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»Sollen wir jetzt dagegensetzen«, sage ich, »dass Landwirtschaft von vornherein Ausbeutung war – von der Natur und ja übrigens auch von Menschen?«

Jedenfalls gibt es einen Stoffwechsel zwischen Menschen und Natur, in dem sich die Menschen die Natur dienstbar machten. Das war von Anfang an. Die Menschen geben ihr und sie nehmen von ihr, sie säen und düngen und ernten. Sie ziehen ein Tier auf, dann schlachten sie es. Und weil solche Arbeit mit und in der Natur schwer und schmutzig ist, hat man sie immer gerne anderen über lassen – die man idealisieren oder verachten konnte, wie es gerade passte.

Ein weiteres Beispiel für das Lob des Landes finden wir bei einem Zeitgenossen Vergils, dem Dichter und Gutsbesitzer Horaz4. Von ihm stammt nicht nur die Satire von der Stadt- und Landmaus, in der sich die Landmaus durch das Versprechen auf tolle Leckereien in die Stadt locken lässt, dann aber wegen der ständigen Angst vor Entdeckung zurückkehrt und sich zu Hause lieber wieder mit »einfachem Wildkorn« zufriedengibt. Wichtiger noch ist der Brief von Horaz an seinen Gutsverwalter, dem er vorwirft, die Stadt mit ihren Reizen dem Lande vorzuziehen, während er selbst sein »Gütchen« liebt, weil es, so schreibt er, »mich mir selbst wieder schenkt«. Und an anderer Stelle bekennt er, nur auf dem Lande und nicht in Rom könne er Gedichte schreiben.

Hundert Jahre vor Vergil und Horaz hat Marcus Porcius Cato5 der Ältere, Feldherr und Staatsmann, noch ganz nüchtern über die Landwirtschaft als gewinnorientiertes Unternehmen geschrieben. Sein Werk »De agri cultura«, also »Vom Ackerbau«, ist das älteste, vollständig erhaltene Prosawerk in lateinischer Sprache. Darin berät er Gutsbesitzer und gibt ihnen Tipps, wie sie mit ihrem Besitz umgehen sollten, mit Land und Sklaven, und wann es sich lohnt, Oliven oder Wein anzubauen. Er schreibt, dass man zur Bewirtschaftung von 60 Hektar Olivenbäumen dreizehn Sklaven braucht, einen Verwalter und dessen Frau, fünf gewöhnliche Knechte, wie er schreibt, drei Ochsentreiber, einen Eseltreiber, einen Schweine- und einen Schafhirten, insgesamt sind es sechsundzwanzig Beschäftigte.

Sein Buch erschien ein paar Jahrzehnte vor dem ersten großen Sklavenaufstand.

»Cato«, sage ich und erinnere mich an unseren Lateinunterricht, »hat doch seine Reden im Senat immer mit dem Ruf beschlossen: ›Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago6 zerstört werden muss.‹«

Und es ist in unserem Zusammenhang höchst interessant, warum diese Stadt des Feindes zerstört werden sollte. Sie war der Hauptort an einer Spitze der nordafrikanischen Landmasse, die ins Mittelmeer ragt, gewissermaßen auf die Westspitze Siziliens zeigend; ihre Ruinen liegen heute zehn Kilometer östlich von Tunis, der Hauptstadt Tunesiens. Die Kriegführung der Römer in den Punischen Kriegen wollen wir hier nicht nachvollziehen, aber festhalten, dass Karthago mit seiner reichen Landwirtschaft und insbesondere dem Getreideanbau ein mächtiger Handelskonkurrent für Rom war. Die Menge der Lebensmittel, vor allem des Getreides, bestimmte, wie groß ein Staat sein konnte, wie viele Menschen, Steuerzahler und Soldaten ernährt werden konnten.

