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6. KAPITEL
ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS
Protokolle der Moorkonferenzen reisen per Pferdekutsche nach London. Die ersten Anbauer, Aschedüngung und Buchweizensaat.

WENN DIE HANNOVERSCHE REGIERUNG ein neues Dorf plante, wurde als Erstes das Land vermessen. Man prüfte die Boden- und Wasserverhältnisse, wandte die neuesten Methoden der Kartierung an und zeichnete Landkarten. Aus diesen Aufzeichnungen wurden Akten, und aus Akten wurden Aktenberge. Immer mehr Ämter wurden mit immer mehr Untersuchungen beauftragt und um Gutachten gebeten. Die sich ansammelnden »Promemoria«, »Protocolle« und »Rescripte« wurden gebündelt und der nächsthöheren Behörde vorgelegt.

Wer die originalen Dokumente aus den Archiven gräbt, trifft auf dicke Papierstöße in dünnen blauen Aktendeckeln, mit zähen Bändern kunstvoll verschnürt. In verschiedenen Handschriften aus verschiedenen Zeiten stehen auf ihnen die Inhalte angegeben. Schnürt man die Akten auf, stößt man auf die handgeschriebenen Briefe, Doppelbögen aus dickem, lederartigem, handgeschöpftem Papier in einem länglichen Hochformat, an den Rändern verdunkelt und zerlappt und geziert mit dem Stempel über die Bezahlung der Gebühr – »vier Schilling, zwei Gute Groschen«.

Die Faltung der Bögen zeigt, in welcher Weise sie Brief und Umschlag zugleich waren, das dunkelrote getrocknete Siegelwachs an den Aufbruchstellen der Briefe war oft noch vorhanden. Mühsam stolpert man durch die Tabellen, Protocolle, Promemoria und Rescripte – und schließlich trifft man auf die Meyerbriefe der Mooranbauer, aus mittelalterlichen Meyerbauern* hatten sich Erbpächter entwickelt. Kaum etwas ist je verständlich ohne eine Übersetzung all jener Worte, die ihre Bedeutungen längst verändert haben. Und wenn man dann auf die Unterschrift eines Bauern auf seinem Meyerbrief stößt, wird einem die große Kluft deutlich, die zwischen diesen Schriften und ihren Schreibern auf der einen und den Kolonisten auf der anderen Seite geherrscht hat. Die Unterschrift der Bauern besteht nicht selten aus drei Kreuzen, zittrig gemalt wie von Kinderhand – nicht wie ein X, sondern aufrecht gestellt wie Grabkreuze.

Unter den Akten befindet sich auch das schriftliche Hin und Her jahrelanger Prozesse, die bei Beginn der staatlichen Moorkolonisation von benachbarten Gemeinden gegen den Landesfürsten geführt wurden. Schließlich hatten sie von den angrenzenden Mooren selbst Gebrauch gemacht, und es dauerte seine Zeit, bis Gerichte entschieden hatten, es gehöre den Landesherren.

In Vertretung des Landesherrn, der gleichzeitig als britischer König fungierte, also in London saß, wirkten in Hannover die sechs »Geheimen« oder auch »Geheimten Räthe«, die dem Souverän in Abwesenheit seine Geschäfte führten. Zweimal in der Woche gingen reitende Boten aus Hannover nach London zur Deutschen Kanzlei ab. Und seit Beginn der Personalunion 1714 mussten alle drei Monate in Hannover je sechs Pferde vor zwei Kutschen voller Akten gespannt werden. Ohne Unterbrechung fuhren sie in hohem Tempo, wie es die Wege hergaben, außer zum Wechsel der Gespanne an bestimmten Relaisstationen wurde nicht haltgemacht, Zollschranken durften die königlichen oder kurfürstlichen Kutschen ignorieren. Über Nienburg und Wildeshausen gelangte man zum niederländischen Hafen Hellevoetsluis, einem wichtigen Hafen nahe Rotterdam in Südholland. Dort schifften sich die zweimal wöchentlichen Kuriere und Quartalskutschen auf die Paketschiffe ein, dann konnte man nur noch hoffen, einen fähigen Seemann und gnädige Winde zu erwischen, um unbeschädigt in Harwich an Land zu kommen. Das Wetter über Nordsee und Ärmelkanal ging selten sanft um mit den Seglern, die sie befuhren, und natürlich sind während der über hundert Jahre währenden Personalunion auch einige königliche Boten und Botschaften untergegangen. Wenn es aber gut gegangen war, rasten die Kutschen und Kuriere vom Hafen in Harwich direkt weiter nach London und fuhren und ritten dort ein in den Hof des St.-James-Palasts, in dem die Deutsche Kanzlei residierte. Die Reise dauerte eine Woche, in eiligeren Fällen legten reitende Kuriere sie auch einmal in vier Tagen zurück.

