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4. KAPITEL
DAMALS
Aus einem Stall wird eine Kirche, dann ein Tanzsaal. Wie man im Winter auf Schlittschuhen überallhin kommt.

GLEICH IN EINEM UNSERER ERSTEN JAHRE IM DORF gab es eine Hochzeit in der Nachbarschaft zu feiern. Wi möt na hochtied – hieß es. Wir müssen zur Hochzeit. Fast das ganze Dorf ›musste‹, und zwar nicht nur feiern, sondern auch bei den Vorbereitungen helfen. Und nach der Trauung einen Umschlag mit Geld überreichen, einen festgelegten Betrag, der den Brautleuten ein großes Fest ermöglichte. Hundert oder sogar zweihundert Gäste waren üblich.

Meine Eltern lernten schnell. Mein Vater fuhr jetzt mit anderen Nachbarn gemeinsam ›Grünes holen‹, das heißt mit Pferd und Wagen in die noch übrig gebliebene Wildnis eines nahe gelegenen Moores, in dem immer noch Torf gegraben wurde. Dort schlugen sie junge Bäume und Gesträuch, luden alles auf den Wagen und tranken viel Schnaps dabei. Wenn die Männer heimkamen, hatten die Frauen des Dorfs meist das Melken schon besorgt, die Kälber getränkt und vielleicht mit dem alten Bauern, wenn es auf dem Hof einen gab, das Vieh gefüttert. Dann mussten sie ihre schwer angetrunkenen Männer ins Bett bringen. Auch das war für meine Mutter neu.

Am nächsten Tag banden die Frauen die Kränze. Meine Mutter ließ sich von den freundlichen Nachbarinnen in alles einführen. Sie trafen sich in der Diele des nächsten Nachbarn, einige brachten Butterkuchen mit, einen auf großen Blechen ausgerollten Hefeteig, der mit Mandeln und Zucker bestreut oder mit einem Zuckerguss und geschroteten Mandeln glasiert war. Der war schnell ›abgebackt‹ worden, so nannten sie kurze Backzeiten. Zum Kuchen tranken sie reichlich Kaffee, beredeten alle Neuigkeiten, natürlich auf Plattdeutsch, und später wurde Likör ausgeschenkt.

Währenddessen errichteten die Männer am Eingang des Hofs ein Tor aus Balken und Latten, das bekränzt werden musste. Alleine für diese Einfahrt hatten die Frauen schon mehrere Meter Kranz aus Tannenzweigen und Papierrosen gebunden, die Eingangstür des Hauses wurde mit einem frischen Laubkranz geschmückt. Dazu kam die fast zwei Meter lange Buchsbaumumkränzung für das Brautsofa – und ein heimlicher Kranz aus Disteln und Brennnesseln für das Brautbett, den irgendwer irgendwann am nächsten Abend unter die Bettdecke schmuggeln würde.

Wir Kinder liefen zwischen allem umher, den Blumen aus Krepppapier, Schleifen und Bändern, aßen zu viel Kuchen, von dem uns abends schlecht war, und freuten uns am Gelächter der Erwachsenen, auch wenn einige, wie meine Mutter, streng blieben mit uns.

Trauung, Hochzeitsessen und Tanz fanden am nächsten Tag allesamt auf der Diele im Haus des Bräutigams statt, unseres Nachbarn zur Rechten. Es war, wie damals noch alle Häuser hier, ein niedersächsisches Hallenhaus, der Giebel im typischen Fachwerkstil gehalten, weiß gestrichene Balken teilten das Mauerwerk in Fächer auf, und das große Dielentor, de Grotdör, war im selben Grün gestrichen wie die beiden kleineren Türen rechts und links, die auf die Viehgänge führten, links standen die Pferde und rechts die Kühe. Hoch bepackte Erntewagen mit Heu oder Stroh konnten von Pferden oder auch dann den ersten Traktoren direkt auf die Diele gezogen werden oder rückwärts hineinbugsiert. In der hohen Balkendecke gab es eine Luke, durch die Heu und Stroh nach oben auf den Boden zur Winterlagerung gepackt wurden. Von der Diele aus, die auch bei uns noch aus Lehm gestampft war, fütterte man das Vieh. Rechts und links verliefen die dafür auf einen gemauerten Sockel gesetzten Krippen, hinter denen die mit Ketten befestigten Kühe und Rinder und ein bisschen abgesondert davon die Pferde standen. Aber man hatte auch Holzwände über den Krippen angebracht. Und so konnten nach dem Melken und Füttern, und wenn alle Arbeit im Stall getan war, die schweren Klappen, die an den Krippen nach unten hingen wie offene Türen in ihren Angeln, angehoben und am oberen Rand mit Holzknebeln befestigt werden. Damit war dann die Diele ein Raum für sich geworden und das Vieh aus dem Blickfeld verschwunden, auch wenn man es dahinter während des Tanzes noch rumoren hörte.