Die Bodengeschichte der Nordspitze Tunesiens zeigt, dass dort eine florierende Ackerwirtschaft auf fruchtbarem Boden betrieben wurde. Man baute vor allem Weizen an, das wertvollste Brotgetreide. Nach der Eroberung durch Rom wurden die nordafrikanischen Kolonien zusammen mit Sizilien zur Kornkammer des Römischen Reiches. Aber durch die extreme Übernutzung des permanenten Weizenanbaus wurden die Böden ausgelaugt. Heutige Bodenuntersuchungen zeigen, dass das Land durch Winderosionen von seiner Ackerkrume damals fast vollständig entblößt worden ist. Ähnliches war zuvor in Griechenland geschehen, schon 590 v. Chr. war das fruchtbare Erdreich der Hügel um Athen abgetragen. Für den Charakter der Mittelmeerlandschaft – dieses felsig-unbewaldete Land, das nur von einer flachen, schnell austrocknenden Erdschicht bedeckt ist – war neben der Rodung der Wälder für den Schiffsbau eine bodenübernutzende Landwirtschaft in der Antike verantwortlich.

Die wunderbar riechenden Kräuter auf kahlen Hängen und an kühlen Bachläufen zeigen, wie jede Artenvielfalt, einen Nährstoffmangel an. Und dieser Mangel ist kein natürlicher, er ist ein historischer, menschengemachter Zustand.

Dabei war es nicht so, dass die Griechen und Römer zu wenig vom Landbau wussten. Sie haben die Folgen von Aussaat und Düngung, von Brache und Fruchtwechsel sehr gut beobachtet und beschrieben. Aber es wurden keine Maßnahmen gegen die Bodenerosion ergriffen. Und bereits im Jahre 200 n. Chr., als die Erosion der Böden schon über dreihundert Jahre in vollem Gange war, schrieb der in Karthago lebende Römer Tertullian7: »Alles ist nun zugänglich, alles für den Handel erschlossen; wunderbare Bauerngüter traten an die Stelle schrecklicher Einöden, urbar gemachte Äcker lösten die Wälder ab … [Aber] wir sind zu viele auf dieser Erde, die Elemente sind uns kaum Nahrung genug, unsere Bedürfnisse werden größer und unser Begehren auch, nun, da die Natur uns bereits nicht mehr aushalten kann.«

2. TIEFER INS MOOR UND IN DIE GESCHICHTE

13. KAPITEL
HEUTE
Wenn Milch- und Bodenpreise die Stimmung verderben.

BEIM MITTAGESSEN IST MEIN BRUDER SEHR EINSILBIG. Ein bisschen zu munter frage ich nach den Kühen, dem Zustand im Stall, auf dem Feld.

»Auf dem Feld?«, fragt Waldemar leicht gereizt. »Was willst du da machen, solange Wasser drauf steht?«

»Und im Stall?«, hake ich nach.

»Schon davon gehört, dass gerade die Milchquote abgeschafft wird?«, sagt Hannes, der Mitleid mit seiner Tante aus der Stadt hat.

»Ach ja, stimmt, natürlich.« Mir ist peinlich, dass ich den Zeitpunkt vergessen habe, 1. April 2015. Der Milchpreis wird weiter sinken, jeder darf produzieren, so viel er will. Europaweit eingeführt worden war die Quotenregelung 1983, jedes Land der EG bzw. EU durfte nur eine begrenzte Menge Milch produzieren. Produzierte ein Hof mehr als seine Quote, musste er eine hohe Abgabe zahlen.

»Erstens«, zählt Waldemar auf, »war die Milchquote eigentlich nie dafür da, um den Preis zu stabilisieren. Es ging darum, das Milchangebot nicht ins Uferlose wachsen zu lassen. In Osteuropa gab es vor dem Mauerfall einen hohen Bedarf, unser Export dorthin wurde subventioniert. Inzwischen geht es andersherum, zu unserem Binnenmarkt gehört jetzt auch der Zufluss der Milchmassen aus den landwirtschaftlichen Großbetrieben der neuen Bundesländer und der osteuropäischen Staaten der EU. Aber dafür haben wir ja jetzt den globalen, z.B. den asiatischen Markt, angeblich ist die weltweite Milchnachfrage riesig – und darunter musst du dir Milchpulver, Käse und Butter, Joghurt und Babynahrung vorstellen. Aber dann hat Russland die Schotten gegen europäische Lebensmitteleinfuhren dicht gemacht – als Strafe für die europäischen Sanktionen 2014 gegen Russland wegen der Besetzung der Krim. Und plötzlich schwächelt die chinesische Wirtschaft, und – bums, ist unser asiatischer Markt auch weg – und zu viel Milch da.«

Er holt Luft.