Im St.-James-Palast packten eilfertige Diener dann die Aktenberge aus, hannoversche Räte und Sekretäre sortierten sie, und die acht, später nur noch vier höchsten Beamten nahmen sie sich zur Lektüre vor. Sie befassten sich auch mit den Promemoria und Rescripten der Ämter zu den »Moorconferenzen«, mit den Schreiben der Moorkommissare in Sachen Torfstich, Schiffsgräben, Brücken und Wehre, sowohl mit den Kosten der Kolonisation als auch mit den durch sie eingenommenen Steuern. Sie lasen und notierten, verglichen und besprachen. Dann diktierten sie den Brief, den sie den König respektive seinem höchsten Minister – während der Moorkolonisation von 1771 bis 1795 ein Herr von Alvensleben – als Antwortschreiben vorschlugen. Wenn drei Monate später die nächsten Aktenberge aus Hannover in den Palast nach London geliefert wurden, warteten die Entscheidungen, Beschlüsse und Anordnungen der »ehrwürdigen Hoch- und Hochwohlgeborenen Exzellenzen« des Ratskollegiums gut verschnürt darauf, um über Land und Meer an den Stellvertreter im Hannoverschen zurückexpediert zu werden.

War der Bescheid positiv, machten im Umland der Moore die Pastoren von den Kirchenkanzeln bekannt, dass ein neues Dorf gegründet würde, »Anbaulustige« sollten sich an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit einfinden, um die Bedingungen zu erfahren.

Als auf diese Weise endlich die Gründung eines Dorfs im Bachenbrucher Moor genehmigt war, bewarb sich auch Barthold Lafrenz aus dem nahe gelegenen St. Joost, vierhundert Jahre zuvor ein Wallfahrtsort mitten im Moor, mit seiner Frau Adelheit um eine Meyerstelle. Sie erhielten die Zustimmung zur Ansiedlung und begannen mit der Arbeit an einer Moorkate – genau auf jener Hofstelle, auf der ich zweihundert Jahre später das erste Hochzeitsfest meines Lebens miterlebte. Er war, in der Terminologie unseres Dorfs ›de süerste‹, also der südlich gelegene, nächste Nachbar.

Anfangs mussten sie alle, die Lafrenzens und von Thadens, die Bartenhagens, Offermanns, Wölberns und Struncks, gemeinsam einen breiten, zwei Kilometer langen, tiefen und breiten Graben ausheben, die Wettern. Der Aushub wurde zu einem Weg parallel unserer späteren Dorfstraße, daran entlang steckte man die Hofstellen ab. Wer auf welche Stelle kam, wurde überall in den Mooren durch Los entschieden. Nur der nun schon alteingesessene Wolderich hatte sein Land selbst wählen können und baute als Erster ein richtiges Haus. Alle anderen »Colonaten« errichteten auf ihren Stellen einen leichten Holzrahmen und beschwerten ihn mit Stroh, Torf- und Heidesoden, das erste Dach über dem Kopf. Aber das ging natürlich nur im Sommer gut. Bis zum Winter musste man höher gebaut haben, wegen des hoch stehenden Grundwassers und der Überschwemmungen. An die Erdlöcher, von denen manchmal die Rede ist, glaube ich eher nicht.

Der erste Moorkommissar war Jürgen Christian Findorff, er stammte aus Lauenburg an der Elbe und war ursprünglich Wasserbaumeister und Landvermesser. Seit 1751 war er mit der nordhannoverschen Moorkolonisierung beschäftigt. Er billigte keinesfalls, wenn Moor-Anbauer in Katen lebten – geschweige in Erdlöchern. Seiner Meinung nach sollten die Ämter ihnen gleich am Anfang helfen, richtige Häuser zu errichten. Er wusste aus Erfahrung, wie wenig Aussicht bestand, dass Moorbauern bei schlechten Ausgangsbedingungen aus den ärmlichen Verhältnissen jemals herausfinden und eine rentable Landwirtschaft aufbauen konnten. Findorff hat man gerne eine große Nähe zu den Moorbauern nachgesagt, tatsächlich hat er sogar später selbst eine Anbauer-Stelle übernommen. Aber in erster Linie war er Staatsbeamter und vertrat entschieden das eigentliche Ziel der Kolonisation, nämlich mehr Lebensmittel für die Städte zu produzieren durch die Urbarmachung von Heiden und Mooren. Und auf dem Lande für künftige Steuerzahler zu sorgen.