Die Diele unseres Nachbarn ist für die Hochzeitsfeier jetzt zusätzlich mit einem Holzboden ausgelegt, und am Ende des so entstandenen Saals ist der Altar aufgebaut. Davor steht der Pastor.

Zum ersten Mal sehe ich einen Mann in einem langen schwarzen Kleid. Er hat einen weißen Kragen um und macht ein ernstes Gesicht. Während alle singen, muss ich vor dem Brautpaar Blumen streuend auf ihn zugehen. Kurz vor ihm soll ich nach rechts abbiegen. Aber das habe ich vergessen, ich bleibe stehen und blicke zu ihm hoch. Meine Mutter, die seitlich in den Kulissen steht, zieht mich zu sich.

Dann kniet das Brautpaar schon vor dem Pastor nieder. Man hat dicke Kissen auf den Holzboden gelegt, damit die gute Kleidung nicht beschmutzt wird. Und damit die Braut sich leichter wieder erheben kann, ohne ihr Kleid zu verziehen oder den langen Schleier einzureißen.

Auch das Paar ist ernst – und sehr jung, beide sind keine zwanzig Jahre alt. Die älteren Frauen weinen. Das ganze Dorf ist gekommen, ungefähr achtzig oder hundert Menschen stehen in der Diele, nur die engsten Verwandten sitzen. Es gibt kaum jemanden, der mit der Braut und dem Bräutigam nicht irgendwie verwandt oder verschwägert ist, außer uns und noch ein paar anderen Flüchtlingsfamilien.

Nach der Trauung wird noch einmal gesungen. Die Bläsergruppe des Schützenvereins spielt. Die Gemeinde singt: »So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich. Ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt. Wo du wirst geh’n und stehen, da nimm mich mit.« Es ist mein erstes Kirchenlied. Ich singe und weine mit, vom Ernst der Worte und der Feierlichkeit der Gesichter überwältigt.

Endlich lächelt der Pastor nun doch und die Gäste rascheln und husten und schnauben kräftig in die Taschentücher. Dann stellen sie sich paarweise zum Gratulieren an und übergeben das Kuvert mit dem Geldgeschenk. Wer mit dem Brautpaar angestoßen hat – Schnaps für die Männer, Likör für die Frauen –, hilft beim Hereinschaffen der Stühle und Bänke. Die Frauen decken die Tische mit weißen Tüchern, tragen das Geschirr auf und legen das Besteck aus. Wir Kinder laufen zwischen ihnen herum und stören und werden irgendwann auf den Hof gescheucht. Da stehen einige Männer vor dem Dielentor, ein wenig steif in den ungewohnten Anzügen, redend und rauchend. Onkel Edu ist auch dabei und legt mir, als ich schüchtern an ihnen vorbeigehe, kurz seine harte Hand auf den Kopf. Na, min Deern.

Da bin ich verlegen und auch ein bisschen stolz, denn so gehöre ich jetzt etwas mehr dazu. Auch die anderen Männer gucken zu mir runter. Es kommt mir vor, dass ich keinen von ihnen kenne. Aber vielleicht liegt das auch nur an den Sonntagsanzügen. Während ich mich langsam entferne, höre ich, wie Onkel Edu den anderen erklärt, wer ich bin. De Lütte von denn Niegen. Die Kleine vom Neuen. Die Große ist meine Schwester.

