute noch einmal kommen!«

Schwester Simplicia selber wunderte sich, daß Madeleine nicht kam. A

Jetzt schaute Fantine zu ihrem Betthimmel empor und schien sich auf etwas zu besinnen. Dann sang sie plötzlich mit schwacher Stimme ein Wiegenlied, womit sie ehedem ihre kleine Cosette in den Schlaf gesungen und an das sie seit fünf Jahren nicht mehr gedacht hatte. So schwermüthig sanft klang das Lied in ihrem Munde, daß der an Leid Und Jammer gewöhnten Nonne Thränen in die Augen traten.

Nun schlug es sechs Uhr. Fantine achtete aber nicht darauf. Sie schien Alles, was sie umgab, vergessen zu haben.

Schwester Simplicia aber trug einer Magd auf, sich bei der Portierfrau zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeister nach Hause gekommen sei und ob er nicht bald in den Krankensaal hinaufkommen würde. Die Magd kam nach einigen Minuten zurück und erzählte, während Fantine unbeweglich da lag und ihren Gedanken nachzugehen schien, der Schwester Simplicia: der Herr Bürgermeister wäre heute Morgen vor sechs Uhr, trotz der Kälte, in einem, mit einem Schimmel bespannten Tilbury fortgefahren, ganz allein, ohne Kutscher. Man wüßte nicht, wohin. Einige sagten, er hätte den Weg nach Arras eingeschlagen; Andere versicherten, sie wären ihm auf der Landstraße nach Paris begegnet. Bei seinem Weggange wäre er so wie sonst gewesen, sehr leutselig und hätte nur zur Portierfrau gesagt, man solle ihn heute Nacht nicht erwarten.

Während die beiden Frauen, den Rücken Fantinen zugewendet, im Flüsterton mit einander sprachen, kniete diese mit jener Lebhaftigkeit, die sich bei gewissen schweren Krankheiten bisweilen noch kurz vor dem Tode regt, auf ihrem Bett und horchte, die geballten Fäuste auf das Kissen gestützt und mit dem Kopf zwischen den beiden Theilen des Vorhangs. Plötzlich schrie sie:

»Sie sprechen da von Herrn Madeleine! Warum so leise? Was ist mit ihm? Warum kommt er nicht?«

Ihre Worte klangen so hastig und rauh, daß die beiden Frauen eine Männerstimme zu hören glaubten, und sich erschrocken umdrehten.

»So antworten Sie doch!« schrie Fantine.

Die Magd stammelte:

»Die Portierfrau hat mir gesagt, er könnte heute nicht kommen.«

»Kind, verhalten Sie Sich ruhig!« redete ihr die Schwester zu. Legen Sie Sich hin.« Aber ohne ihre Stellung zu verändern, rief Fantine wieder laut und in herrischem, angstvollem Tone:

»Er kann nicht kommen? Warum nicht? Sie wissen den Grund. Sie haben eben heimlich mit einander darüber gesprochen. Ich will es wissen.«

Die Magd raunte der Nonne hastig ins Ohr: »Antworten Sie, er wohnt einer Sitzung der Stadtverordneten bei.«

Schwester Simplicia errötete leicht; muthete ihr doch die Magd eine Lüge zu. Andrerseits war sie sich klar darüber, daß die Wahrheit ein schrecklicher Schlag für die Kranke sein würde, und bei Fantinens Zustand eine gefährliche Wirkung haben könnte. Aber die Röthe verflog rasch, und mit einem mitleidigen Blick antwortete sie:

»Der Herr Bürgermeister ist verreist.«

Fantine richtete sich auf und kauerte im Bett. Ihre Augen funkelten. Eine unbeschreibliche Freude leuchtete aus allen Zügen ihres vergrämten Gesichts.

»Verreist!« jubelte sie. »Er holt Cosette!«

Darauf hob sie die gefalteten Hände zum Himmel empor und betete leise.