»Und drittens ist Milch«, fügt Hannes ein, »zu einem Rohstoff geworden, und die Verarbeiter des Rohstoffs, die milchverarbeitende Industrie, wollen den natürlich möglichst billig einkaufen.«

Er lächelt spöttisch: »Es sind nicht alle unglücklich über die großen Milchmengen und die niedrigen Preise.«

»Viertens sind«, setzt Waldemar wieder ein, »mittlerweile die Boden- und damit auch die Pachtpreise der begrenzende Faktor für unsere Produktion geworden. Land ist Spekulationsobjekt für Geldleute geworden, in erster Linie für die Agrarindustrie, die Böden ankauft für ihre Vertragsproduzenten, aber auch fachfremde Unternehmen, ein großes Brillen-Unternehmen ist dabei oder reich gewordene Medienheinis, die hier in der Gegend für sehr viel Geld viele Tausend Hektar aufkaufen – und dann Agrarsubventionen einstreichen, weil sie nun als Landwirte gelten.«

»Die stellen dann einen Geschäftsführer ein und beschäftigen ukrainische oder rumänische Pflücker oder Melker im Niedriglohn«, setzt Hannes hinzu.

Es hat den ganzen Vormittag über nach Regen ausgesehen. Jetzt kommt plötzlich ein wenig die Sonne durch.

Mein Bruder und sein Sohn heben die Köpfe. Vielleicht kann man doch mit dem Walzen anfangen, also dem Anpressen der durch Frost, Tauwetter und Regen gelockerten Grasnarbe.

Wenigstens auf den Stücken, die am festesten sind? Der Junge brennt darauf, der Alte bremst.

»Vielleicht morgen«, sagt Waldemar.

Auch die hohe Extraabgabe – ein paar Tausend Euro – drückt auf die Stimmung. Sie muss demnächst gezahlt werden für jene Kilogramm Milch – Milchpreise werden in Kilogramm gerechnet –, die man im letzten Jahr zu viel, d.h. über die eigene Quote hinaus geliefert hat. Obwohl mein Bruder schon viele ältere Kühe rausgeschmissen und meine Schwägerin rohe Kuhmilch an die Kälber verfüttert hat, rechnen sie dennoch mit einer Strafzahlung. Im Moment gibt es noch zusätzlich ein kleinliches Gehampel über die Lieferungen in den letzten Tagen der Milchquote. Um nicht noch mehr Liter aufs Konto der ›Überlieferung‹ angeschrieben zu bekommen, wollen die Bauern so viel Milch wie möglich zurückhalten und erst am 1. April abliefern. Aber das wird natürlich nicht erlaubt. Es gibt dann einen Kompromiss: 1.000 Liter werden noch vorher bei jedem abgeholt, alles andere am regulären Ablieferungstag, dem 2. April. Vorstandsentscheidung! Genossenschaft!

»Die Genossenschaft, das seid doch ihr«, sage ich.

Waldemar schnaubt. »Das Einzige, was in einer Genossenschaft stört, sind die Genossen.«

»Das musst du mir erklären.«

Ihre Vertragsmolkerei gehört inzwischen zum Deutschen Milchkontor (DMK), dem größten Milchverarbeiter des Landes; das DMK hat sechsundzwanzig Niederlassungen in zehn Bundesländern, der Hof gehört durch die traditionelle Molkerei zur Niederlassung in Zeven, früher war es Nordmilch – von ihnen kennt man als Marke vielleicht Milram. Aber eine echte Genossenschaft bei einem Milliardenumsatz-Unternehmen? Die Struktur ist wie früher im Kleinen, mit Mitgliedern, Vorstand und Aufsichtsrat. Aber jetzt gibt es einen Geschäftsführer, und der muss mehr oder weniger tun, was vom Konzern beschlossen ist.