Die Alten haben sich inzwischen auf die Bänke im Saal gesetzt und viele Kinder schliddern über den glatten Boden, hüpfen, rufen, rennen wild durch den Saal. Junge Männer fahren sich mit dem Zeigefinger in die Hemdkragen und lockern ein wenig die zu stramm gebundenen dünnen Schlipse. Eine der jungen Frauen, deren hoch toupiertes Haar ich schon von Weitem bewundert habe, hält sich mit einer Hand am Oberarm eines Mannes fest und hebt erst den einen und dann den anderen Fuß, um mit dem Gesicht über die rechte und dann die linke Schulter blickend zu prüfen, ob sie mit den Pfennigabsätzen ihrer Schuhe womöglich Dreck mit in den Saal gebracht hat. Die vor der Dielentür Stehenden reden und rauchen weiter, und wenn eine der Ehefrauen vorbeikommt, zieht sie ihrem Mann die Hand aus der Hosentasche, weil dies ein Festtag ist und sich nicht gehört – jedenfalls solange der Pastor noch da ist.

Wenn alle Tische und Bänke aufgebaut und die Tische gedeckt sind, nimmt das Brautpaar, wo eben noch der Altar gestanden hat, auf dem bekränzten Sofa Platz, die Brauteltern und der Pastor sitzen bei ihnen. Dann tragen die jungen Leute des Dorfs mit musikalischer Untermalung in schnellem Schritt und Gleichmarsch die Hadelner Hochzeitssuppe auf – große Schüsseln mit Rindsbrühe und Reis, kleinere mit Rosinen, dazu große Platten mit Rindfleisch. Meine Eltern werden aus dem Augenwinkel die Nachbarn beobachtet haben. Zuerst nahm man sich also ein großes Stück Fleisch und schnitt es im Suppenteller in Stücke, dann häufte man Reis drauf, streute Rosinen drüber, und als Letztes kam aus großen Kellen die mit kleinen, würzigen Fleischbällchen reichlich bestückte Brühe hinzu. Jeder mischte sich die Anteile nach seinem Geschmack, dazu gereicht wird Bier und Schnaps.

Wenn alle gesättigt sind, räumen die jungen Leute wieder ab – und der erste Tanz, zu dem die drei oder vier angeheuerten Musikanten aufspielen, gehört ihnen, noch vor dem Ehrentanz des Brautpaars.

Alles das mussten unsere Eltern kennenlernen und sich darin einfügen. Denn alles war neu für sie: die Menschen, ihre Haltungen und Gebräuche, von der Architektur – den strohbedachten Häusern und Ställen – bis zu den Gerichten – Hochzeitssuppe, Butterkuchen, aber auch Bratkartoffeln mit Rhabarberkompott zum Mittag. Vor allem aber der Grund und Boden für alles, die Landwirtschaft, die aus dieser Moorerde folgte, die Geräte, mit denen der Boden bearbeitet wurde, die Holzschuhe für Mensch und Tier – auch Pferden wurden im Moor Holzschuhe angeschnallt, damit sie nicht so tief einsanken. Dazu kam die Sprache, das andere Plattdeutsch, das hier gesprochen wurde und das ihnen völlig unbekannte Wörter enthielt. Dass ein Escher ein Spaten bedeutete und ein Leuwagen ein Besen – wer konnte das ahnen?

Am schwierigsten aber war es, sich an das viele Wasser zu gewöhnen. Man musste die verschiedenen Namen der Gräben lernen, die als kleine Gräben Grüppen hießen, auf der Grenze zum Nachbarn waren sie Grenzgräben, und der besonders breite und tiefe Graben, der durch das ganze Dorf führte, nannte sich, wie gesagt, die Wettern, ausgesprochen »Weddern«, »de Weddern«. Dazu gab es noch Kanäle und Vorfluter. Und den Hadler Kanal, der war der größte und schon etwas weiter weg.