Die Zuständigkeiten für Pachten, Steuern und Kirchengebühren sind genau erfasst. Sie wurden für unser Dorf in einem einzigen, damals wie heute kaum verständlichen Satz beschrieben. Er lautet übersetzt: »Nachdem man darüber schon vorher mit dem königlichen Ministerium und der königlichen Kammer verhandelt hat, ist jetzt festgelegt worden, dass die Rechtsgewalt über die Anbauer im Bachenbrucher Moor erst einmal auf zwölf Jahre dem Amtsschreiber Nanne in Bremervörde besonders aufgetragen ist; seine Eingaben gehen an die königliche Regierung nach Ratzeburg [i. e. Cuxhaven]; gleichzeitig sind die Anbauer aber wirkliche Hadelsche Untertanen und werden nach den entsprechenden Gesetzen behandelt; sie genießen die entsprechenden Immunitäten und sind in polizeilichen Angelegenheiten – so, wie das Polizeirecht dort vorgibt – dem Kirchspielsgericht, zu dessen Bezirk sie gehören [das war in diesem Fall Steinau], unterworfen, und was die Steuern angeht, müssen sie in dem Maße dazu beitragen, in dem Herrschaftliche Meyer und Anbauer auf staatlichem Land nach Hadelscher Verfassung verpflichtet sind; und was die Pfarrgemeinde betrifft, sollen sie im Hadelschen Steinau eingepfarrt sein; dem Amtsschreiber Nanne wird in dieser Sache der nötige Auftrag des Gerichts zugehen, als auch dem Consistorium das Nötige zugesandt in Hinsicht auf die anzuordnende Einpfarrung eines neuen Dorfs nach Steinau; und so werden hierdurch auch die Herren [Grundeigentümer] davon benachrichtigt, um auch die Stände des Landes Hadeln hiervon in meinem Namen in Kenntnis zu setzen, falls das erforderlich ist, was ich glaube, in kirchlichen Dingen sind sie wie Hadelsche Untertanen Untergebene des Hadelnschen Landeskonsistoriums … Hochachtungsvoll [und den] ehrwürdigen Hochedelgeborenen [ein] ergebener Diener …«1

Die Unterschrift ist unleserlich. Beurkundet ist dieser Vorgang für den 12. November 1783, weshalb das Gründungsdatum des Dorfs mit diesem Schreiben angesetzt wird.

Tatsächlich werden sich die hier aufgezeichneten Zuständigkeiten als einigermaßen kritisch für die Obrigkeiten erweisen – und für die Dörfler immer wieder als hilfreich.

Für Barthold Lafrenz wird es die Aussicht auf einen sogenannten eigenen Hof gewesen sein, die ihn, wie alle anderen auch, angelockt hat – auch wenn die Höfe nur Meyerstellen waren, Höfe in Erbpacht. Vielleicht sind seine Eltern und ein unverheirateter Bruder mit ihm auf die Meyerstelle gegangen. Tatsächlich tauchte 1792 ein weiterer Lafrenz in der Chronik auf, ein Claus Lafrenz übernimmt die Hofstelle uns zur Linken, die später Onkel Edu gehören wird.

Im Frühjahr begannen dann die Feuer. Zuerst wurden Heide, Gras und Strauchwerk abgeschlagen, dann mit Spaten und Hacken große Soden gestochen, sogenannte Plaggen. Die Plaggen häufte man auf und steckte sie in Brand, dabei musste man aufpassen, dass sich das Feuer nicht tief in die Erde einbrannte, weil das Moor sonst tage- und wochenlang gebrannt hätte. So oder so verschwand die Gegend wochenlang in Rauch.

Im nächsten Schritt wurde die Asche eingesammelt und als Dünger* gestreut, darauf dann die erste Saat ausgebracht. Meist konnte nur Buchweizen gesät werden, der auch auf armen Böden wächst und schnell zur Reife kommt.