»Die vom DMK gezahlten Milchpreise waren eher unterdurchschnittlich.«

»Kann man da nicht kündigen und zu einer anderen Molkerei gehen, die mehr zahlt?«

»Kann man. Unsere Kündigungsfrist beträgt allerdings zwei Jahre – und wer weiß, wohin die Preisentwicklung geht und wer dann wen bis dahin wieder aufgekauft hat. Der nächste Mitbewerber ist auf der anderen Seite der Elbe, da wird die Milch mächtig hin- und hergefahren. Obwohl, das könnte einem egal sein …«

»Ist es aber nicht?«

»Das ist doch Mist«, sagt mein Bruder wütend und schiebt den Stuhl schon zurück, um gleich aufzustehen, »wenn man weggeht von der eigenen Molkerei, die wir hier selbst mal gegründet haben. Zehn Kilometer von hier ist die Verarbeitung, da sind Arbeitsplätze, und unsere Milch wird in den hiesigen Supermärkten verkauft. Das ist doch bekloppt, dass man von da weggehen muss, weil ein Großkonzern sie gekauft hat! Und der hat inzwischen mehr Angestellte als bäuerliche Mitglieder – also Milcherzeuger.« Bevor ich noch nachfragen kann, ist Waldemar schon rausgegangen.

Am letzten Morgen bin ich mit den anderen zusammen um sechs Uhr aufgestanden.

Es ist schon hell, die Sonne aber noch nicht über den Horizont gekommen.

Ich denke darüber nach, wie fern uns Stadtbewohnern ein solches Leben ist, wenn der erste Gang am Morgen der in den Stall ist. Alltäglich und ein Leben lang ist vor dem Frühstück immer zuerst das Vieh an der Reihe.

Dabei geht es nicht nur ums Melken, sondern auch um das Füttern und Misten und Einstreuen, das Sichkümmern um Gesundheit und Sicherheit der Tiere, weil man ohne ›Tierwohl‹, wie es heute heißt, keine Qualität von ihnen kriegt in Sachen Fleisch, Eier, Milch, sozusagen Haut und Haar.

Der Himmel leuchtet morgendlich blau und rosa, dazu ein Vogelkonzert, Kälberblöken und Bäume, die sich im langsam abflauenden Wind wiegen.

Nach dem Frühstück fahre ich zurück nach Berlin.

In den nächsten Monaten und Jahren hat sich der Druck auf die Milchbauern verstärkt.

War der durchschnittliche Erzeugerpreis 2013, also zwei Jahre vor dem Ende der Milchquote, bei 30 Cent pro Kilo und stieg er bis zum Dezember sogar noch auf 42 Cent an, so war er im Frühjahr des Quotenendes unter 30 Cent gefallen – und weiter im freien Fall. Bis auf 19 Cent ging er herunter, Aldi senkte die Preise der Vollmilch um ein Drittel. Milchbauern landeten derweil mit Burn-out in Rehakliniken, viele gaben hoch verschuldet ihre Höfe auf. Einige nahmen sich das Leben.

14. KAPITEL
1783
Was die Amtmänner an den neuen Anbauern im Bachenbrucher Mohr stört – ein Schriftwechsel über manche Inconvenzien und unziemliche Bedrohungen.

DEM AMTSSCHREIBER NANNE aus dem Amt Bremervörde, in jenen Jahren zentral für die Moorkolonisierung nördlich von Bremen zuständig, wurde im November 1783 bestätigt, dass ihm »die Iurisdiction über die neuen Anbauern im Bachenbrucher Mohr, vorerst auf 12 Jahre« aufgetragen sei. Schon ein paar Jahre später soll der Mann in das Amt Rotenburg versetzt werden. Aus diesem Anlass, so meinen die Obrigkeiten, könne man die Bachenbrucher Anbauern doch eigentlich auch gleich dem Amt Otterndorf unterstellen. Die Gründe dafür liegen in den komplizierten Zuständigkeiten für dieses Dorf und haben über die Jahre zu einigem Verdruss geführt.