Nachher sagte sie: »Schwester, ich will Ihnen gehorchen und mich wieder hinlegen und Alles thun, was Sie von Mir verlangen. Eben bin ich recht häßlich gewesen. Es war schlecht von mir, daß ich so aufgefahren bin, und ich bitte Sie um Verzeihung, gute Schwester. Aber wenn Sie wüßten, wie ich mich jetzt freue! Der liebe Gott ist gut, Herr Madeleine ist gut. Denken Sie doch: er ist nach Montfermeil gegangen und holt meine Cosette.«

Sie legte sich nieder, half der Nonne das Kissen wieder in Ordnung bringen und küßte ein kleines silbernes Kreuz, das sie am Halse trug, ein Geschenk der Schwester Simplicia.

»Kind,« mahnte jetzt die Schwester, »liegen Sie jetzt ruhig und sprechen Sie nicht.«

Fantine griff nach der Hand der Schwester, die bei der feuchten Berührung ein schmerzliches Mitleid erfaßt.

»Er ist heute früh nach Paris gefahren. Eigentlich braucht er nicht ganz so weit zu gehen. Montfermeil liegt links von hieraus. Erinnern Sie Sich noch, daß er gestern, als ich von Cosette sprach, sagte: Bald! Bald! Ueberraschen will er mich. Sie wissen doch, ich habe einen Brief unterschreiben müssen, daß die Thénardiers sie herausgeben sollen. Dagegen können sie nichts machen, nicht wahr? Sie werden sie frei lassen. Sie haben ja ihr Geld gekriegt. Die Obrigkeit duldet doch nicht, daß man ein Kind behält, wenn man sein Geld gekriegt hat. Schwester, verbieten Sie mir nicht, daß ich spreche. Ich bin über die Maßen glücklich; ich fühle mich wohl; es thut mir nichts mehr weh, nun ich Cosette wiedersehen werde; ich habe sogar Hunger. Es sind nahezu fünf Jahre, daß ich sie nicht gesehen habe. Sie, Schwester, Sie können Sich nicht vorstellen, wie sehr man an einem Kinde hängen kann. Sie wird auch sehr niedlich und nett sein, Sie werden sehen! Wenn Sie wüßten, was für hübsche rosige Fingerchen sie hat! Ueberhaupt bekommt sie mal sehr schöne Hände. Als sie ein Jahr alt war, hatte sie ganz lächerlich kleine Hände. – Jetzt muß sie schon groß sein. Ja ja, das ist nun schon seine sieben Jahre alt und ist schon ein Fräulein. Ich nenne sie Cosette, aber sie heißt eigentlich Euphrasia. Heute früh, wie ich nach dem Staub auf dem Gesims hinsah, kam mir der Gedanke, ich würde Cosette bald wiedersehen. Lieber Gott? Es ist unrecht, daß man Jahre hingehen läßt und sieht seine Kinder nicht. Man sollte doch bedenken, daß man nicht ewig lebt. Ach, wie gut ist der Herr Bürgermeister, daß er die Reise unternommen hat. Ist das wahr, daß es so kalt ist? Hatte er wenigstens seinen Mantel um? Morgen ist er wieder zurück, nicht wahr? Morgen ist ein Festtag für mich. Schwester, erinnern Sie mich morgen früh daran, daß ich mein Häubchen mit den Spitzen aufsetze. Montfermeil ist ein Dorf. Da bin ich seiner Zeit zu Fuß durchgekommen. Das war sehr weit für mich. Aber mit der Post geht's schnell. Morgen wird er mit Cosette hier sein. Wie weit ist es von hier bis Montfermeil?«

Die Schwester, die keine Ahnung von der Entfernung hatte, antwortete:

»Oh, morgen, glaube ich, kann er schon zurück sein.«

»Morgen! Morgen!« jubelte Fantine, »morgen werde ich sie wiedersehen. Himmlische, gute Schwester, ich bin nicht mehr krank. Ich bin blos närrisch. Ich könnte tanzen, wenn man's verlangte.«

Wer sie eine Viertelstunde zuvor gesehen hatte, dem wäre es unmöglich gewesen, zu begreifen, was mit ihr vorgefallen war, so verändert war sie. Sie hatte ein rosiges Aussehen, sprach lebhaft und natürlich, ihr ganzes Wesen athmete Fröhlichkeit. Ab und zu lachte sie vergnügt vor sich hin. Mutterfreude gleicht fast der Freude des Kindes.