Im Sommer haben dann vielleicht die weiß blühenden Felder einmal einen Anblick ergeben, der träumen ließ von zukünftigen Feldern, die diese Benennung wirklich verdienten. Sie haben zumindest den Kindern eine kleine Helligkeit ins Herz gezaubert – wenn nicht das Ganze schon im August von endlosen Regentagen und dem ansteigenden Wasser der Wettern und aller anderen Gräben überschwemmt auf dem Halm verfaulte und verschimmelte. Mager wird die Ernte so oder so gewesen sein. Aber ein halber Sack mehr oder weniger Buchweizengrütze für den morgendlichen Brei im Winter oder ein paar Pfund Buchweizenmehl mehr für den Festtagspfannkuchen war für manche Familie womöglich schon der Unterschied zwischen einfachem Hungern und Verhungern.

Vorstellen muss man sich die Mooranbauer noch elender als die legendär armen Geestbauern*, die auf Sand ackerten, bis dahin hier der magerste Boden. Die Kinder der Moorbauern starben in noch höherer Zahl – die Säuglinge schon wegen der nie trocknenden Wäsche und der schlechten Ernährung ihrer Mütter. Noch hundert Jahre später schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke über die Moorbauern: »Das Lächeln der Mütter geht nicht auf die Söhne über, weil die Mütter nie gelächelt haben.«

Während der Rauch über die Moore zog und die Menschen sich in ihre ersten Behausungen einlebten, versuchten die Behörden immer wieder, einen Überblick zu erlangen über die Landwirtschaft und wie sie zu verbessern wäre. Im Verlauf der Moorkolonisation wuchsen die Aktenberge, und für das platte Land entstand so etwas wie eine staatliche Verwaltung. Das Thema Landwirtschaft schob sich dabei langsam ins Zentrum des Politikmachens. Es ging um Entwässerungs- und schiffbare Gräben für den Transport von Produkten, vor allem den Torf, um gute Obstbäume und neue Sämereien, fieberhaft wurde nach der besten Düngung eines Ackers gesucht.

Wann und durch welche Düngung wird ein Acker für welche Frucht besonders gut vorbereitet? Welcher Mist – von Geflügel, Schweinen, Rindern oder Pferden – hilft bei welchen Ackerfrüchten am besten und zu welchem Zeitpunkt? Und was soll geschehen, wenn kein Vieh und damit kein Mist vorhanden sind?

Die erste Düngung im Moor war die Asche des Abbrennens – aber nach acht Jahren, so hieß es, funktionierte das nicht mehr. Als gute Düngemethode ohne Mist galt lange Zeit auch das Mergeln, also das Ausstreuen eines pulverisierten, kalkhaltigen und porösen Gesteins, des Mergels. Tatsächlich führte das in Feuchtgebieten zunächst zur Entsäuerung und Festigung des Bodens. Aber auch hier war nach ein paar Jahren der Boden ›ausgemergelt‹, das heißt, er war am Ende besonders stark ausgelaugt worden, weil er ohne jede wirkliche Zufuhr von Nährstoffen geblieben war.

Die Bauern hatten das bald begriffen. »Mergel macht den Vater reich und den Sohn arm«, sagten sie. Aber in der frühen Beratungs- und Erfahrungsliteratur war noch lange vom Vorteil des Mergels die Rede. Und wenn wir schon vom Düngen ohne Mist sprechen, muss auch der Klee-Pionier Johann Christian Schubart2 Erwähnung finden, der sich als Propagandist des Rotkleeanbaus auf der Brache einen Namen gemacht hat. Denn damit war, wenn auch noch unverstanden, die Verbesserung des Ackerbodens durch Stickstoffbildung verbunden. 1784 wurde Schubart, Sohn eines Webers und Tuchmachers aus Zeitz, von Kaiser Joseph II. in den Adelsstand erhoben und hieß von nun an »Edler von dem Kleefelde«.

Was die Bodenchemie anging, machte zwanzig Jahre später in London ein deutscher Apotheker Furore, der ein tragbares Labor entwickelte, mit dessen Hilfe er Boden- und Gesteinsproben direkt auf dem Acker auswerten konnte. Allerdings fehlte es noch an Wissen, um seine Resultate umfassend zu interpretieren und neue Arten der Fruchtbarmachung zu entwickeln. In diesem Bereich wird erst Justus Liebig3 später Abhilfe schaffen – und neue Probleme in der Agrarwirtschaft verursachen.