Amtsschreiber waren die Assistenten der Amtmänner, ihrerseits juristisch und auch »cameralistisch« gebildete Verwaltungsleute, meist aus niederem Adel und direkt dem Landesherrn unterstellt. Man muss sich da Männer mit gepuderten Perücken denken, als höchste Würdenträger auf dem Lande trugen sie Seiden- oder auch Wollstrümpfe bis zum Knie, dazu eine Kniebundhose und einen langen, geknöpften Rock aus gutem Tuch, mal mit aufwendigen, mal mit schlichteren Knöpfen und Manschetten geschmückt. Ihre Assistenten, die Schreiber, stammten aus kleinbürgerlichen Familien und waren wenig gebildet, im besten Fall von praktischem Verstand und womöglich sogar Menschenkenntnis. In jedem Fall musste so einer genug Kanzlei-Latein verstehen, um die komplizierten Briefe jener Zeit, voller juristischer Formeln und sprachlicher Verbeugungen und Kratzfüßen, sowohl zu verstehen als auch selbst zu verfassen. Und in unserer Gegend hat so jemand auch Plattdeutsch sprechen oder mindestens verstehen müssen.

Durch die bevorstehende Versetzung von Amtsschreiber Nanne erfahren wir mehr über die Situation der Anbauer im Bachenbrucher Moor.

Da heißt es in einem Brief des Amtmannes Schubart von Otterndorf, eines weiteren Perückenträgers, im März 1790: »Da die Bachenbrucher Anbauer zum Lande Hadeln gehören, sehr vielen Verkehr mit den Landes Eingeseßenen haben, so möchte es nach meinem geringen Ermeßen sehr gut seyn, wenn dieselben der hiesigen Jurisdiction unterworfen wären.« Denn tatsächlich hätten die Verhältnisse so, wie sie bisher seien, schreibt er, »zu manchen Inconvenzien Anlaß gegeben«.

Beispielsweise sei es nicht allen, die mit den Anbauern zu tun hätten, bekannt, dass diese zwar Hadelner seien, jedoch der Rechtsprechung vom Amt Bremervörde unterworfen. Wer über sie Klage führen wolle, gehe damit ins Hadelnsche Otterndorf, »und wenn sie damit abgewiesen werden, [würden sie] sich über die weiteren Wege beschweren, und die Sache lieber ruhen lassen«. Mit anderen Worten, den Anbauern gegenüber war schwer recht zu bekommen. Schlimmer noch, »scheinen auch die Bachenbrucher dafür zu halten«, dass sie zu bestimmten Zahlungen dem Staat gegenüber nicht verpflichtet seien. Vielmehr fühlten sie sich befugt, die entsprechenden Beamten abzuweisen, was sogar schon »mit unziemlichen Bedrohungen« geschehen sei.

Ich stelle mir vor, wie einer der Anbauer, Holzschuhe an den Füßen, vielleicht mit einem Spaten oder einer Forke in der Hand, dasteht, und vor ihm der in feinen Zwirn gehüllte Amtsträger. Der Amtliche ist selbst auch nur Bote des Schreibers und nicht begeistert davon, in diese Wildnis hinausreiten zu müssen, in der es noch kaum Wege gibt, von Ortsschildern nicht zu reden. So mag er dann vom hohen Ross herab dem Bauern gewunken und ihm bedeutet haben: Er muss zahlen. Dass der Bauer, vielleicht war es Barthold Lafrenz, ihm dann nur wütend seine Forke entgegengehalten und etwas Deutliches auf Plattdeutsch gesagt und ihn dann stehen gelassen hat, ist leicht vorstellbar.