Die Wettern war die Grenze des Hofs zur Straße, zum Dorf. Von der Straße aus, die parallel zur Wettern lag, führten kleine Brücken zu den Höfen. Sie waren zwischen Dorf und Hof die Übergänge für Mensch und Tier. Dicke hölzerne Pfähle, in deren Angeln die beiden Flügel der Pforte hingen, standen links und rechts an der Wettern. Sie waren weiß gestrichen, und wer Vieh durchs Dorf trieb, ließ gerne eines der Kinder vorauslaufen, das die Pforten schloss, damit die Rinder oder Schweine oder Schafe nicht auf die Nachbarhöfe liefen. Sonst waren sie selten tagsüber geschlossen, und bei uns fehlte von Anfang an der linke Pfortenflügel. Der rechte hing, dadurch sinnlos geworden, noch lange an dem bald schon gänzlich seitwärts geneigten Pfahl. Nie kam unser Vater dazu, ihn zu reparieren oder abzubauen, und einen Altenteiler, einen Opa, der sich mit solchen Reparaturarbeiten hätte beschäftigen können, hatten wir nicht. Es dauerte nicht sehr lange, bis auch der Rest der Pforte verschwand. Nur der Pfahl auf der rechten Seite mit seinen rostigen Angeln stand noch ein paar Jahre lang da. Immerhin markierte er fürs Auge die Begrenzung der Überfahrt. Denn im Sommer setzte an den Rändern der Wettern ein so üppiges Pflanzenwachstum ein, dass das Gras, die Brennnesseln und Brombeerbüsche bis ins Wasser hineinhingen. Man musste lernen zu erkennen, wo vermutlich noch fester Boden war und ab wann man gleich schon durch das Gebüsch mitsamt den abbrechenden Grassoden ins Wasser rutschen würde.

Vor allem unsere Mutter müssen die vielen Gräben geängstigt haben. Kleine Kinder konnten leicht hineinfallen und vom tiefschwarzen Wasser verschlungen werden, ohne dass es einer bemerkte.

Neben der Brücke über die Wettern gab es unten am Wasser eine flache Stelle, wo offenbar durch viele Fuhren Sand eine Zugangsstelle entstanden war. Unser Vater trug oder fuhr die diversen Geräte und Wagen dort nahe heran, holte mit einem Eimer braunes, mooriges Wasser aus der Wettern und übergoss, was zu säubern war, schrubbte mit dem Besen und spülte eimerweise nach. Ich staunte jedes Mal, dass der Mist- und der Düngerstreuer, dass die Schaufeln, Spaten und Hacken nach dem Waschen mit so einem schwarzen Wasser wirklich sauberer waren und sogar glänzen konnten, und die eisernen Gitterräder, die manchmal zur Verdoppelung der Radfläche an die großen Hinterräder des Treckers geschraubt wurden, zeigten dann Spuren ihrer ursprünglichen Rotlackierung.

Bei Regenwetter war der kleine matschige Strand völlig aufgeweicht. So oder so diente er unseren Entenmüttern als Zugang, wenn sie im Frühjahr ihre frisch ausgebrüteten Küken zum Wasser führten. Und wir Kinder spielten dort gerne mit Matsch und Wasser – obwohl es an Matsch und Wasser an keiner Stelle des Hofes fehlte. Da setzten wir dann kleine Boote aus Baumrinde oder auch Löwenzahnkränze aufs Wasser, sahen sie wegschwimmen und versinken.

In den ersten Jahren existierte noch ein weiteres Spiel. In den Wettern lagen nämlich Baumstämme, die als Bauholz zum Härten gewässert wurden. Die Stämme waren entastet, besaßen aber noch ihre Rinde, auf deren mal trocken-bröckeliger, mal glitschig-nasser Oberfläche wir entlangbalancierten, barfuß, in Schuhen oder Gummistiefeln. Oft lagen mehrere Stämme so dicht nebeneinander, dass sie sich nicht rührten, wenn wir auf ihnen entlangspazierten. Manchmal aber drehte sich auch ein Stamm um seine eigene Achse und ein Kinderfuß konnte da leicht abrutschen oder das ganze Bein zwischen den Stämmen im moorigen Nass verschwinden. Wenn einer von uns dann ›einen nassen Fuß‹ bekommen hatte und auf Nachfragen, wie das passiert war, mit der Wahrheit rausrückte, stellte unsere Mutter uns aufgebracht vor Augen, dass man auf diese Weise zwischen den Stämmen abrutschen könnte und sich nicht ohne Weiteres selbst befreien, weil das schwere Holz der Stämme sich über dem versunkenen Kind wieder nebeneinanderlegen würde. Das jagte uns wirklich einen mächtigen Schrecken ein. Beim nächsten Mal war das Balancieren dann umso aufregender. Aber wenn wir einen Erwachsenen kommen sahen, sprangen wir doch lieber ganz schnell ans Ufer und taten harmlos.