Als Thaer sein Mustergut in Celle bewirtschaftete, reiste, schrieb, die »Annalen« publizierte und noch lange als Arzt praktizierte, entfaltete sich zwei Jahre lang eine landwirtschaftliche Korrespondenz mit einer leidenschaftlichen Landwirtin, Henriette Charlotte von Itzenplitz.4 Am Ende führte diese Beziehung zum Umzug Thaers nach Preußen in die Nachbarschaft aufgeklärter Gutsbesitzer. Ein aus dem stagnierenden Hannover schon früher ausgewanderter Niedersachse, Graf von Hardenberg, verschaffte ihm bald eine Einladung des preußischen Königs, Repräsentant des zu diesem Zeitpunkt weit fortschrittlicheren Landes. Über solche Verbindungen kam Thaer zu seinem nächsten Gut in Möglin, in Brandenburg zwischen Berlin und Oder gelegen, zu staatlichen Ämtern und Gehältern. Über Wilhelm von Humboldt ergab sich eine Professur an der neu gegründeten Universität von Berlin. So besetzte Thaer den ersten universitären Lehrstuhl für Landwirtschaft in den deutschsprachigen Ländern.

7. KAPITEL
DAMALS
Als meine Mutter versuchte, ein Beet anzulegen.

ES WAR IN EINEM DER ERSTEN JAHRE IM DORF. Mit großer Kraft stieß meine Mutter die Grabegabel mit den fünf scharfen, flachen Zinken in den Boden. Ein Spaten hätte hier nichts genutzt, er wäre zu schnell stumpf geworden, so viele Steine und Scherben lagen verborgen unter dem im Frühjahr struppigen, verfilzten Gras. Sie setzte ihren rechten Fuß auf, wie man es auch mit dem Spaten macht, trat die Zinken tief in die Erde ein und hebelte eine Grassode hoch, bückte sich, um die Sode abzunehmen, griff sich das Gras und schlug es kräftig gegen das gezinkte Eisen. Die Erde fiel in Brocken oder im Ganzen ab, sodass meine Mutter nur noch das Grasbüschel in der Hand hatte wie einen Haarschopf ohne Kopf. Das warf sie beiseite auf einen wachsenden Haufen, setzte wieder an, grub die nächste Sode aus, bückte sich wieder, packte das Gras und schlug wieder die Erde ab, um ein Beet zur Einsaat vorzubereiten.

Wir arbeiteten am hinteren Giebel des Hauses, der über dieses kleine Stück wilden Rasens zum Buschhof hinaussieht. Der Buschhof ist ein schmaler Streifen Wald aus Eichen und Birken, Holunder und Brombeeren. Er zieht sich hinter dem ganzen Dorf entlang als Schutz für Haus, Mensch und Tier gegen die ständigen, starken Westwinde. Erst hinter Busch und Bäumen begannen die Weiden, zuerst die quer liegende Kälberweide, daran anschließend die Kuhweiden, genannt Unterster, Mittelster und Oberster Kamp. Sie waren durchzogen von schmalen, schnurgeraden Gräben, Grüppen genannt. Stacheldrahtzäune und breite Quergräben grenzten sie zusätzlich voneinander ab. An den Weidenrändern standen Birken, Erlen und Ebereschen.

Ich musste die Queckenwurzeln aufsammeln, damit dieses äußerst widerständige Gras aus den Beeten fernbleibt. Die Wurzeln sind weiße harte Bänder im aufgegrabenen Boden, manchmal durchtrennt und gerissen, nur kurze Stücke. Aber oft griff ich eine Queckenwurzel und zog daran, und ihre Fortsetzung führte tief in die schon umgegrabene, tiefschwarze Erde oder auch unter dem noch nicht Umbrochenen weiter. Viele Meter lang kann so eine Wurzel sein. Und sie ist zäh. Es ist nicht leicht, sie abzureißen, und wenn ich es schaffte, warf ich sie auf den Haufen, der sich aus den Grasschöpfen schon gebildet hat.

Meine Mutter arbeitete angestrengt. Stumm und verbissen ging sie zu Werk. Griff mit schwarzen Händen in die Erde, fischte zerbrochene Ziegel und Scherben heraus.

Jemand, der vor uns auf dem Hof gelebt hat, musste ausgerechnet hier, wo meine Mutter Kartoffeln pflanzen wollte, viele Schubkarren Steine abgeladen, zerschlagen, eingeebnet haben, vielleicht Steine aus einem abgebrochenen Stall, der einmal auf dem Hof gestanden hatte, dazu Scherben und kaputte Fußbodenkacheln, Teller, Schüsseln – alles, was dem weichen und alles verschluckenden Moorboden etwas Festigkeit verleihen würde.