Im Übrigen ist die Frage, zu welchen Abgaben die Anbauer trotz ihrer zwölf Freijahre von Anfang an verpflichtet waren, nicht so einfach zu beantworten. Natürlich sind den Anbauern Meyerbriefe ausgestellt worden. In ihnen wurden die Hofstelle und die dazugehörigen Grundstücke benannt, die der Bauer und seine Frau »mit aller Zubehör und Gerechtigkeit« zum Besten beider Vertragspartner »genießen, gebrauchen, flocken und fleußen« dürfe und wenn er dies »fleißig und getreulich« durchführe, so würde der Grundherr ihn »vertreten und beschützen«; wichtig war für die Bauern, dass ihren Nachkommen eine Art Vorkaufsrecht eingeräumt wurde. Dass aber noch vieles mehr in diesen Verträgen geregelt werden musste, ist in einem ausführlichen Schreiben von 1784 an die vier betreffenden Ämter dargelegt, weil es seit dreißig Jahren immer wieder zu Streitereien gekommen war. Die Absender dieses Schreibens geben sich zu erkennen als der »königlich großbrittanisch und churfürstlich braunschweigisch-lüneburgische Cammer-President« und seine »Cammer-Räthe«. Sie monieren, dass ihnen »Fälle vorgekommen« seien, »daß die Mohr-Anbauer in Gedanken stehen als wären sie von den Register-Abgiften, von sonstigen öffentlichen Landes-Abgaben frey«. Das aber sei durchaus nicht der Fall, und das müsse ihnen nicht nur gleich am Anfang »sorgfältig bedeutet« werden, wenn sie ihre Stellen antreten, sondern dies habe auch in den Meyerbriefen schriftlich niedergelegt zu werden. Was die Freijahre bedeuten, ist dagegen genau definiert – sie sind ausschließlich die Freiheit vom Pachtzins an den Grundherrn.

Dem Landesherrn gegenüber bestand immerhin für die Zeit der Freijahre eine »Contributions- und Einquartirungsfreyheit«, und das war in einer Epoche permanenter Kriege kein geringes Privileg.

Das riesige Vorhaben der Moorkolonisation führte zu einem neuen Kontakt zwischen Staatsbeamten und dem gemeinen Volk. Aus den Themen und auch dem Ton der Briefwechsel lässt sich schließen, dass nicht nur die Bauern, sondern auch die Amtmänner und ihre Vorgesetzten oft auf eine harte Geduldsprobe gestellt wurden. Was nicht deutlich und unmissverständlich beschrieben und geordnet war, interpretierten die Bauern zu ihren Gunsten – bis ihnen eine neue, präzisierte Anordnung den Spielraum nahm.

So geschah es auch mit der Berechnung der Freijahre. So hieß es in diesem Schreiben, »… declariren Wir hiermit, daß man damit nicht etwan warten müße, bis alle Stellen eines Mohr-Anbaues vollzählig sind, oder wie einige Mohr-Anbauer in dem Wahn stehen, bis alle Dämme, Canaln, Brücken und dergleichen völlig fertig sind, sondern, daß die einer neuen Mohrdorfschaft verstrichenen Frey-Jahre für jeden einzelnen Mohr-Anbauer von dem Jahre angerechnet werden sollen, da er seine Mohr-Anbauerstelle antritt, und in Arbeit nimmt.« Ebenso solle man, hieß es weiter, diese Zahlungen streng einfordern, »damit die Anbauer sich gleich von Anfang an, an eine accurate Entrichtung ihrer Abgaben gewohnen«. Schließlich werde ja wohl, so nahm man irrigerweise an, nach Ablauf der Freijahre ein »guter Wohlstand« erreicht sein, sodass man das Pachtgeld dann »mit Fuge [rechtens] verlangen« könne.

Zurück zu den Anbauern im Bachenbrucher Moor und den Klagen über sie, die Amtmann Schubart in seinem Brief 1790 zusammenfasste. Es war offenbar unerträglich für die zuständigen Behörden, dass selbst Pastoren bei diesen Bauern manchmal nicht die rechten Amtswege einzuhalten wussten. So wird beklagt, es hätten Pastoren einer falschen Ortschaft »Copulationes vorgenommen«, also Eheschließungen vollzogen, und zwar »ohne Bescheinigung der geschehenen Proclamation«, also ohne das öffentliche Aufgebot aus der Heimatgemeinde anzufordern. Selbst Taufen sind von den falschen Pastoren getätigt worden, und die zuständigen »Prediger« hätten sich »über die Eingriffe bereits bey hiesigem Consistorium beschwert«. Denn die »richtigen« Pastoren, die ja von den Mitgliedern ihrer Gemeinde für jede Amtshandlung bezahlt wurden, hatten den Schaden davon gehabt.