Das Schönste aber war, wenn die Wettern im Winter zugefroren war. Als kleine Kinder fuhren wir dann mit Schlittschuhen auf dem Eis das ganze Dorf entlang. Die Brücken zu den Höfen, unter denen wir dann gebückt hindurchkriechen mussten, machten die Sache noch etwas spannender. Denn dort unten war das Eis nicht ganz so dick gefroren und überhaupt war man hier den brüchigen Rändern näher. Mit den Absätzen der Schuhe oder den scharfen Kanten der Schlittschuhe testeten wir an den kristallinen Eisrändern, ob es wohl brechen würde. Wir zogen dann, ein kleines Rudel von Dorfkindern, die nach der Schule Schlittschuh liefen, auf den Wettern durch das ganze Dorf und zurück. Und die Großen fuhren noch weiter über das Kanalsystem in die Weiten uns unbekannter Felder zu einem See, von dem es dann hieß, er sei gänzlich zugefroren, und dort gebe es eine schneefreie Eisfläche, auf der man wirklich lossausen konnte.

Gingen wir nur deshalb nicht mit, weil die Großen uns klarmachten, dass sie keine Lust hatten, auf die Kleinen aufzupassen? War es uns ausdrücklich verboten worden? Oder fürchteten wir, in der früh einbrechenden Dunkelheit auf den weiten, unbekannten Wiesen und Kanälen und auf uns selbst angewiesen nicht mehr nach Hause zu finden? Vielleicht war es auch, dass wir spätestens zum Viehbesorgen zu Hause sein mussten.

Fünf Uhr, das war immer schon der Auftakt zur letzten Runde des Tages. Für die Frauen und Kinder hieß es, die Milchkannen waschen, melken, die Kälber tränken, Enten und Hühner für die Nacht einsperren und mit Wasser und Futter versorgen. Das Füttern der Kühe und Ausmisten der Ställe besorgten die Männer.

5. KAPITEL
18. JAHRHUNDERT
Was Goethe über Bauern denkt und warum über die englische Landwirtschaft ein Buch geschrieben werden musste. Ein Arzt aus Celle wird Musterlandwirt.

»SO STIEG ICH DURCH ALLE STÄNDE AUFWÄRTS«, schrieb Goethe 1780 an einen Freund, »sehe den Bauersmann der Erde das Nötigste abfordern, das doch auch ein behägliches Auskommen wäre, wenn er nur für sich schwitzte. Du weißt aber, wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrierten Saft aus den Leibern. Und so geht’s weiter, und wir haben es so weit gebracht, dass oben immer in einem Tag mehr verzehrt wird, als unten in einem beigebracht werden kann.«

Goethe war als Minister selbst Teil der oberen Stände. Er kannte aus eigener Anschauung das luxuriöse Leben der Adeligen am Hofe, gehörte sozusagen selbst zu denen, die den Blattläusen, also den Bauern, den Saft abzapften.

Diesen Brief schreibt er von einer Reise zu Pferde, die er gemeinsam mit dem Briten George Batty unternommen hat, den man in Weimar als »Landkommissar für Bodenverbesserung« gewonnen hatte. Jetzt besichtigte Goethe mit ihm die »kunstreichen Bewässerungsanlagen für die Wiesen im Eisenacher Oberland«, die seit dem Frühjahr 1780 angelegt worden waren.

Goethe hatte ein scharfes Auge für die Lebensverhältnisse der Leute. Es gibt von ihm aus diesem Jahr eine kleine Zeichnung, auf der er »Bauernhütten« skizziert hat. Wie viele Gebildete, die mit Papier und Stift umgehen konnten, zeichnete er, was er sah – so wie man später Fotos machte. Es existieren viele schnelle Skizzen von ihm, hier von niedrigen, schiefen Hütten mit zerfetzten Strohdächern, zu einem seitlichen Verschlag führt die Hühnerleiter empor, ein paar Balken an der Seite zeigen einen Brunnen an – eine Kate, wie sie Modell gestanden haben könnte für die bald entstehenden Hütten unseres Dorfs.