Meine Mutter erbitterte, dass diese bisher brach liegende Fläche, die sie zu einem Gemüsegarten im Schutz des Hauses machen wollte, derart mit Steinen durchsetzt war. Wo es doch sonst in den Feldern keinen einzigen Stein zu geben schien. Und jetzt wuchs der Haufen der herausgeklaubten Steine und Scherben schneller als der Sodenhaufen. Die Arbeit, geplant als Nachmittagsbeschäftigung zwischen Küchen- und Stallarbeit, würde Tage kosten.

Aber aufgeben kam noch nie infrage.

Mein kindliches Interesse galt eher den aus der Erde geborgenen Scherben als den zähen weißen Queckenwurzeln, die auszureißen so mühsam war. Ich bestaunte die Muster und Formen der alten Fliesen und Keramiktöpfe.

Lass das, sagte meine Mutter. Wirf das auf den Haufen. Trödel nicht rum. Sammel die Quecken auf. Hilf mir lieber.

8. KAPITEL
HEUTE
Anna und ich singen ein Lied von 1783. Schön und falsch ist das Bild vom Land. Warum Wolfsexperten sich wundern.

ES IST FRÜH IM HERBST, das Vieh steht noch auf den Weiden – jedenfalls die wenigen Herden, die man draußen grasen lässt. Es gibt nicht mehr viele Landwirte, die noch Weidehaltung betreiben. Auch vom Zug aus sieht man nur selten größere Rinderherden. Meistens ist es Jungvieh, Milchkühe sind so gut wie nie mehr draußen. Die Herden sind zu groß geworden, als dass man sie täglich zweimal zum Melken in den Stall bringen könnte, und ihre Milchleistung ist mit Weidegras nicht mehr zu erreichen. Immer öfter sind dagegen kleine braune Rinder mit riesigen Hörnern und zotteligem langem Fell zu sehen, ein paar Exemplare des schottischen Hochlandrinds. Meist grasen sie in der Nähe von Dörfern und unter ein paar schütteren Obstbäumen. Sie werden von Hobbylandwirten gehalten, die gleichzeitig Ferienwohnungen vermieten und ihren städtischen Gästen, besonders deren Kindern, damit eine ländliche Attraktion bieten.

Mit meiner Schwägerin Anna fahre ich zum Erntedankgottesdienst in unsere alte Kirche. Es erstaunt mich, dass die Männer nicht mitgehen. »Nö«, sagt Hannes, der mit dieser Frage nicht gerechnet hat. »Wieso denn Erntedank?« Und setzt ein wenig verlegen hinzu: »Die Ernte ist ja noch gar nicht fertig, der Mais steht noch auf dem Halm.«

Es ist ein regnerisch-nebliger Tag. Wir nehmen den ›Kleiweg‹ mitten durch die tief liegenden Wiesen eines Marschstreifens*. Kiebitze fliegen auf. Es ist der Weg, den ich als Konfirmandin mit dem Fahrrad gefahren bin. Auch damals sammelten sich auf den Wiesen die Kiebitze.

Die ersten Siedler brauchten für den Gang zur Kirche anderthalb Stunden zu Fuß.

Die Kirche ist reich mit Blumen und Früchten geschmückt, aber nicht voll besetzt. Unter den Anwesenden scheinen mir nur wenige Bauern zu sein.

Im Bläserchor neben dem Altar sitzt eine Frau, in der ich, von meiner Schwägerin aufmerksam gemacht, ein Mädchen erkenne, mit dem ich die ersten Jahre zur Dorfschule gegangen bin. Endlich kommt das Lied, auf das ich gewartet habe. »Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand: der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf und träuft, wenn heim wir gehen, Wuchs und Gedeihen drauf.« Geschrieben hat das Gedicht 1783, im Jahr der Dorfgründung, Matthias Claudius aus Altona, viele Jahre lang ein guter Freund von Johann Heinrich Voß1.

»Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt und hofft auf ihn.« Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich als Kind über jedes Wort gestaunt habe. »Er sendet Tau und Regen und Sonn- und Mondenschein und wickelt seinen Segen gar zart und kunstvoll ein und bringt ihn dann behände in unser Feld und Brot: es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott.«

In unserem Dorf herrschte keinesfalls eine Stimmung von Gläubigkeit oder auch nur Respekt gegenüber Kirche und Obrigkeit. Eher war das Gegenteil der Fall. Der Ton unter den Bauern war und ist nüchtern, lakonisch. Im Zweifelsfall ist eher ein plattdeutscher Witz fällig als ein Gebet.