Nur wenige Tage nach diesem höflichen, aber doch auch deutlichen Amtsbrief gibt der nächsthöhere Beamte die Sache schon weiter nach Hannover an die »Hochwohlgebohrnen Herren, Höchstgeehrtesten Herren Geheimte Räthe«. Man stelle sich hier die Perücken noch etwas feiner gelockt und gepudert und die Kniestrümpfe seidiger vor.

Der Beamte stellt den Räthen – heute etwa Minister oder Staatssekretäre – die ganze Sache noch einmal vor. Auch er, der Erklärer, macht wieder Fehler, was die Zuständigkeiten angeht. Und er schließt mit dem entscheidenden Hinweis, auch der Amtsschreiber Nanne, der bisher für die Leute des »Anbaus in dem zum Lande Hadeln gehörenden Bachenbrucher Mohre« zuständig sei, habe gemeint, die Höfe seien »in ihrem Fortkommen so weit gediehen«, dass man sie jetzt »der unmittelbaren Besorgung der Obrigkeit in Otterndorf füglich ganz überlaßen« könne. Er empfiehlt den hohen Herren, dieses Moordorf ganz zum Amte Otterndorf zu schlagen.

Man will sie loswerden.

Und man ist sie losgeworden. Einige Jahre später, nämlich 1809, lesen wir in einem Dokument von einem Stück Land, das zu einem Meyerhof in einer Nachbargemeinde gehörte, dass es nunmehr »an Bartel Lafrenz, Neuenbachenbruch Amts Otterndorf abgetreten worden«. Damit wären wir wieder bei unserem Nachbarn zur Rechten – und fast auch schon beim endgültigen Dorfnamen Neubachenbruch, wie er hier in einer frühen Version auftaucht.

Der dokumentierte Akt war kein simpler Kaufakt, wie man ihn heute kennt. Vielmehr wurde 1809 ein höchst kompliziertes Dokument aufgesetzt, das den Eintritt des Barthel Lafrenz in die Meyerrechte und -pflichten des vorherigen Pächters regelt.

Zwar handelt es sich nur um ein kleines Stück Land, aber mit der Transaktion sind nicht nur die beiden beteiligten Bauern beschäftigt, sondern dazu der Grundbesitzer – in diesem Fall tatsächlich ein Gutsherr –, sein Verwalter und der Staat in Gestalt des Amtsschreibers. Denn auch die an das Land gebundenen Rechte müssen übertragen werden, und es muss dafür ein Geld, eine Gebühr, ein Zins und ein »Weinkauf«* bezahlt werden.

Von irgendwoher mussten die Gelder ja kommen für die seidenen Strümpfe und die feinen Überröcke, das gute Leben der Beamten.

Was aber nun der Amtswechsel für die Moorbauern von Neuenbachenbruch bedeutet hat, können wir nur noch vermuten. Mindestens ist ihr Weg zu den zuständigen Beamten, Schreibern und Händlern ein wenig kürzer geworden. Denn zu den nördlichen Nachbargemeinden schipperte man per Kahn über die Wettern und Gösche – den örtlichen Wasserwegen, die damals die Hauptwege waren. Und von dort aus gelangte man mit dem Kahn über die träge fließende Medem bis nach Otterndorf zu Markt- oder Amtsgeschäft. So jedenfalls hat es Rektor Voß beschrieben, dass nämlich die Sietländer auf Kähnen über die Medem kamen und ihre Milch verkauften, vor allem auch die Butter, von den Bäuerinnen in kühlende Kohlblätter gewickelt. Milchprodukte gab es auf der Marsch noch wenig. Da regierte der Getreideanbau, der Umstieg auf Milch- und Mastvieh lag noch in der Zukunft.

Mit dem Wegfall von Neuenbachenbruch für das Amt Bremervörde war man den Ärger mit diesen Anbauern los, die sich reichlich frech benahmen. Und die übrigens fortfuhren, aus ihrer Lage am Rande von gleich drei Kreisen und Zuständigkeiten Vorteile zu ziehen, ganz gleich, ob die Zentralregierung hannoversch, französisch oder preußisch war. Irgendwie war dieses Dorf in einem moorigen Bermudadreieck gelandet, in dem sich jegliche Obrigkeit abschwächte und sogar, zumindest auf Zeit, auch einmal ganz versank.

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