Goethes Besichtigung der Bewässerungsanlagen und seine Bemerkungen zeigen, dass das Thema der Bodenverbesserung, der Melioration und auch eine gewisse Nachdenklichkeit in Sachen Bauernstand im Zeitgeist der Aufklärung lagen. Dabei kamen viele der neuen Boden-, Pflanzen- und Tierzuchtexperten aus Britannien. Denn nicht nur in Sachen Industrialisierung wurde England zum fortgeschrittensten Land der Welt. Im späten 18. Jahrhundert war bereits die technische Entwicklung im Bereich der Landwirtschaft europäisches Vorbild. Der britische König Georg III. – der, wie wir wissen, gleichzeitig Kurfürst von Hannover war – förderte begeistert landwirtschaftliche Experimente auf seinen Gütern, man nannte ihn auch spöttisch Farmer George. 1783 wird in London von der Society of Arts von dreiundachtzig neuen Erfindungen und Entwicklungen berichtet – alleine dreiundsechzig von ihnen hatten in der Landwirtschaft stattgefunden, darunter waren Sämaschinen für Bohnen, Weizen und Runkelrüben, Pflüge mit neuartigen Scharen, Kombinationen von Pflug und Sämaschine, Strohschneide-, Dresch- und Spreumaschinen.

An dieser Stelle muss man auf Albrecht Daniel Thaer1 zu sprechen kommen – und auf die Missstände im Landbau, die er vorfand. Fünf Jahre schrieb der Untertan des hannoverschen Kurfürsten an seinem Buch mit dem barocken Titel »Einleithung zur Kenntniß der englischen Landwirthschaft und ihrer neueren practischen und theoretischen Fortschritte in Rücksicht auf Vervollkommnung deutscher Landwirthschaft für denkende Landwirthe und Cameralisten«. Cameralisten wurden jene Beamten genannt, die sich mit den Finanzen eines Landes befassten. Albrecht Daniel Thaer, 1752 in Celle geboren, war zunächst nur ein erfolgreicher Arzt, der sich leidenschaftlich mit Pflanzenzucht beschäftigte – aber immerhin einer, der alles aufschrieb, was er unternahm und beobachtete. Als Mitglied der Königlichen Landwirtschaftsgesellschaft von Celle profitierte er vom regen Wissenstransfer zwischen London und Hannover. Seine ärztlichen Honorare und staatlichen Gehälter ermöglichten ihm, sein kleines Gut vor den Toren der Stadt zu einer viel besuchten Musterwirtschaft auszubauen, um deren praktische Seite – Aussaat, Ernte und Milchwirtschaft – sich sechs Knechte und Mägde kümmerten. 1797 wurde Thaer korrespondierendes Mitglied des »Board of Agriculture« in London, und sein erstes bahnbrechendes Buch führte zu vielerlei Bekanntschaften mit landwirtschaftlichen Reformern in aller Welt – und bald zur Gründung einer ersten Landwirtschaftsakademie.

Was aber waren die Missstände, die jemand wie Thaer in der Landwirtschaft vorfand?

Eine der grundlegendsten Einschränkungen für eine effektive Landwirtschaft, so heißt es, waren Fragen des Grund und Bodens, die herrschende Kombination von Flurzwang, Dreifelderwirtschaft und Allmende.

Dreifelderwirtschaft bedeutete, einen Acker im einen Jahr mit Sommergetreide zu besäen, im nächsten Jahr mit Wintergetreide und im folgenden Jahr brach liegen zu lassen; auf der Brache durfte das Vieh grasen und seinen kostbaren Dung hinterlassen. Durch den Flurzwang mussten die Bauern eines Dorfs oder einer Herrschaft alle gleichzeitig dieselben Getreide- und Erdfrüchte säen und pflanzen und im Herbst auch ernten bzw. reihum die Äcker als Brachen liegen lassen. Keiner sollte dem anderen voraus sein, die fehlenden Wege und Überfahrtrechte zu den weit über die Fluren verteilten Äckern machten solche Uniformität sinnvoll. Aber die Entwicklung neuer Saaten und Sorten, Methoden des Anbaus und der Ackerpflege blieben dadurch aus. Und weil sich zudem die Einteilung der Felder von Jahr zu Jahr änderte, machte sich keiner die Mühe, ›seinen‹ Boden zu verbessern.