Aber dass etwas, das ich so gut kannte und um das es hier im Dorf und auf den Feldern alltäglich ging, das Säen, Pflügen und Ernten, in eine ganz andere Sprache gefasst werden konnte, rührte mich damals schon – und tut es bis heute.

»Was nah ist und was ferne, von Gott kommt alles her, der Strohhalm und die Sterne, das Sandkorn und das Meer.« Und in der letzten Strophe haben sogar noch ein paar Kühe ihren Auftritt: »Er schenkt uns so viel Freude, er macht uns frisch und rot, er gibt den Kühen Weide und seinen Kindern Brot.«

Am nächsten Morgen gehe ich zu meinem Bruder in die Milchkammer. Waldemar ist mit dem Melken fertig und hat das Waschprogramm eingeschaltet. Er wartet, bis der Milchstrahl aus der Leitung von nachdrückendem Wasser abgelöst wird, um dann rechtzeitig den Schlauch aus dem Milchtank zu nehmen. Ich sehe mich um. An der Wand gegenüber hängt ein Kalender von der Landwirtschaftskammer*. Waldemar zeigt auf das Bild und fragt mich, ob ich sehen könne, was daran falsch sei. Ich blicke lange darauf, aber eigentlich habe ich es schon im ersten Moment gesehen.

Alles ist daran falsch. Da steht nämlich ein großes friesisches Bauernhaus komplett mit Reetdach gegen den Horizont, darum herum sind friesische Milchkühe gruppiert. Es gibt keine Zäune und keine Maschinen und überhaupt gar nichts auf diesem Bild, das zu tun hat mit der Wirklichkeit dieses Hauses – gewiss der Feriensitz eines Managers und ganz bestimmt nicht das Zuhause dieser Hochleistungskühe.

»Photoshop«, sage ich zu meinem Bruder.

»Genau, und so was zaubert uns Milchbauern ausgerechnet unsere eigene Berufsorganisation vor.« Er schüttelt den Kopf. Dann nimmt er schnell den Milchschlauch aus der Tanköffnung.

»Alle wollen, dass es auf dem Land schön und friedlich ist«, sage ich etwas hilflos. »Wenigstens auf den Fotos.«

Wir gehen zum Frühstücken ins Haus. Hannes ist noch schnell zum Briefkasten geflitzt. Er kommt mit der Zeitung rein – und pfeffert sie mir unter die Nase.

»Wieder Wölfe«, sagt er und schlägt mit der Hand auf ein Foto. Es zeigt ein braun-weißes Rind, das im Gras liegt, den Kopf nach hinten gebogen, die Kehle blutig aufgebissen, die Schnauze halb abgerissen. Darunter steht: »Die Vermutung liegt nahe, dass dieses rund 220 Kilo schwere, im Juni vorigen Jahres geborene Rind Opfer von Wolfrissen wurde. Auf derselben Weide wie Mitte August wurde der Vorfall Sonntag Morgen entdeckt. Das Jungrind musste vom Tierarzt eingeschläfert werden.« Der Ort liegt etwa zehn Kilometer von hier entfernt. Ein kleines Foto auf derselben Seite zeigt Pfotenabdrücke im Sand, die von Wölfen stammen könnten, heißt es.

Erst jetzt höre ich, dass schon im Sommer beim selben Landwirt zwei Jungrinder von Wölfen getötet worden sind. Einer der ehrenamtlichen Wolfsexperten des Landes Niedersachsen hatte sich damals den Schaden angesehen, DNA-Spuren gesichert und dem Landwirt geraten, den vorhandenen Zaun »wolfssicher« zu machen, d.h. mit zusätzlichen Stromdrähten zu versehen. Das war für viel Geld geschehen, hatte aber die Wölfe nicht beeindruckt. Einen Antrag auf »Billigungsleistung«, also eine freiwillige – mit anderen Worten: nicht garantierte – Entschädigung durch das Land Niedersachsen, hatte die Familie noch nicht gestellt, hatte sich während der Ernte keine Zeit dafür genommen und wusste nicht, wie viel Geld ihnen für den ersten Schaden eventuell ausgezahlt würde. Ihr Hof ist einer der wenigen in dieser Gegend, die überhaupt noch Weidehaltung betreibt. Wenn auch der »wolfssichere Zaun« die Tiere nicht schützt oder die Familie ihn sich nicht auf allen Weiden leisten kann, wird das wohl auch bald aufhören.