»Nun Sie also glücklich sind,« mahnte die Nonne wieder, »folgen Sie mir und sprechen Sie nicht.«

Fantine legte ihren Kopf auf das Kissen nieder und sagte halblaut: »Ja, leg' Dich hin, sei vernünftig, Du bekommst ja jetzt Dein Kind wieder. Schwester Simplicia hat Recht. Alle haben hier Recht.«

Dann ließ sie, ohne sich zu bewegen, ihre weit geöffneten Augen fröhlich überall herumirren und sprach kein Wort mehr.

Die Schwester zog den Vorhang zu, in der Hoffnung, sie würde schlafen.

Zwischen sieben und acht Uhr kam der Arzt. Da er kein Geräusch hörte, glaubte er, Fantine schlafe, kam leise herein und ging auf den Fußspitzen an das Bett heran. Als er aber den Vorhang zurückschlug, sah er beim Schein des Nachtlichts Fantines ruhige Augen auf sich gerichtet.

»Nicht wahr, Herr Doktor,« fragte sie, »ich darf sie neben mir haben, in einem kleinen Bett?«

Er glaubte, sie phantasire. Sie fuhr fort:

»Da, sehen Sie, es ist gerade Platz genug.«

Der Arzt nahm Schwester Simplicia bei Seite und ließ sich den Hergang von ihr erklären. Herr Madeleine sei auf ein paar Tage verreist und da man nicht wisse, woran man sei, so habe man es nicht für rathsam erachtet, die Patientin, die der Hoffnung lebe, der Herr Bürgermeister sei nach Montfermeil aufgebrochen, eines Andern zu belehren; es wäre ja möglich, daß sie richtig gerathen hätte. Der Arzt billigte ihr Verhalten.

Er ging dann wieder zu Fantine, die redselig fortfuhr:

»Ich kann ihr dann nämlich, wenn das liebe Mäuschen aufwacht, guten Morgen sagen und sie des Nachts schlafen hören. Ich schlafe ja nicht. Ihren leisen Athem zu hören wird mir wohl thun.«

»Geben Sie mir Ihre Hand!« sagte der Arzt.

Sie hielt lachend ihren Arm hin.

»Ja so, Sie wissen noch nicht, daß ich jetzt wieder vollständig gesund bin. Cosette kommt morgen.«

Der Arzt war sehr verwundert. Es ging ihr besser. Die Beklemmung hatte abgenommen, der Puls war kräftiger. Eine neue Lebenskraft beseelte jetzt den siechen Körper.

»Herr Doktor,« fragte sie, »hat Ihnen die Schwester mitgetheilt, daß der Herr Bürgermeister gegangen ist, mir mein Püppchen zu holen?«

Der Arzt empfahl, daß sie nicht sprechen und daß sie vor jeder heftigen Aufregung behütet werden solle. Er verordnete einen Aufguß von reiner Chinarinde und, falls das Fieber in der Nacht wieder auftreten würde, einen beruhigenden Trank. Als er Abschied nahm, sagte er zur Schwester: »Es geht besser. Wenn es das Glück wollte, daß der Herr Bürgermeister wirklich mit dem Kinde zurückkäme, – wer weiß, was der Ausgang sein würde? Es kommen erstaunliche Krisen vor, Krankheiten, die durch eine große Freude in ihrem Laufe plötzlich aufgehalten werden. Ich weiß ja recht gut, daß hier ein organisches, weit vorgeschrittenes Leiden vorliegt; aber der menschliche Körper ist ein so geheimnißvolles Ding. Am Ende würden wir sie vielleicht doch noch retten.«

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