Ein weiteres großes Problem war das Hutungsrecht, also das Recht aller, seine Gänse, Schweine, Schafe und Rinder jederzeit auf den Gemeindewiesen und Brachen zu weiden. Das wohlwollende Prinzip der Allmende war mit wachsender Armut einer immer größeren Regellosigkeit gewichen, in der sich nur noch die Stärkeren durchsetzten. Unter dem Titel »Von dem geringen Nutzen gemeiner Hut und Weiden« zählte die Zeitschrift »Neues Hannoverisches Magazin« 1801 sieben Punkte auf, die zeigten, wie sehr diese Praxis inzwischen die Gemeinschaft selbst schädigte. Überall würden Maulwürfe Gras verschütten, Pfützen und Kuhlen würden nicht entwässert, sodass nur schlechtes oder gar kein Gras wüchse, allerlei Disteln, Binsen und Schilf fände sich ein, die sich durch ihre Samen immer weiter verbreiteten und vom weidenden Vieh immer stehen gelassen würden, während »die guten, nahrhaften Kräuter« schon vor dem Aussamen gierig abgenagt würden und sich deshalb nicht fortpflanzen könnten. Beklagt wurde auch, dass die Schweine des Dorfs den Anger unkontrolliert umwühlten, Gänse das Gras mit den Wurzeln ausrissen und ihren ätzenden Mist überall fallen ließen und Schafe das Ganze zusätzlich verdürben durch ihren Gestank und ihren Biss bis zur Wurzel. Überdies sei den Rindern und Pferden »deren Miste eckelhaft und zuwider«, und sie könnten dort nicht mehr geweidet werden.

Behördliche Anordnungen zur Abstellung solcher Missstände waren meist von kümmerlicher Art, und so drängten die Experten – darunter Albrecht Daniel Thaer – auf eine schnelle Abschaffung oder wenigstens Einschränkung von Flurzwang und Huterecht.

Zur Verbesserung der Ernten war außerdem der Schutz vor pflanzlichen und tierischen Schädlingen dringend geboten. Unkraut- und Mäusebefall konnten eine Ernte derart schmälern, dass für den Menschen kaum noch etwas übrig blieb. Die Behörden wiesen bei schwerem Befall durch ein Kraut dann wohl an, dass jeder, »welcher dergleichen Land besitzt oder in Pacht hat, ohne Unterschied, er sey von was Stande oder Würden er wolle«, die Pflanzen auszureißen habe, und kündigten Kontrollen durch »Feld-Geschworene« an. Und einer Mäuseplage will man dadurch Herr werden, indem man zu etwa acht Kilogramm »Gersten- oder Weitzenmalz ein halbes Pfund feingepulvertes Arsenicum« hinzugibt, mit Wasser anmischt, daraus Kugeln formt, »einer guten Muscatnuß groß«, und die Kügelchen in die Mäusegänge steckt, während man Ratten bekämpfte, indem man sie mit Getreide in einen geschlossenen Hof lockte, ihnen den Rückweg versperrte und sie erschlug. »Ein Abend hintereinander wiederholt man diese traurige Mordgeschichte«, wurde angewiesen, so müsse man sich dann immerhin nicht mit dem »unerträglichen Geruch« herumschlagen, mit dem vergiftete Ratten die Luft in Häusern, Ställen und Scheunen oft Monate lang »infizieren«. 1802 wurden Sperlinge als besondere Schädlinge ausgemacht, und da, wie im »Hannöverschen Magazin« steht, die üblichen Vogelscheuchen hier nichts bewirken, soll »jeder Besitzer eines Hauses auf dem platten Lande, in den Sand-Gegenden sowohl als in den Klei*-Gegenden«, im Kampf gegen die Sperlingsplage »6 Stück Sperlinge«, und zwar ihre Köpfe, zwischen dem »1.sten Februar bis zum 1.sten Mai dieses Jahres« abliefern.