Waldemar, Hannes und Anna sind einigermaßen entsetzt. Ich auch. Man kann sich dem kaum entziehen, wenn man dem Geschehen so nahe ist. Und jeder von uns weiß, wie eine Herde auf Gefahrensituationen reagiert, nämlich verängstigt zitternd, panisch rennend, sich verletzend. Manche Jungtiere, die hochschwanger sind, verkalben womöglich, es gibt spontane Früh- und Totgeburten, die auch die Muttertiere schädigen. Einige Tage oder sogar Wochen lassen sich die Tiere nicht anfassen, nicht treiben oder führen. Währenddessen gibt es keine Chance, sie zu beruhigen oder medizinisch zu behandeln. Es bedeutet Aufregung und Mehrarbeit, ist aber kein bezifferbarer Schaden. Der Wolfsexperte, heißt es, ist einigermaßen betreten. Bisher waren nur Schafe und Schafsbauern von solchen Schäden betroffen. Aber dass diese großen Tiere von Wölfen angegriffen werden und das nur wenige Hundert Meter von bewohnten Häusern und Stallungen entfernt, hat ihn überrascht.

»Ja«, sagt mein Bruder, »solche Überraschungen werden wir jetzt wohl noch öfter erleben.«

Zurück in der Stadt, erzähle ich einigen Freunden von den Wölfen.

Und ich stelle fest, dass der Wolf heutzutage einen deutlich besseren Ruf hat als die Bauern oder ihre Rinder. Mir bleibt buchstäblich die Sprache weg über das, was ich da zu hören bekomme, und über den Gefühlsaufwand, mit dem ein Freund nach dem anderen die Wiederkehr der Wölfe verteidigt. In meiner Verwirrung und in meinem Erstaunen fällt mir kein einziges Gegenargument ein.

Wie viele Angriffe auf Schafe und Rinder im Jahr es denn statistisch gesehen gebe?

Wie viele Rinder existierten und wie viele Wölfe?

Es würde doch gewiss eine Entschädigung gezahlt – was also sei das Problem?

Die Wölfe seien ja nicht künstlich angesiedelt worden, sie seien auf eigenen Pfoten wieder eingewandert. Darüber sollten wir uns freuen. Die Natur sei in den letzten hundert oder zweihundert Jahren derart ausgebeutet und niedergemacht worden, da wäre die Rückgabe von etwas Lebensraum an die paar Wölfe doch nur recht und billig.

Der Wolf, so heißt es, greife keine Menschen an, das Märchen vom bösen Wolf sei nur das, ein Märchen, das uns in den Köpfen herumspuke. Da tue Aufklärung not!

Ein anderer sagt, dass auch Hunde für soundso viele durchaus auch tödliche Übergriffe auf Vieh und Mensch pro Jahr verantwortlich seien. Das aber werde heruntergespielt.

Als ich müde einwerfe, dass so ein Hund allerdings sofort eingeschläfert würde, zuckt er nur mit den Achseln.

Später frage ich eine Wolfs-Freundin, ob sie denn damit rechne, je in ihrem Leben einen frei lebenden Wolf zu Gesicht zu bekommen. Aber nein, das werde sie wohl nicht. Denn Wölfe seien scheu, hätten Angst vor Menschen.

Was also hat sie davon, dass es die Wölfe in freier Wildbahn gibt und nicht nur in Zoologischen Gärten oder Wolfsgehegen?

Sie hebt ihre Schultern. Darum ginge es nicht. Es ginge um Artenvielfalt, Biodiversität, ob ich das nicht verstünde.

Ich finde den Wolf im Internet als Freund – Willkommen, Wolf! – und im »Sachsenspiegel«, einem Gesetzeswerk aus dem 13. Jahrhundert, als Feind, der die Nutztiere der Menschen angreift. Dort heißt es, dass der Hirte, der nicht alles Vieh, das ihm zum Hüten vom Dorf übergeben wurde, wieder zurückbringt, den Schaden bezahlen muss. »Was ihm aber der Wolf nimmt oder die Räuber, bleibt er ungefangen und hat er sie ›unbeschrien gelassen‹ durch Herbeirufung der Nachbarn, dass er Zeugen haben möge, muss er sie bezahlen.«2 Nach dem Dreißigjährigen Krieg verbreiteten sich die Wölfe in Deutschland vor allem in jenen Gebieten in Brandenburg, die von Krieg und Hunger entvölkert waren. Sie fraßen die Schlachtfelder vom Aas leer, erzählte man sich. Vermutlich kommt daher das Grauen – und der Satz: »Wenn der Mensch geht, kommt der Wolf.«

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9783956144165
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