Als Thaer mit seiner Musterwirtschaft in Celle begann, war all dies noch im Schwange. Seine große Tat war eine neue Logik der Planung und Bewirtschaftung. Nicht mehr das Dorf stand als die kleinste landwirtschaftliche Einheit im Mittelpunkt, sondern der einzelne Betrieb. Als Praktiker nutzte er seine eigene Brache, die nicht mehr die Brache des ganzen Dorfs war, um Futterpflanzen und Hackfrüchte wechselweise anzubauen. Er zeigte, dass mit dieser Art Fruchtwechsel, Getreide und Rüben, später auch Kartoffeln, selbst ohne Brache gute Erfolge erzielt wurden. Und durch den Einsatz neuer Geräte und Maschinen konnte bei ihm oft mehr vom Feld geholt werden, weil es schneller ging und einem seltener die Ernte noch in letzter Minute verhagelte oder einregnete. Als Arzt empfahl er zudem die langsam aufkommende Kartoffel als Nahrungsmittel und bescheinigte ihr, dass sie eine vollwertige Ernährung für die Bevölkerung sei.

Von nah und fern kamen Grundbesitzer und Gutsherren – nur sie konnten seine Schriften lesen und hatten Zeit und Geld, um zu reisen –, besuchten das cellesche Mustergut und hatten tausend Fragen. Thaer begegnete dieser Anforderung, indem er zu festen Terminen kleine Fragestunden abhielt, 1799 die »Annalen der Niedersächsischen Landwirthschaft« gründete und dort Fragen und Antworten publizierte. Schließlich eröffnete er 1802 das erste landwirtschaftliche Lehrinstitut. Auch ging er bald selbst viel auf Reisen, fuhr nach Mecklenburg, Holstein und Brandenburg, stieß auf viele ungelöste Probleme von Ackerbau und Viehzucht, machte neue Erfahrungen in Bodenbearbeitung und Gerätegebrauch, führte Experimente in Woll- und Milchviehbehandlung, Pflanzen- und Tierkrankheiten durch, und er überzeugte sich von der Notwendigkeit, bessere Samen zu züchten. Er las und schrieb unermüdlich, berichtete auch über seine Misserfolge, was ihn bei Praktikern besonders glaubwürdig machte.

Tatsächlich war unter dem Bevölkerungsdruck in Europa eine Zeit permanenter Erforschung und Anwendung neuer landwirtschaftlicher Erkenntnisse angebrochen. Es war die hohe Zeit der Beobachtung und Beschreibung von Ursache und Wirkung. Thaer hatte bei den Versuchen auf seinem Celler Mustergut und bei den Reisen im ganzen Land bald begriffen, dass es auf die Art des Bodens ankam, welche Feldfrüchte dort mit welchem Erfolg angebaut werden konnten. Regeln konnten immer nur für einen bestimmten Standort gelten und nicht für einen anderen. Auch auf den Rhythmus des Anbaus kam es an. Zuerst hatte er eine durch Kleeanbau verbesserte Dreifelderwirtschaft versucht, dann kam er auf einen vierschlägigen Fruchtwechsel – Wintergetreide, Hackfrüchte, Sommergetreide, Klee. Damit erreichte Thaer einen um 30 Prozent höheren Ertrag, denn der Wechsel von Halm- und Blattfrucht verbesserte den Bodenhumus, der Boden hielt besser die Feuchtigkeit, weniger Insektenbefall war die Folge. Klee und Kleeheu kamen außerdem den Kühen zugute, die auch im Sommer im Stall gehalten wurden, damit der Dung wirksamer gesammelt und auf den Feldern verteilt werden konnte. Die Fruchtbarkeit des Bodens verbesserte sich, und das Einarbeiten des Mists bekämpfte gleichzeitig das Unkraut, während es die Erde für die nächste Einsaat vorbereitete. Die Milch der Kühe war für die Bauern weniger wichtig als die männliche Nachzucht, die nächste Generation von Spannvieh, die Ochsen vor dem Pflug.

Wollte man die anwachsende Bevölkerung ernähren, musste in der Landwirtschaft wirklich alles neu bedacht werden. Vielleicht konnte ein Außenseiter am ehesten die Dinge ohne Vorurteile betrachten – und verändern. Schon früh hatte Thaer geschrieben: »Der Instinkt des Menschen überhaupt ist: nach der Vernunft handeln. Er muss sich bei jeder Erscheinung Ursache und Wirkung denken.«

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